Es ist auch ein Jahr, das durch die weltweiten Proteste gegen den Vietnam-Krieg geprägt wird. Gleichzeitig rücken sich die USA und China diplomatisch näher. Bei den Olympischen Spielen in München werden israelische Sportler von Terroristen ermordet, in Irland werden am sog. „Bloody Sunday“ 13 unbewaffnete Zivilisten bei Protesten gegen die Politik der britischen Besatzer von Soldaten erschossen. In den Anden stürzt ein Flugzeug ab und die 19 Überlebenden überstehen die 72 Tage bis zu ihrer Rettung nur dadurch, dass sie die toten Absturzopfer verspeisen. Blues- und Jazzsängerin Mahalia Jackson stirbt, Rapper Notorious B.I.G. kommt zur Welt. Die Sechziger klingen inzwischen kaum noch nach. Es gibt zwar noch Psychedelic- und Progressiv-Rock Alben zu Hauf, aber Glam und andere Vorläufer der Punk-Revolte von ’77 in Form von Bands wie Slade, Musikern wie David Bowie oder Lou Reed weisen in die Zukunft. Eine Compilation namens Nuggets gräbt den Prä-Punk der Mittsechziger wieder aus – ebenfalls ein großer Einfluss auf das was kommen soll. ’72 ist auch das Jahr der Kraut-Rock Alben, Folk-Rock und Country(-Rock) blühen auf hohem Niveau, auch weil die Musik-Traditionen Amerikas wiederentdeckt und -belebt werden. Die Rolling Stones etwa machen unter Country-Einfluss ihre letzte wirklich große LP, bevor sie sich selbst institutionalisieren. Im Soul erscheinen am laufenden Band hervorragende Alben, die aber bis auf Ausnahmen wie Stevie Wonder und Curtis Mayfield nur von einem Spartenpublikum zu schätzen gewusst werden. Mit dem Debüt von Big Star erscheint ein später eminent wichtiges Album quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die musikalischen Stile laufen auseinander und ihre Hörer mit ihnen. Die Dichte an großen Alben ist erfreulich hoch aber es gibt auch einige Alben, die ich aus persönlichen Gründen einfach ignoriere – James Last’s unendliche Berieselungs Maschinerie, aber auch Don McLean’s American Pie – sehr erfolgreich, aber meiner Meinung nach zu Unrecht…. so ist das eben
The Rolling Stones
Exile On Main Street
(Rolling Stones Rec., 1972)
Nach der Katastrophe von Altamont, nachdem sich die Beatles zur Eröffnung der Dekade aufgelöst hatten und Angesichts einer gewissen Abnutzung ihrer in den Sechzigern und beginnenden Siebzigern so hohen Credibilty kamen die Rolling Stones letztlich ein bisschen überraschend mit ihrem Meisterwerk Exile on Main Street daher – und retteten die Seele des Rock’n’Roll. Wobei – zunächst wurde das Doppel-Album hart kritisiert, denn es kommt fast ohne Hits aus und die Produktion von Jimmy Miller klingt seltsam verwaschen – passend wahrscheinlich zum drogenbenebelten Zustand der Musiker. Aufgenommen wurde Exile… in Frankreich in der Villa Nellcote, einem ehemaligen GESTAPO Hauptquartier an der Cote d’Azur, wo die Musiker aus steuerlichen Gründen ihre Zelte aufgeschlagen hatten, Fertig gestellt werden mußte das Album aber dann letztlich in Los Angeles, da Keith Richards nicht mehr nach Frankreich einreisen durfte, weil gegen ihn wegen Drogenhandels ermittelt wurde. Soviel zu den „moralischen“ Hintergründen – Dekadenz und Rock’n’Roll eben … Wichtiger jedoch ist: Die Stones taten auf dem Album nichts weniger, als Country und Blues – die amerikanische Musik die sie bislang schon so trefflich zu interpretieren gewusst hatten – auf eine neue Ebene zu heben. Die instrumentalen Arrangements sind bis heute zeitlos, von Gram Parsons‘ Cosmic Honkytonk bis zu Muddy Waters‘ Blues interpretierten sie ihre US-Vorbilder, als wären sie nicht ein paar „Lads from England“, sondern als wären sie in diesen Sound hinein geboren. Im Gospel Blues von „Let It Loose“, beim Barroom Singalong „Sweet Virginia“, mit dem Worksong „Sweet Black Angel“ – mit all den Songs hier – fuhren sie einmal quer durch die USA. Songs wie „Rocks Off“ und „Loving Cup“ kamen nie ins Radio – wie gesagt, keine Hits – aber sie gehören zum besten und einflußreichsten Material, das die Stones je gemacht haben. Ein Umstand, der inzwischen gewürdigt wird, der dieses Album aber – zusammen mit dem“Classic-Rock“-Status der Band – leider auch ein bisschen zu dem Museumsstück hat werden lassen, das es eigentlich nicht sein sollte.
