Das Wichtigste in 1954 – Teilung in Nord- und Süd-Vietnam und der McCarthy-Wahnwitz – Clifford Brown & Max Roach bis Billie Holiday und Norman Grantz

’54 endet der Indochina-Krieg mit der Niederlage der Französischen Truppen bei Điện Biên Phủ. Bei der folgenden Indochina-Konferenz in Genf wird Vietnam von den Großmächten USA, UdSSR und China in einen „kommunistischen“ Nord- und einen „demokratischen“ Südteil unterteilt. Damit ist die Saat für den Vietnam-Krieg der 60er/70er ausgebracht.

…zugleich beginnt ein blutiger Kolonialkrieg in Algerien, in dem die FLN brutal gegen die französischen Besatzer und das eigene Volk vorgeht – soweit es ansatzweise mit den Franzosen sympathisiert. Viele ehemalige Kolonien wollen sich in diesen Jahren von den Kolonialmächten lösen. Derweil wird in den USA die Rassentrennung in Schulen verboten – offiziell jedenfalls – aber die Trennlinien zwischen Schwarz und Weiss sind nach wie vor scharf gezogen und die Gesellschaft ist noch weit von Gleichberechtigung entfernt (… und das hat sich bis heute nur graduell geändert). Mit dem Communist Control Act erreicht derweil die McCarthy Ära ihren Höhepunkt – Mitgliedschaft in einer kommunistischen Partei wird darin kriminalisiert. Der erste Burger-King nimmt in den USA den Betrieb auf und der erste Farbfernseher kommt auf den Markt – und das erste Atomkraftwerk wird in der UdSSR in Betrieb genommen. Der 11. April 1954 soll später von Wissenschaftlern als der langweiligste und ereignisloseste Tag des Jahrhunderts ermittel werden. 1954 ist das Geburtsjahr von Elvis Costello, Pat Metheney und Stevie Ray Vaughan. Das Buch Der Herr der Ringe von JRR Tolkien wird veröffentlicht. Ein junger Mann namens Elvis Presley nimmt in den Sun Studios in Memphis, Tennessee den Blues-Song „That’s Alright“ auf und beginnt seine Karriere als Musiker. Bill Haley nimmt „Rock Around the Clock“ auf, einen Song, der als (eine der) Initialzündung(en) für den Rock’n’Roll gilt. Aber es sind einzelne Songs auf 7“es, die diese neue Musik transportieren – keine LP’s. Das große Format ist klassischer Musik vorbehalten und in der populären Musik und im Jazz noch unüblich. Erstmals wird für eine Show der Begriff Rock’n’Roll verwendet – er steht übrigens für die Begeisterung bei spirituellen Messen in den Kirchen der Schwarzen – und für Sex. Noch heissen die Stars am Musik-Himmel Doris Day, Perry Como, Eddie Fisher – und Frank Sinatra. Auch der sog. DooWop von heute vergessenen Acts wie den Penguins oder den Moonglows ist ein populärer Stil – in dem ebenfalls die 7“ das gewählte Format ist und im Blues sind es Singles wie „Hoochie-Coochie Man“ von Muddy Waters, die Erfolg haben – und die dann in ein 3-4 Jahren auf Compilations im Album-Format auftauchen werden. Aber es gibt immerhin die paar hier erwähnten Alben – meist noch 10“es – die wirklich interessant sind, und die erst später auf LP-Länge erweitert werden.

Clifford Brown & Max Roach
s/t

(EmArcy, 1954)

