Das Wichtigste aus 2020 – Corona und der Riss durch die Gesellschaft – Run The Jewels bis Neptunian Maximalism

Unter mysteriösen Umständen bricht Ende ’19 in China der sog. Corona Virus aus und breitet sich schnell weltweit aus. Gesellschaften erzittern unter den erforderlichen Schutz-Maßnahmen gegen die Pandemie. Insbesondere dass die Wirtschaft darunter leidet, wird zum Problem. Menschen verlieren Jobs, müssen aufeinander Rücksicht nehmen, um sich gegenseitig zu helfen und zu schützen – und das nervt bald so sehr, dass die von dem Virus ausgehende Gefahr von Spinnern lieber geleugnet wird…

Die anfängliche Solidarität ist schnell aufgebraucht und insbesondere Nationalisten wie Trump – der seine im November 2020 erfolgte Abwahl auch mit Gewalt verhindern will – aber auch Autokraten wie Putin oder der brasilianische Trump 2.0 Bolsonaro nutzen die Pandemie, um ihre Machtpolitik mit Lügen zu zementieren, ihre „Gegner“ zu diskreditieren und Schlimmeres. Es GIBT Solidarität und Zeichen von Humanität – die verblassen aber vor Katastrophen wie den von Trump-Anhängern in den USA niedergeknüppelten Protesten nach dem rassistischen Mord am Afro-Amerikaner George Floyd. Und der abgewählte Trump spaltet weiterhin Gesellschaften weltweit mit Lügen und Rassismus. Das Klima? Die Katastrophe ist für alle sichtbar: Kalifornien brennt, der Amazonas brennt, Europa überhitzt und trocknet aus, Afrika sowieso, Indien ertrinkt…. Man will es nicht mehr aufzählen. Klimaschutz? Für viele Parteien bloß ein hipper Mode-Begriff, um Wähler anzulocken. Ernsthafte Maßnahmen? Fehlanzeige. Der Durchschnitts-Deutsche etwa müssten ja evtl. auf seinen SUV verzichten und die weltweiten Fridays-for-Future Proteste der jungen Generation werden nach dem kurzen Moment der Andacht übergangen oder verspottet. Und dann fällt auch noch Weihnachten der Pandemie zum Opfer… Mit Peter Green stirbt einer der großen weissen Blues-Gitarristen seiner Generation. Immerhin erzeugen die gesellschaftlichen Divergenzen Musik mit Bedeutung: Run The Jewels und Sault kommentieren das Unrecht, das schwarzen Menschen seit Jahrhunderten weltweit geschieht, clipping. definieren den Horrorcore neu und handeln den realen Horror der US-Gesellschaft ab. Fiona Apple lehnt sich auf, sogar der fast 80-jährige Bob Dylan kommentiert die Traumata der US-Historie gewohnt bildreich – und macht damit seit Jahren erstmals wieder interessante Musik. Die junge Charli XCX macht das beeindruckendste Pop-Album – ein Platte, die den Lockdown vertont. Die Songwriterin Laura Marling zieht sich ins Private zurück, der Brocken Songwriting von Microphones aka Phil Elverum ist einmalig. Die Post-Punk Legende The Strokes returns to form, die Finnen Oranssi Pazuzu erforschen die Dunkelheit der Seele, der Schweizer Tobias Möckl aka Paysage D’Hiver wiederum spricht ein 2-stündiges, definitives Wort in Sachen Black Metal. Ähnlich ausladend und beeindruckend ist der obskure Post-Rock-Jazz-Metal der Belgier Neptunian Maximalism… Viel gute Musik, die einiges der Tatsache schuldet, dass ihre Macher durch die Corona-Einschränkungen in diesem Jahr nicht Live auftreten können und somit auf sich selbst zurückgeworfen sind.

https://music.apple.com/de/playlist/der-gro%C3%9Fe-rockhaus-2020/pl.u-jV89eELudNerA95

Run The Jewels
RTJ 4

(RBC, 2020)