Little Feat
Sailin‘ Shoes
(Warner Bros., 1972)
Als Sailin‘ Shoes 1972 erschien, hatten Little Feat ihre Karriere schon fast aufgegeben. Der kommerzielle Misserfolg des von der Kritik hochgelobten Debüt’s muss für die gefragten Studio-Musiker enorm frustrierend gewesen sein. Dieses erste Album war noch stark vom Blues beeinflusst gewesen, aber Little Feat mischten schon ’70 Country, Folk, Jazz und Pop zu einem unnachahmlichen Gebräu, und sie hatten mit Lowell George nicht nur einen tollen Songwriter, sondern auch einen exzellenten Sänger und Slide-Gitarristen. Auf ihrem zweiten Album nun wurde dieser Gumbo noch ein bisschen publikumsfreundlicher gestaltet. George’s Songs wurden noch ausgefeilter, er versuchte Alles – von der nun etwas opulenteren Version der vom Debüt bekannten Trucker-Hymne „Willin’“ über den freundlichen Folk von „Trouble“ und „Sailin‘ Shoes“ bis zum Rock’n’Roll von „Teenage Nervous Breakdown“ bis zum fast mainstreamigen „Easy to Slip“ wurden alle Facetten der Band ausgeleuchtet. Und alles wurde von der technisch enorm versierten Band abwechslungsreich gespielt und von Ted Templeman geschmackvoll produziert und blieb dabei – keine geringe Leistung – doch immer als Little Feat-Musik erkennbar. Auch die Songs von George’s Partner/Konkurrenten Bill Payne konnten mithalten, gaben noch eine Prise Jazz dazu. Wenn man dann noch die großartig surreale Covergestaltung von Neon Park sieht, die perfekt zu Lowell George’s absurd/freundlichen Texten passt, kann man sich im Nachhinein nur wundern, warum die Plattenkäufer so unbeeindruckt blieben. Entsprechend löste sich das Quartett zunächst auf, alle Beteiligten konnten schließlich leicht gut dotierte Jobs in diversen Studios finden, die ihnen Lohn und Brot garantieren würden. Aber dann wuchs doch langsam die Nachfrage, der Ehrgeiz war auch noch immer da und mit neuen Musikern spielten George und Payne nach einer Pause und mit leichter Kurskorrektur Richtung Country noch einige tolle Alben ein, ehe Lowell George 1979 viel zu früh verstarb. Die ersten beiden Alben von Little Feat aber sind ihre bei Weitem interessantesten
Steve Young
Seven Bridges Road
(Reprise, 1972)
Nach den Stones und nach Little Feat erscheint es mir äußerst passend, auf das IMO beste ’72er Album der archetypischsten amerikanischen Musik einzugehen. Da gibt es 1972 einige Alben, die es verdient hätten exponiert zu werden – Townes Van Zandt haut gleich zwei classics to be ‚raus, die Nitty Gritty Dirt Band rekapituliert die Geschichte des Country -aber sie alle stehen zurück hinter dem zweiten Album des Songwriters und Outlaw Country-Meisters Steve Young. Dass dessen Seven Bridges Road – selbst in den USA – so obskur ist, bleibt ein Rätsel. Mindestens drei Songs hier sind in Cover-Versionen weit erfolgreicherer – meint bekannterer – Musiker zu Erfolgen geworden: Der Titelsong von Seven Bridges Road – den Young schon auf dem Debüt Rock, Salt and Nails (’69) in Erinnerung an seine Jugend und eine kleine Straße in seiner ehemaligen Heimat in Alabama schrieb – wurde von Joan Baez, den Eagles, der Carter Family oder Dolly Parton gecovert, „Lonesome, On’ry And Mean“ wurde zum LP-Titel des Outlaw-Stars Waylon