Dass sich der aufstrebende Trompeter Clifford Brown und Max Roach – Schlagzeuger bei etlichen Sessions solcher Größen wie Monk oder Charlie Parker – zusammentaten, ließ bei den progressiven Jazzfans seinerzeit wohl den Puls höher schlagen. Und tatsächlich sollte ihre Zusammenarbeit sich als wegweisend für den BeBop erweisen. Clifford Brown & Max Roach enthält nicht nur Jazz auf höchstem technischem Niveau, es sprüht auch – bis heute erkennbar – vor Inspiration und klingt erstaunlich modern. Browns Trompetenklang ist warm und unverkennbar, Roach – der sich zu einem der gefragtesten Drummer seiner Gereration entwickelt – spielt schnell, mühelos und einfallsreich. Der auf dem Cover nicht genannte Saxophonist Harold Lane gibt mal Charlie Parker, mal Benny Goodman, klingt mal angenehm und schmeichelnd, beim verführerischen „Deliah“ expressiv und wild bei „The Blues Walk“ oder „Parisian Thoroughfare“ bei dem er mit Brown atemberaubende Unisono-Passagen in reinem New York Jazz-Club-Style spielt. Hier wird perfekt die Balance zwischen schnellem HardBop und ruhigen Balladen gehalten. Dieses Album bietet Bop in bester und reinster Form und es ist eben nicht nur deshalb von Interesse, weil Clifford Brown tragischerweise ein Jahr später bei einem Autounfall ums Leben. Der weder Alkohol noch Drogen konsumierende Brown wäre einer der ganz Großen geworden und er wäre ernsthafte Konkurrenz für den ’54 noch tief in seiner Drogensucht steckenden Miles Davis gewesen.

Louis Armstrong
Louis Armstrong Plays W.C. Handy

(Columbia, 1954)

Louis Armstrong entstammte einer älteren Generation von Jazz-Musikern und war in den 50ern schon so etwas wie eine Institution. Sein Jazz war nicht mit der Musik von Charlie Parker oder Monk zu vergleichen. ...Plays W.C. Handy ist insofern eher ein Album mit Musik, die so altertümlich ist wie viele der Songs auf der Anthology of American Folk Music.. Tatsache ist dass der Autor aller elf Songs dieser LP (die seinerzeit auch als 12“-LP erschien!) 1954 schon über 80 Jahre alt und blind war: W.C. Handy hatte den Blues in den 20ern populär gemacht und war selbst für den über 50-jährigen Armstrong so etwas wie eine Vaterfigur. Für dieses Album arbeitete Armstrong mit seinen All-Stars (Trombonist Trummy Young, Klarinettist Barney Bigard, Pianist Billy Kyle, Bassist Arvell Shaw, Drummer Barrett Deems, und Sängerin Velma Middleton), sang auf seine unnachahmlich kehlige Art auch selber einige der Titel ein und improvisierte auf jedem der Songs nach Herzenslust. Das gesamte Album ist ungeheuer rhythmisch und atmet eine Liebe und Begeisterung, die das Alter der Musiker Lügen straft. Höhepunkt ist das fast neun-minütige „St.Louis Blues“ mit fantastischen Trombone-Solo. Also: Dieses Album ist völlig Old-School, nur der Klang ist ein moderner, – aber so kann diese Form von Jazz für mich Modernisten funktionieren.

Chet Baker
Chet Baker Sings

(Pacific Jazz, 1954)

Es ist eine berechtigte Frage, ob Chet Baker ein Trompeter war, der auch sang, oder umgekehrt. Als der gerade mal 24-jährige aus Kalifornien auf diesem Album seine Gesangskarriere begann, war sein Vokal-Vortrag mindestens so revolutionär wie das delikate Trompetenspiel. Baker war Autodidakt und konnte keine Noten lesen, (weshalb es kaum Eigenkompositionen von ihm gibt) auf der Trompete wie beim Gesang hatte er einen klaren, gänzlich vibratofreien Ton, in Beidem klang er leicht und elegant wie kaum ein Musiker zuvor – so rein, dass sein Jazz so Manchem seltsam feminin Klang. Seine erste Vocal-Session aus dem Februar ’54 hat eine ergreifende Unschuld, wirkt adoleszent und ein bisschen unperfekt – und begründete seine Ruhm als Sänger. Die bekanntere Version dieses als 10“ veröffentlichten Albums ist sicher die 1956 um sechs Tracks erweiterte LP-Version, aber egal welches Album man hört – die Aufnahmen klingen wie Milch und Schokolade – was auch am etwas süßlichen Material liegen mag. Songs wie Frank Loesser’s „I’ve Never Been in Love Before“ und Donaldson/Kahn’s „My Buddy“, die früher aufgenommene und definitive Version von „My Funny Valentine“, all das mit sparsamer Begleitung aus Piano, Bass und Drums sowie Baker’s sinnlichem Trompetenspiel machen Chet Baker Sings zu einem Klassiker des West Coast Cool Jazz und des Vocal Jazz zugleich.