1.0.21 20E

Am 25. Mai 2020 wird George Floyd – ein unschuldiger schwarzer Amerikaner – vom weißen Police Officer D. Chauvin in Minneapolis umgebracht. Während der Officer minutenlang auf seinem Hals kniet röchelt er „I Can’t Breathe!“. Dies war der Protestruf der Black Life’s Matter Bewegung, die sich schon seit 5 Jahren gegen den unverhohlenen Rassismus der US-Gesellschaft richtet. Gegen einen Präsidenten, der mit seinem persönlichen, rassistischen Hass auf Non-White-Americans, mit seinen Lügen und seiner Misogynie die Gesellschaft inzwischen auf die brutalst mögliche Weise spaltete. Das langerwartete vierte Album von EL-P und Killer Mike aka Run the Jewels war die musikalische Entsprechung dieses Protestes… RTJ4 wurde gerade mal acht Tage nach dem Mord an George Floyd veröffentlicht. Die Empörung innerhalb des vernünftigen Teils der US-Gesellschaft kochte gerade über – und Run The Jewels hatten den Soundtrack dazu. Es war freilich keine bewusst getimete Reaktion auf diesen EINEN Mord – „I Can’t Breathe“ gab es schon jahrelang – Diskriminierung und Morde an non-white Americans waren schließlich Usus in den USA, hatten eine lange Geschichte. In diesem Zusammenhang muss man RTJ4 auch sehen. Man muss bedenken, dass El-P weiß ist, dass er sich mit seinen klugen und harten Beats und Samples, mit seinen Raps offen gegen das konservativ/weisse Establishment stellte. Und wie Killer Mike jeden Satz herausspuckt… Beider Aktivismus ist komplett überzeugend. Beide wissen, welcher Schlag wie und wann gesetzt werden muss. RTJ4 klingt, als hätten El-P und Mike HipHop für die Apokalypse machen wollen. Und in einer apokalyptschen Phase schlug es ein. Man kann sich vorstellen, wie El-P die Beats zusammenbaute, während im TV Trump oder irgendein anderer Racist-Clown über den Bildschirm wütete. Songs wie der fantastische Closer „A Few Words for the Firing Squad“ sind mutig, sind ein echtes Statement, mehr als ein halbgares „Rassismus ist schon schlimm…“. Hier wird eine Wokeness vermittelt, die nicht bloße Pose ist. Dass manche Tracks Titel haben, die weisse Kids anfixen, ist ein schlauer Trick: “Goonies vs ET“ für Nerds und „Pulling the Pin“ für Call of Duty Fans, die auf einmal bemerken, dass sie und ihr bequemes Leben attackiert werden. RTJ4 MAG nicht den Punch von Run The Jewels 2 haben… manche Texte sind vage (remember… Killer Mike wusste nichts von den Umständen, in denen das Album veröffentlicht werden würde). Aber es war DAS Album für diesen Moment in der Geschichte der USA…. der ganzen Welt, die mal kurz keine Luft mehr bekam und sich dagegen wehrte…

Sault
Untitled (Black Is)

(Forever Living Originals, 2020)

Die Black Lives Matter-Bewegung, die Wut über den alltäglichen Rassismus – weltweit, echte Betroffenheit, als dieser Rassismus so sichtbar wird… 2020 ist ein Jahr, in dem allenthalben Statements gegen dieses Unrecht aufploppen. Dass diese Statements in den folgenden Jahren an Dringlichkeit verlieren, mag ja sein. Aber sie haben ein größeres Bewusstsein geschaffen. Und so gibt es im UK seit 2019 mit dem geheimnisvollen Projekt Sault eine Gruppe von Musikern, die (zunächst) bewusst ihre Eigennamen geheim halten, um die Aufmerksamkeit der Musikhörer ganz auf die Musik und ihre gegen Rassismus und Hass gerichtete Message zu lenken. Ganz nebenbei: Fällt da was auf? Hände…? Die zwei wenige Wochen nacheinander – kurz nach dem Mord an George Floyd – veröffentlichten Doppelalben von Sault sind auf ihre Art so aussagestark, wie RTJ4. Auf Black Is ist nicht die Wut im Vordergrund, sondern der Stolz der black community weltweit. Er wurzelt in Trauer, in Empörung, er ist auch ein Aufruf, Eigenverantwortung zu übernehmen… das komplette Doppelalbum ist eine Selbstversicherung und ein Aufruf, schwarze Kultur wertzuschätzen. Mit den besten Mitteln… Produzent Inflo aka Dean Wynton Josiah ist ein Meister. Der Mann kennt die Musik schwarzer Amerikaner/Europäer aus dem Effeff. Alben von Sault zitieren Soul, Gospel, R&B; Disco, HipHop, Jazz – und es entsteht homogene, „schwarze“ Musik. Bis 2021 blieben die Ausführenden hinter Sault unbekannt, traten auch nicht live auf. Man wusste, dass der britische Soul-König Michael Kiwanuka und die britische Rap-Queen Little Simz auf den Sault-Alben mithalfen. Wer sich beklagen will, kann darauf hinweisen, dass man aus Black Is und dem drei Monate später folgenden Rise EIN Album hätte machen können. Nicht alle Songs haben die Klasse von „Hard Life“, „Bow“ oder den sweet soul von „Monsters“. Aber ich halte beide Alben für notwendig. Der Flow von Black Is ist ein anderer, als der von Rise… und Musik dieser Art kann es nicht genug geben…