Jennings und zu einem von dessen Signature-Songs, „Montgomery In The Rain“ wurde für Hank Williams Jr. zum Hit. Und damit sind ich nur die bekannteren Songs erwähnt. Auf Seven Bridges Road findet man zwölf wunderbare Beispiele dafür, was unverfälschte Country-Musik kann, WAS genau die Stones etwa an dieser Musik gefunden haben und was sie bis heute spannend macht. Das Album ist dank der reduzierten Produktion ohne die in Nashville übliche Hochglanz-Produktion und dank hervorragender Mitstreiter (Pete Drake (Steel g), Presley-Drummer D.J. Fontana, David Briggs (key – bald bei Neil Young’s Crazy Horse etc pp.) ein Vergnügen, jeder einzelne Song kann als Beispiel für eine Facette der Country-Musik durchgehen, „The White Trash Song“ bietet halsbrecherisches Picking, Merle Haggard’s „I Can’t Hold Myself in Line“ jammert herzzerreißend – wäre auch bei George Jones wunderbar aufgehoben, Steve Young’s Stimme ist nicht schlecht – vielleicht ein bisschen unauffällig – er beherrscht sein Songwriter-Handwerkszeug virtuos und dass seine Karriere so erratisch verlief und dass Seven Bridges Road nicht gleichwertig neben Klassikern von Van Zandt, Nelson und besagtem Jennings steht kann mich nur erstaunen. Ich rate jedem, den Americana interessiert, dieses Album zu suchen, es existiert in diversen Versionen – nur in keiner „aktuellen“. Jede ist ihr Geld wert.
Neil Young
Harvest
(Reprise, 1972)
Harvest beendet eine Trilogie von Alben, die im Grunde alles sagen, was Neil Young in den folgenden Dekaden nur noch ausformulierte und verfeinerte (Teil 1 – Everybody Knows This Is Nowhere, Teil 2 – After the Gold Rush, Teil 3 – dieses Album hier). Auf Everybody Knows… war es der harte, feedback-getränkte Gitarren Rock mit Crazy Horse, auf After the Gold Rush (außer beim Rocker „Southern Man“) der ruhigere Folk Rock mit düsteren Untertönen….. und nun vertiefte und erweiterte Neil Young auf Harvest seine Folk-Wurzeln und gab ihnen gleichzeitig ein sehr breites Sound-Spektrum, das er später immer wieder mal von dieser, mal von jener Seite anzapfen würde. Das Album wurde seinerzeit von der Presse zwar nur lauwarm begrüßt, aber es ist trotz einiger schwächerer Songs eines seiner bestverkauften geblieben – weil es als Einheit funktioniert, weil auch die nicht so guten Songs im Gesamtkonzept Bestand haben. Da ist das freundliche „Old Man“, da ist der bewegende Drogen-Bericht „Needle and the Damage Done“, da ist der Fan-Favorit „Harvest“ und natürlich der Evergreen „Heart of Gold“. Sogar „A Man Needs a Maid“ – durch das London Symphony Orchestra unverschämt aufgebläht – berührt trotzdem mit herzergreifender Melodie… Was Young dazu brachte mit dem LSO zu arbeiten, bleibt sein Geheimnis, aber es funktionierte. Harvest wurde zu einem dieser 70er Alben, die es in fast jedem Haushalt gab. Dadurch war es eine Zeit lang sogar ZU bekannt – und damit banal, aber ’72 ist inzwischen lange vergangen und die eine oder andere jüngere Generation hat Neil Young neu entdeckt und kann das Album nun unvoreingenommen hören – zumal der 2007 veröffentlichte Live-Mitschnitt Live at Massey Hall 1971 mit etlichen dieser Songs in abgespeckter Version den Blick auf das Album schärft..