Frank Sinatra
Songs for Young Lovers

(Capitol, 1954)

Im Jahr 1954 war Sinatra mit immerhin schon 40 Jahren zu Capitol gewechselt und mit diesem inzwischen siebten Album begann seine musikalisch reichste und interessanteste Zeit. Mit dem Alter und der Erfahrung hatte seine Stimme eine Reife und lässige Klasse, die ihn zu einem der größten Stilisten und Sänger in der populären Musik machen sollte. Songs for Young Lovers ist schon deshalb interessant, weil es als das erste Konzept-Album in der populären Musik gilt. Die Produzenten wollten das Format des Tonträgers mit (auf der 10“) acht Songs für mehr als nur eine Aneinanderreihung von Songs nutzen. Sinatra arbeitete erstmals mit Arrangeur Nelson Riddle zusammen, wobei der die Arrangements von Sinatras Night-Club-Auftritten nur ein bisschen erweiterte. Die Songauswahl ist – wie bei Sinatra in den kommenden Jahren üblich – vom Allerfeinsten: die Songs entstammen dem American Songbook, sind u.a. von Cole Porter, Gershwin oder Hart/Rodgers, es gibt eine Version von „I Get a Kick Out Of You“, noch mit der Kokain-Zeile („…I Get no Kicks from Cocaine...“ – also wirklich…), es gibt eine klassische Version von „My Funny Valentine“ mit kleinem Orchester und die wunderbaren Klassiker „A Foggy Day“ und „They Can’t Take That Away From Me“. Die Atmosphäre ist relaxed und romantisch und die Standards, die hier geboten wurden, mag es in anderen Versionen von anderen Musikern – insbesondere von den famosen Vocal-Jazz Sängerinnen der kommenden Jahre – auch noch geben. Aber Sinatra singt sie mit der unnachahmlichen Lässigkeit, die sie so eigenständig machen. Und dies war erst der Beginn einer großen LP-Reihe: Sinatra sollte in den kommenden Jahren der 50er noch um Einiges besser werden.

Billie Holiday
s/t

(Clef, 1954)

Billie Holiday hatte 1953 kein einziges Mal ein Studio betreten, nur Live-Auftritte gehabt und ihr im Artikel über besagtes Jahr erwähntes Live Album An Evening With Billie Holiday aufgenommen. 1954 ging sie dann endlich auf Betreiben von Norman Granz wieder ins Studio und nahm zwei ihrer frühen Erfolge aus den 30ern neu auf. „What a Little Moonlight Can Do“ und „I Cried for You“ hatte sie damals, zu Beginn ihrer Karriere, mit dem Teddy Wilson Orchestra aufgenommen, die neuen Aufnahmen nun waren zugleich sparsamer und gingen tiefer. Das Downbeat Jazz Magazin jedenfalls war begeistert, dankte dem Herrn und Mr Grantz jeweils für beide Versionen und pries Holidays Gefühl und Rhythmus, nannte sie eines der „seven wonders of jazz“. Das Personal der neuen Tracks entsprach dem ihrer Live Auftritte mit Ray Brown, Barney Kessel, Oscar Peterson und einem weniger bekannten Saxophonisten und Trompeter. Die Musik… wie schon zum Vorgänger, dem Live Album An Evening With Billie Holiday gesagt: Es ist Vocal Jazz mit der Tiefe des Blues, anders als all die anderen Sängerinnen dieser Zeit, ob Ella Fitzgerald, Peggy Lee oder Sarah Vaughn, Sie war ihnen allen voraus – an Lebenserfahrung und Leid, genauso wie an Technik und Gefühl. Billie Holiday ist singulär, sie wäre auch heute ein Phänomen und ihre Musik ist letztlich zeitlos geblieben – und es lohnt sich in höchstem Maße ihre Musik – insbesondere eben diese späten Aufnahmen – zu hören.