Sault
Untitled (Rise)

(Forever Living Originals, 2020)

Und so erschien am 18. September 2020 das etwas deutlichere, etwas lebensfrohere Sault-Album Rise (…die Titel sind nachträglich vergeben worden…). Natürlich wieder mit ungenanntem Personal, produziert von Inflo, diesmal ohne Gäste, dafür mit noch enzyklopädischerem Wissen um schwarze Musik… und natürlich mit klarer Botschaft. Die Musik auf Rise (…die Hand auf dem Cover allein..!) ist tanzbar, blues-nah, aussagestark. Songs heißen „Strong“, „Free“ aber auch „I Just Want to Dance“. Inflo ließ auch noch Disco und Afrobeat einfließen, schien eine positivere, weniger melancholische Stimmung erzeugen zu wollen. Nicht missverstehen – „I Just Want to Dance“ hat die Textzeilen: „I just wanna dance, dance, dance, dance Makes me feel alive, feel alive I get kind of mad, mad, mad, mad We lost another life, life, life, life“... da ist die Aussage eindeutig und die Tribal-Drums rufen nicht nur zum Tanz, sondern auch zum Kampf! Diplo setzte seine Musik genauso als Waffe gegen den Rassismus ein, wie El-P und Killer Mike. Und er hatte ein paar Sänger/innen an den Mikro’s die wussten, was gesagt und ausgelöst werden sollte: Inzwischen sind die Namen bekannt – ab 2023 gab es Konzerte: Cleo Sol (Diplo’s Frau), Kid Sister, Chronixx und der Indie-Musiker Jack Peñate waren Mitwirkende, aber spätestens mit Rise war klar – der Kopf von Sault war Diplo. Und dessen Skills als Produzent und seine Fähigkeit, unterhaltsame UND bedeutende Musik zu schaffen wurde mit Rise und Black Is überdeutlich. Dass diese beiden Alben (und die beiden 2019er Vorgänger 5 und 7) einer Zeit zugeordnet werden müssen, in der sie schon durch den gesellschaftlichen Aufruhr Sinn erhielten, kann ihre Klasse nicht mindern. So ist populäre Musik. So haben Dylan, The Clash etc… ihren kulturellen Wert erhalten. Rise und Black Is sind wichtig.

clipping.
Visions of Bodies Being Burned

(Sub Pop, 2020)

Dass das eine große Thema in der „schwarzen“ Musik 2020 der mit dem Fascho-Präsidenten Trump explodierte Rassismus in der US-Gesellschaft ist, ist an den wichtigen Alben dieser Tage deutlich zu erkennen (das andere Thema – die Pandemie – wird auch noch beleuchtet…). Das Trio clipping. hatte eine andere Art, mit den aktuellen Themen umzugehen, als Run the Jewels oder Sault. Der Grammy-Gewinner und Hamilton-Schauspieler Daveed Diggs und die Noise-Beatmaster Will Hutson und Jon Snips hatten mit dem 2019er Album There Existed an Addiction to Blood und mit Visions of Bodies Being Burned ein zusammenhängendes Werk geschaffen, das im Horror-Movie style die Apokalypse darstellt, die von Run the Jewels politisch abgehandelt wurde. RtJ sagten, was nötig war, um gegen das Unrecht vorzugehen. clipping. zeigten, was passiert, wenn Nichts geschieht. Man kann ihre Vision der Apokalypse durchaus eskapistisch nennen. Die beiden Alben von clipping. sind eine Fantasy-Horror-Story… die reale Ereignissen und Zuständen widerspiegelt. Irgendwie war es ja auch logisch, dass dieses Trio solche Alben machte. Ihr Geschäft war Horrorcore, war Industrial HipHop, war unheimlicher Noise. Visions of Bodies… und There Existed… sind als komplettes Werk zu hören (die acht LP-Seiten sind von A bis H durchnummeriert) und bilden eines DER HipHop-Statements der Dekadenwende – eben WEIL sie den Rassismus und den Zusammenbruch der US-Gesellschaft auf plakative Art darstellen – so, wie Amerikaner es verstehen – als Horror-Movie. Dass die beiden Alben dazu auch noch musikalisch von hoher Klasse sind, ist letzter Grund für ihre Position auf diesen Seiten. Diggs Rhymes sind im Grunde Old School, er wies auch immer wieder darauf hin, dass ihm nicht an „experimentellem HipHop“ gelegen war, seine Vorbilder kamen aus der Hightime des HipHop Anfang der 90er. Und die Samples und Industrial-Sounds sind schlicht notwendig. Klingen revolutionär – aber wenn man sie mit Three 6 Mafia’s Meisterwerk Mystic Stylez von 1995 vergleicht, sind sie „nur“ deren modernisierte und coolere Version. Dass Daveed gar über einen 7/8tel Rhytrthmus rappt, zeigt, wie gut er sein Geschäft versteht. Sogar ein völlig experimenteller Track wie „Eaten Alive“ funktioniert so und „Body for the Pile“ – eine Rache-Fantasie über den Tod dreier Police Officer – ist Harsh Noise mit virtuosem Rhyme Flow darüber. Und die Lyrics!! Einerseits gibt es haufenweise Bezüge zu Horror-Klassikern wie Scream („Wytchboard“), Candyman („Say the Name“) oder The Blair Witch Project („She Bad“), andererseits spiegeln die Texte den Rassismus und Hass in der US-Gesellschaft wieder. DAS muss man nur so erkennen wollen. Am Ende interpretieren sie eine Komposition von Yoko Ono: Einen Ton, der während der Morgendämmerung als Begleitung zur erwachenden Vogelwelt gespielt wird. Visions of Bodies Being Burned und There Existed an Addiction to Blood sind aufregende Neu-Interpretationen des Noise-Rap und des Horrorcore – und zugleich Kommentar zur Situation von „Black Lives“ in einer rassistischen Welt. Meisterwerke…