Nick Drake
Pink Moon
(Island, 1972)
Bei einer Mondfinsternis bei Vollmond kann der Erdschatten ein rötliches Licht auf der sichtbaren Mondoberfläche erzeugen – den Pink Moon – was den Mond erscheinen lässt, als wäre er in Blut getaucht. Diese Erscheinung wird in diversen Mythologien selbstverständlich als düsteres Omen gedeutet. Dass die Geschichte diesem Omen recht geben sollte, war sogar schon zur Zeit der Entstehung des gleichnamigen Albums von Nick Drake vorhersehbar. Drake hatte sich nach dem kommerziellen Mißerfolg seiner beiden vorherigen Alben in sich selber zurückgezogen, war inzwischen fast unansprechbar und Produzent John Wood erinnerte sich in späteren Inteviews an dessen einsilbige Verzweiflung. In diesem Zustand war es wohl erstaunlich, dass es überhaupt zu einem weiteren Album kam. Pink Moon wurde in gerade mal zwei Tagen auf’s Sparsamste aufgenommen – elf Songs in gerade mal 26 Minuten – aber es sind Minuten von großer emotionaler Tiefe – einer Tiefe in die man nicht unbedingt gerne schauen mag. Da ist in der Stimmung ein großer Unterschied zu den auch melancholischen, aber doch auch lebhaften und teils üppig orchestrierten Vorgängern Five Leaves Left und Bryter Layter. Im Endeffekt hat man hier ein Album, bei dem ein Mensch sich bis auf die Knochen entblößt und seine Psyche mit all ihren Qualen vorzeigt. „Place to Be“ wirft die Träume eines jungen Mannes weg, im Austausch mit einer finsteren Zukunft....„ darker than the deepest sea“. Beim zerschossenen Blues von „Know“ lauten die einzigen Worte „Know that i love you / Know i don’t care / Know that i see you / Know I’m not There“ und im Titelsong lautet das Versprechen zu absteigenden Piano-Akkorden… „Take a look/ You may see me in the dirt.“ . Nach den Aufnahmen brach Nick Drake zusammen und zwei Jahre später nahm er sich das Leben. Seine Alben blieben immer erhältlich – das war vertraglich so festgelegt – und sie haben mit der Zeit einen berechtigten Legenden-Status erlangt.
Big Star
#1 Record
(Ardent, 1972)
Ursprung von Big Star war die Band Icewater um den Gitarristen/Songwriter Chris Bell. Als dann der ehemalige Box Tops Sänger Alex Chilton (Deren Hit „The Letter“ eine Perle der Sechziger Pop-Musik ist…) zur Band hinzustieß, benannten Icewater sich in Big Star um und nahmen in den Ardent Studios ihr fantastisches Debütalbum auf. Die Kritiker applaudierten, aber die marode Plattenfirma war nicht in der Lage die LP landesweit zu vertreiben und ein exzellentes Power-Pop Album ging unter wie ein Stein. Die Musik auf #1 Record lag seinerzeit allerdings auch nicht besonders im Trend. Der Sound der Beatles und der Byrds galt in Zeiten von Progressive Rock und Glam wohl als ein wenig zu überholt, mochte er noch so oft gebrochen werden, und höchstens mittelmäßig erfolgreiche Bands wie Badfinger und die kanadischen Raspberries beackerten ein ähnliches Feld. Man muß sich beim Hören von #1 Record vor Augen halten, dass Bands wie R.E.M., Teenage Fanclub oder Tom Petty & The Heartbreakers erst Jahre später mit ähnlich gelagerter Musik immensen Erfolg haben sollten. Big Star spielten schon ’72 genau diesen trügerisch leicht klingenden Pop, mit süßen Harmonien und jangly Guitars aber sie spielten ihn zusätzlich mit einer Tiefe, die man zuerst einmal erkennen und ausloten muss, die den Songs eine zusätzliche Dimension verleiht. Bell und Chilton waren fantastische Songwriter, wie man bei zeitlosen Songs wie „Thirteen“ oder „The Ballad of El Goodo“ auch heute noch zu hören vermag. So sollten dann erst in den Achtzigern viele Musiker die insgesamt drei Alben von Big Star wiederentdecken, was der Band zu ihrer Zeit leider nichts nutzte. Sie gingen unbemerkt unter und insbesondere Alex Chilton’s Status als verkanntes Genie wurde zu dieser Zeit zementiert. Die beiden folgenden Alben (plus ein viertes, quasi Chilton Solo Album) sind für mich allerdings Pflichtprogramm.