Wer ist Norman Granz ?

Hier ein paar Worte über einen Mann, der nicht als Musiker, sondern als Impressario, Produzent und Visionär die Musik der Fünfziger – insbesondere den (Vocal)-Jazz geformt hat: Norman Granz war für die Entwicklung des Jazz in den Fünfzigern mindestens genau so wichtig wie der etwas jüngere All Star Produzent Rudy Van Gelder. Er war als – weisser (!) – Fan in die Jazz-Szene gekommen, war als einer der ersten mit dem Konzept organisierter Live-Events erfolgreich – mit Konzert-Tourneen unter dem Namen „Jazz at the Philharmonic“ bei denen er eine Art Großfamilie von (insbesondere schwarzen) Jazzmusikern um sich versammelte, die durch seine fairen Geschäftsgebaren sogar Geld verdienten. JATP funktionierte ohne teure Big Band im Hintergrund, die Musiker traten in kleinen Combo’s auf und versammelten sich zur Improvisation – ein modernes Konzept. Er forderte vom Publikum die gleiche Ruhe und den gleichen Respekt wie bei Konzerten mit klassischer Musik,…. Er war derjenige, der 1955 das Jazz Label Verve gründete (auf dem ganz nebenbei 1967 The Velvet Underground & Nico erscheinen würde), er hatte schon Mitte der Vierziger Clef Records gegründet, 1953 mit Norgran ein weiteres Label für modernen Jazz aufgebaut, und er war derjenige, der Billie Holiday aus der (erzwungenen) Untätigkeit holte, mit ihr und einer kleinen Besetzung diverse Live- und auch Studio-Alben produzierte. Die moderne Form des „Albums“ mit der längeren Spielzeit passte ihm dafür ganz hervorragend ins Konzept. Als Produzent nahm er mit Allen auf, die Jazz in der uns bekannten Form entwickelt hatten und die die kommenden Jahre im Jazz bestimmen würden. Charlie Parker, Dizzie Gillespie, Louis Armstrong, Oscar Peterson… – oder Sängerinnen wie Anita O’Day, Blossom Dearie und er nahm mit Ella Fitzgerald ab 1955 die großartigen Songbook’s mit Kompositionen namhafter amerikanischer Songwriter wie Cole Porter, Rogers & Hart oder Duke Ellington auf. Dabei war er selber wie angedeutet kein Musiker, aber er hatte wohl ein feines Ohr für die Zwischentöne im Jazz. Er war als Sohn jüdischer Immigranten ein entschiedener Anti-Rassist, ließ Konzerte absagen, bei denen Afro-Amerikaner und weisse Amerikaner im Publikum getrennt sitzen sollten, verlangte Gleichbehandlung vor und hinter der Bühne und forderte gleiche Bezahlung für schwarze wie weisse Musiker – was damals unüblich, skandalös und mitunter sogar gefährlich war – all das auch auf eigenes Risiko und auf eigene Kosten. Er war mit etlichen der oben genannten Musiker befreundet, Oscar Peterson benannte sogar einen seiner Söhne nach ihm, er war mit Pablo Picasso befreundet, nach dem er in den Siebzigern auch ein weiteres selbst gegründetes Jazz-Label benannte. Ende der Fünfziger verkaufte Granz Verve an MGM und wanderte nach Genf aus – auch weil ihn die Intoleranz innerhalb der amerikanischen Gesellschaft frustrierte. Aber er blieb als Impressario und Label Chef bis ins hohe Alter tätig. Die (für mich) wichtigste und interessanteste Phase seiner Karriere beginnt in den frühen Fünfzigern. Er ist für mich vor Allem Pate des Vocal-Jazz.

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