Charli XCX
How I’m Feeling Now

(Atlantic, 2020)

Und hier kommt die 1992 in Cambridge/UK geborene Charlotte Aitchison aka Charli XCX. Die ist meine 2020er Favoritin beim anderen großen Thema dieser Zeit: How I’m Feeling Now steht für Hyperpop, für Bubbelgum Bass… Musik, die die Entwicklungen in der elektronischen Musik der letzten 20 Jahre aufgenommen und „benutzt“ hat, um postmodernen Pop zu machen. Aber es reicht nicht, ein bisschen auf der Höhe der Zeit zu sein. Charli XCX hatte auch noch was zu sagen: How I’m Feeling Now entstand zu Beginn der Corona-Pandemie. In der Zeit der Vereinsamung ALLER – insbesondere aber der jungen Generation, der sie angehörte. Daher der beziehungsreiche und ernstgemeinte/ernstzunehmende Album-Titel. How I’m Feeling Now spiegelt die Phase wider, in der die panische Angst vor dem Virus Menschen in die Isolation trieb. Eine Isolation, die via digitaler Kommunikation nur schlecht zu überwinden war. Charli XCX war gerade auf dem Weg zum Pop-Stardom gewesen – plötzlich war sie auf sich zurückgeworfen… und auf den einzelnen Hörer. Damit auf so kluge Weise umzugehen, ist eine Leistung. Dass sie seit dem vorherigen tollen Album Charli aus 2019 als Songwriterin zugelegt hatte, wurde umso deutlicher, weil man ihr nun ZUHÖREN konnte und musste. Sie hatte das Album in sechs Wochen aufgenommen, hatte dafür via Zoom mit ihren Fans kommuniziert, nur die ihr zugänglichen Tools zur Aufnahmen verwandt – und legte Zeugnis darüber ab, dass man auch in den 00ern komplexe Alben manchen kann, deren Ausführung im Grunde spartanisch ist: „The nature of this album is going to be very indicative of the times just because I’m only going to be able to use the tools I have at my fingertips to create all music, artwork, videos everything“… Sie hatte – auch durch ihre Zusammenarbeit mit SOPHIE – den Umgang mit diesen Tools gelernt. Ihre Musik war erwachsen geworden. How I’m Feeling Now schafft es, Intim und robotic-glitchy zugleich zu sein, ist eine Emo-PC Music. Natürlich ist das Thema die Angst vor der Isolation, der Appetit nach Konversation und Interaktion. Und jeder, der die erste Phase der Corona-Pandemie erlebt hat, kann Songs wie „Anthems“ komplett nachfühlen: „I’m so bored, woo, Wake up late and eat some cereal, Try my best to be physical, Lose myself in a TV show…“ Und damit ist es ja nicht getan. Dass die Themen der Songs alle Aspekte der Sehnsucht nach Kommunikation beleuchten… auch das macht es nicht aus. Dazu kommt diese regelrecht gewagte Kombination aus PC-Sounds und sehnsüchtiger (wenn auch oft bis ins unkenntliche verzerrter) Stimme. Das ist virtuos und einzigartig. Es ist spannend, zu verfolgen, wie sich die Sicht auf How I’m Feeling Now ändern wird. Aber ich denke, es wird eines der schönsten, sentimentalsten Alben aller Zeiten bleiben.