Roxy Music
s/t
(Island, 1972)
Roxy Music’s Debüt ist zweifellos eine weitere revolutionäre Neudefinition der Rockmusik der Siebziger. Seine Mischung aus Art-School und Primitivismus klingt auch heute noch fast erschreckend innovativ. Und wie gelang es diesen fünf Art-School Drop-Outs den Technicolor-Blitz in einer Flasche einzufangen? Es gab ganz einfach etliche Faktoren, die sie von anderen abhoben: Der Glamour des Covers setzte sich in der Musik genauso fort wie in den avantgardistischen Outfits der Musiker. Roxy Music hat Stil und seltsame synthetische Texturen – insbesondere Brian Eno’s „synthesized treatments“ kündeten von einem Willen zum Experiment, der weit mehr von Neugier angetrieben war als vom Interesse an instrumentaler Virtuosität. Genauso verweigerte sich Bryan Ferry’s Gesang der Konvention, Phil Manzanera’s Gitarre spielte Unvorhersehbares und Andy Mackay’s Saxophone pfiff auf alle Rock’n’Roll Klischees und quäkte atonal. All das wird durch wundervolle Songs zusammengehalten, wird dadurch zu einem leicht anhörbaren Album. Der Free-form Hit „Remake / Remodel“ mit seltsamen Strukturen, der polierte Glam von „Virginia Plain“, der Hollywood-Glamour von „2.H.B.“: Das waren die Tricks, die hier zunächst noch sympathisch ungezwungen angewandt wurden, und die dann aus einem Art School Projekt eine der abenteuerlichsten und erfolgreichsten Band der frühen 70er machte.
David Bowie
The Rise And Fall of Ziggy Stardust and The Spiders of Mars
(RCA, 1972)
Schon interessant, wieviel „Glamour“ in diesem Jahr in die Rockmusik einkehrt. David Bowie mag Mitte der Siebziger seines Ziggy Stardust Charakters überdrüssig geworden sein, aber es ist diese seltsam androgyne Personifikation eines Rockstars, mit der man ihn bis heute verbindet, – die ihn in diversen Verkleidungen bis in die 80er zu einem der einflussreichsten Künstler der Rockmusik machen sollte. Konstruiert als loses Konzept-Album über den außerirdischen Rock Star Ziggy Stardust, verliert The Rise And Fall Of Ziggy Stardust And The spiders Of Mars zwar schnell jeden Handlungsfaden, aber Bowies paranoide Lyrics und die Musik, die vieles vom Glam-Rock eines Marc Bolan, manches von Bowies 1970er Album The Man Who Sold the World entlieh, war einen glitzernde Ballung von Riffs, Hooks und Melodrama. Gitarrist Mick Ronson spielt mit unverschämter Lässigkeit auf Rockern wie „Suffragette City,“ oder „Moonage Daydream,“ während „Lady Stardust“ oder „Rock ’n‘ Roll Suicide“ einen Sinn für Dramatik haben, der so in der Rockmusik noch nicht vorgekommen war. Dass die Tracks des Albums als Songs für sich stehen können, sorgt zweifellos auch für die erwünschte Zeitlosigkeit dieses Albums. Eines Albums, das allein schon dadurch erstaunt, dass es eigentlich irgendwann unmodern hätte werden müssen – das aber nie wurde – und dessen Einfluss insbesondere in den kommenden 2-3 Jahren groß sein sollte. Ein gewisser Bob Marley im fernen Jamaika etwa fand es so toll, dass er seinen Sohn nach der Hauptfigur benannte. Es ist wohl vor Allem dieses Album (neben den späteren Dreien – Low, Heroes und Station to Station aus der Berlin-Phase) das zu Bowies Trademark werden sollte.
Lou Reed
Transformer
(RCA, 1972)
Als die „Ziggy-Mania“ ihren Höhepunkt erreichte, bot David Bowie dem von ihm bewunderten (und inzwischen ein bisschen verlorenen) Ex-The Velvet Underground Musiker Lou Reed dringend nötige Hilfe an. Reed selber mochte mit Glam nichts am Hut haben, seine Karriere war nach dem ersten Solo-Album ins Stocken geraten – aber seine exzentrische Persönlichkeit passte immerhin gut in die dämmrigen Bereiche der Glam-Schattenwelt. Und so schufen Bowie und seine rechte Hand Mick Ronson für Transformer einen Sound, der perfekt zu Reed passte, der aber mit einer einzigen, für Reed eigentlich untypischen Single auch noch ungeahnten kommerziellen Erfolg einbrachte. Ronsons Gitarren auf „Vicious“ and „Hangin‘ Round“ sind ungezügelter als Reed sie je hätte spielen können, „Perfect Day“ und der Hit „Walk on the Wild Side“ erhielten von Bowie und Ronson Arrangements, die perfekt zu Reeds Lyrics über eine Halbwelt passten, die fremd und gefährlich schien. Und Reed’s Intelligenz und Welt-Müdigkeit scheint bei allem so wunderbar durch, gibt Transformer eine weitere Dimension. Dieses Album würde wegen – nicht trotz – seines Eklektizismus Reeds Stil für die kommenden Jahre definieren, was dann wiederum beinahe in eine Sackgasse führte, Aber Bowie and Ronson gaben Reeds Karriere hier zunächst einmal den notwendigen Schub, und das Album ist – inklusive des ikonografischen Covers – zu einem Monolithen geworden – und letztlich zum Grundstein einer beeindruckenden Karriere, die im kommenden Jahr mit dem zweiten Monolithen Berlin eine weitere, vor allem künstlerische Spitze erreichte.
Neu!
s/t
(Brain, 1972)
Zwischendurch hat Krautrock ja wieder eine gewisse Coolness erlangt – durch/mit Bands wie Can, Kraftwerk, Faust oder eben Neu!. Drummer Klaus Dinger und Gitarrist Michael Rother – die beiden Begründer von Neu! – hatten zuvor bei den Düsseldorfern Kraftwerk mitgemacht, sie hatten ein ähnliches Konzept, aber sie waren sozusagen der „emotionale“ Part der Band gewesen und man kann mit ihrem Debüt trefflich spekulieren, was aus Kraftwerk geworden wäre, wären sie dabei geblieben. Mit Neu! folgten sie also ihrer eigenen Vision und nahmen in vier Tagen und drei Nächten mit dem Produzenten Conny Plank einen Klassiker des Krautrock auf. Klaus Dingers „Apache Beat“ – wie er ihn selber nannte – ist das wichtigste Element ihrer Musik – was sag‘ ich – ist wie bei den meisten anderen Bands dieser Zeit und dieser „Szene“ – das entscheidende Element. Michael Rothers Gitarre malt aus, unterlegt die rhythmische „Motorik“ mit Drones und Melodiefragmenten. Neu! Scheint mir die Schnittmenge aus Can’s Tago Mago und den Alben von Kraftwerk, die Spannung, die die Musiker auf den beiden Paradestücken „Hallogallo“ und „Negativland“ erzeugen, sind der Beweis, dass experimentelle Musik richtig Spaß machen kann. Kommt der Rhythmus zur Ruhe, wird die Musik etwas beliebiger, aber die Stücke sind so geschickt verteilt, dass Neu! als Einheit wahrgenommen wird. Schon zu dieser Zeit war die Chemie zwischen den beiden Musikern explosiv, die Charaktere erkennbar unterschiedlich. Aber zunächst arbeiteten sie noch zusammen, sahen sich allerdings nicht in der Lage ihre Musik auf befriedigende Weise Live zu performen. Somit gibt es keine Konzert-Aufnahmen ihrer Musik – die übrigens in England durch den DJ John Peel bald populär wurde. Der Einfluss von Neu! auf spätere Acts wie Joy Division, Gang of Four oder auf David Bowies „Berlin Trilogie“ ist erkennbar groß…
Stevie Wonder
Music of My Mind
(Tamla, 1972)
1972 erscheinen Highlights der Soul-Musik scheinbar im Wochentakt (Allerdings oft nur in der Wahrnehmung Interessierter). Das schwarze Amerika hatte ein neues Selbstbewusstsein entwickelt, Musiker wie Curtis Mayfield oder Marvin Gaye waren Stars – sogar beim weissen Publikum – arbeiteten selbstbestimmt und wollten sich in ihren Texten nicht mehr nur mit Liebe und Leid befassen, sie riefen – aus gutem Grund – zu gesellschaftlichem Engagement auf, prangerten Missstände an und zeigten zugleich ihren Stolz auf Hautfarbe und Herkunft. Ganz vorne dabei war Stevie Wonder. Schon im Frühjahr ’72 überzeugte er mit dem beziehungsreich betitelten Album Music of My Mind- Wonder hatte sich auf diesem 14. Album (!) endgültig emanzipiert, nutzte seine Freiheit, um alles auszuprobieren, was ihm nützlich erschien, um Musik und Aussagen seiner Songs so ‚rüberzubringen, wie es ihm in den Kopf kam. Wonder hatte im Jahr zuvor die Synthesizer-Spezialisten von Tonto’s Expanding Head Band kennen gelernt und war von den zu dieser Zeit noch exporbitant teuren Geräten völlig begeistert. Damit konnte er Sounds realisieren, die er sich bislang nur hatte vorstellen können. Er war gerade mit der Sängerin Syreeta Wright verheiratet, und auch wenn die Beziehung Ende des Jahres auseinander brechen würde, verstanden die beiden sich auf künstlerischer Ebene offenbar sehr gut. Den schönen Opener „Love Having You Around“ hatte er mit Syreeta verfasst, toll auch sein „Superwoman (Where Were You When I Needed You)“. Gegen Mitte des Albums sinkt das Niveau ein wenig, aber „Happier Than the Morning Sun“ ist ein feiner, zurückhaltender Pop-Song, nur Stevie am Clavinet, mit wunderbarer Melodie und mir gefällt das schlichte, aber sehr dynamische „Keep On Running“. Music of My Mind gilt als Beginn der klassischen Album-Phase Wonder’s, aber es verblasst ein wenig neben dem, was noch in diesem Jahr folgen würde:
Stevie Wonder
Talking Book
(Tamla, 1972)
Denn der Nachfolger Talking Book war der Moment, in dem Wonder seine künstlerische Freiheit erstmals in aller Fülle auslebte – und durchgehend die Songs hate, diese Freiheit zu nutzen. Er hatte wie beschrieben den Synthesizer für sich entdeckt und im Eiltempo gemeistert, nutzte die neue Technik nun für wunderbar warme, elektronische Arrangements und konnte damit auch faktisch Alles alleine einspielen. Eine Freiheit, die er im Laufe der Zeit immer mehr nutzen würde, zumal er ja ein Allround-Musiker war. Freilich holte er sich auch hier noch mit den Gitarristen Jeff Beck, Ray Parkert Jr. und Buzz Feiten ein paar Könner ins Studio, um das bestmöglich Ergebnis zu erzielen. Und wirklich – Talking Book ist so nah an der Perfektion, dass es fast ein bisschen ZU gut ist. Es ist ein Crossover Album zu einer Zeit, als dieser Begriff noch unbekannt ist, es gibt smoothe Love Songs wie den trügerisch leichten Hit „You Are the Sunshine of My Life“ – ein Stück, das bei all seiner Leichtigkeit ungemein geschmackvoll und intelligent ist, es gibt natürlich Wonders Superhit „Superstition“ – enorm temperamentvoll und als Aufruf gegen die Hoffnungslosigkeit in der Community gedacht, es gibt mit dem regelrecht folkigen „Big Brother“ einen offen politischen Song, aber auch zutiefst persönliche Love Songs wie den wunderbaren Closer „Believe (When I Fall in Love It Will Be Forever)“. Wonder’s damalige Frau Syreeta (der er bei ihrem famosen Solo-Album im selben Jahr im Gegenzug aushalf ) trug zu zwei Songs die Lyrics bei, Talking Book ist mit seinem schnellen Wechsel zwischen temperamentvollen Songs und ruhigen Balladen zwar anstrengend, aber Wonder verliert nie den Faden. Seine Stimme, seine Art zu arrangieren, sein Mundharmonikaspiel, die neu entdeckten Synthie-Sounds – all das hält das Album zusammen. Und die Qualität seiner Songs war in dieser Zeit extrem hoch. Da gab es keine Filler mehr und noch keine Belanglosigkeiten wie „I Just Called to Say I Love You“. Talking Book ist die No. 2 eins Quintetts von kompletten Alben – nicht nur von Single-Hits – die zu den Meilensteinen des Soul gehören.
Nuggets
Original Artyfacts from the First Psychedelic Era 1965 – 1968
(Elektra, 1972)
Ich möchte Nuggets… als Anthology of American Folk Music des Punk bezeichnen. Das ist jedenfalls der Grund, warum diese Kollektion von Tracks obskurer Proto-Punk, Garagen-Rock und Rhythm & Blues-Combo’s hier in einer Reihe mit den wichtigsten Alben des Jahres 1972 auftaucht. Zusammengestellt wurde das Doppelalbum (in dieser Form erschien Nuggets zunächst) vom Elektra Label-Gründer Jac Holzman und dem späteren Patti Smith Gitarristen Lenny Kaye. Den Beiden ging es darum, einstmals durchaus erfolgreiche Songs von inzwischen obskuren Bands der Mitt-bis End-Sechziger zu kompilieren. Songs, die eine Musik repräsentierten, die 1972 scheinbar in Vergessenheit geraten war. So sind zu dieser Zeit die meisten Bands auf dieser Compilation aus dem Gedächtnis der Musikhörer verschwunden. Count Five, die Seeds, die Shadows of Knight, auch die 13th Floor Elevators, all diese Band waren von „großen“ Stars weggespült worden, von Led Zeppelin, den Stones, den aufkommenden oder schon ihre Kreise ziehenden Bands des Progressive-Rock – von Bands und Musikern, deren Musik weit ausgefeilter war, als Zwei-Minüter wie „Dirty Water“ von den Standells. Die ganz einfach mehr hatten, als nur den einen Hit.. Die Songs auf Nuggets sind im Gegensatz zum Trend der Zeit noch auf’s Wesentliche reduziert – keine fünf-minütigen Gitarrensoli, keine selbstverliebten Mega-Stars – was hier zählte war der Song und die Energie – und das nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Zwei oder drei der Beteiligten hatten es sogar geschafft, mehr als nur den einen Top 50 Eintrag zu erreichen: Hinter den Amboy Dukes („Baby Please Don’t Go“) verbarg sich Ted Nugent, der bald den wilden Mann und Gitarrenheld spielen würde – und in den USA zumindest sehr erfolgreich wurde – und hinter Nazz („Open My Eyes“) verbarg sich Todd Rundgren, der Produzent und Musik-Wizzard, dessen Ruf bald beträchtlich werden würde. Andere aber hatten nur diese maximal drei Minuten, die reichen, um Alles zu sagen, was einen guten Song ausmacht. Es ist müßig, hier die Songs und Bands aufzuzählen – zumal die Box ab 1998 von 27 Tracks auf 4 CD’s mit zu vielen, aber sehr unterhaltsamen 118 Stücken aufgebläht wurde. Und da es sich bei dieser Nuggets-Box um eine rein amerikanische Angelegenheit handelt, wurde bald auch noch die britische Version nachgeschoben. Das CD-Zeitalter eben. Die Auswirkungen dieser Box zu Beginn der Siebziger auf die junge Generation kann aber nicht überschätzt werden. Hier ließen sich hunderte von Musikern und Bands beeinflussen, die bald den amerikanischen Punk begründen würden (…der schon vor den entsprechenden Bands im UK Wellen schlug). Bands wie Pere Ubu, Television, die Ramones, natürlich die Patti Smith Group mit Lenny Kaye, dem Initiator dieser Box, etc pp. Klar – Punk hätte es vermutlich ohne die Musik auf Nuggets: Original Artyfacts From the First Psychedelic Era 1965 – 1968 trotzdem gegeben – aber der Einfluss dieser Compilation ist enorm gewesen – und es ist heute noch ein großer Spaß, solche Songs zu hören, da sie aufgrund ihres Minimalismus zeitlos geblieben sind.
..und wieder diese Auswahl
Ich hab’s ja nun am Ende der letzten Haupt-Artikel mehrfach wiederholt: Wer mag, kann auch für ’72 zwölf andere Alben größter Klasse finden, die den Platz eines der hier oben beschriebenen Alben übernehmen. Aber die finden dann eben in einem liebevoll gestalteten Artikel in der Zukunft Platz: Wie wäre es mit…
Milton Nascimento & Lo Borges -Clube de Esquina – Brasilianischer Pop in absoluter Perfektion, in meinem ersten Entwurf noch hier…
Can – Ege Bamyasi – aber ich beschreibe hier schon Neu!
Randy Newman – Sail Away – das tat mir wirklich weh, aber ich hatte Little Feat hier und so…
Miles Davis – On the Corner – Tja. Kein Jazz von mir – nicht weil es nicht toll ist sondern einfach so…
Yes – Close to The Edge – Ich liebe Progressive Rock, aber die Zwölf waren voll…
Black Sabbath – Vol. 4 – Auch dieses Black Sabbath-Album ist epochal, aber es war kein Platz mehr
Lal and Mike Waterson – Bright Phoebus – …wenn ich Folk betonen wollte.
… heisst: All die gerade genannten Alben sind NICHT schlechter, fallen nur der Ökonomie zum Opfer und werden anderswo gewürdigt.