Fiona Apple
Fetch the Bolt Cutters

(Epic, 2020)

Was wohl wäre, wenn eine Künstlerin wie Fiona Apple nicht als ganz junge Frau in den 90ern gezwungen worden wäre, ihre Kreativität zu beschneiden? Damals verstummte sie, bis ihre Fans die Plattenfirma förmlich ZWANGEN, ihre Musik zu veröffentlichen. Seither veröffentlicht sie nur noch sporadisch Musik. Ich vermute allerdings, dass sie auch mit einer künstler-orientierten Plattenfirma so kompromisslos sein würde, wie man auf Fetch the Bolt Cutters hört. Dass dieses Album ein geniales und sehr eigenwilliges Stück Musik ist, ist offenbar. Natürlich sind die Pfunde, mit denen Apple wuchern konnte, immer noch da: Ihre mühelos-ausdrucksstarke tiefe Stimme. Ihr virtuoses Klavierspiel. Ihr intelligentes Songwriting und – hier vor Allem – Worte, die Waffen sind. Fiona Apple sah inzwischen wohl nicht mehr ein, irgendein Experiment, irgendeinen Twist und irgendeinen Spott NICHT in ihre Songs einzubauen. Das war auch auf Alben wie Tidal oder Extraordinary Machine immer dabei, aber ihre Songs waren damals weicher gebettet. Dieses Album nun nahm sie in ihrem Haus auf, schlug auf alles ein, was sich als Percussion nutzen ließ, ließ ihre fünf Hunde mitmachen, schoss Worte wie Pfeile ab. Voller Wut und voller Witz. Fetch the Bolt Cutters ist das Album einer Künstlerin, die ihre maximale kreative Freiheit genießt… und auch nutzt. Dass dann ein Track wie „Relay“ komplett auf Tribalistischen Drums, Bass und Gesang basiert – der mal nach Stammesgesang, mal nach Esoterik klingt – ist dann im wahrsten Sinne des Wortes gewagt. Das folgende „Rack of His“ ist ein bisschen näher an der (Pop)musik, die sie mal gemacht hatte. Aber Fetch the Bolt Cutters ist ein anderes Ding als die ersten drei Fiona Apple-Alben. Ihre Texte und ihr Gesang waren nun herausfordernd, ausgereift, aggressiv. Die Songs basieren auf Rhythmus, das Klavier wird selten eingesetzt, die Lyrics brüllt sie fast heraus. Aber sie gab uns dann auch immer wieder die Möglichkeit, durchzuatmen. Siehe „schöne“ Songs wie den Titeltrack, „Ladies“ oder „I Want You to Love Me“. Schon der Vorgänger The Idler Wheel… war experimentell gewesen, aber die Experimente waren jetzt ausgereift. Nun – das ist der Weg einer Künstlerin, und wir dürfen dabei zuhören. Man konnte gespannt sein, was danach käme – und sich solange an Song-Kunstwerken wie „Shameika“ oder „Cosmonauts“ delektieren.

Laura Marling
Song for Our Daughter

(Partisan Rec., 2020)

Die Joni Mitchell der Generation Avocado. Ist das gemein? Irgendwie nicht. Laura Marling hat sich von Beginn ihrer Album-Karriere an keine Ausfälle erlaubt, sie hat ihre Entwicklung selbstbestimmt und selbstbewusst vorangetrieben, sie hat ihren Stil nie dem Kommerz untergeordnet und sie ist so eigenständig, dass man das fast ein bisschen ZU selbstverständlich findet in einer Zeit, in der es so viele weibliche Musiker mit Stilbewusstsein gibt. Natürlich erfand sie den Folk, das Singer/Songwriter-Handwerk nicht neu. Sie hatte (wie alle anderen) mehr als 50 Jahre Pop-Geschichte im Rücken. Aber in diesem Rahmen war ihre Musik immer noch überraschend, dafür ist Song for Our Daughter erstaunlich frisch – und nur ein bisschen ZU schön. Es ist höchst privat und zugleich allgemeingültig – was den Vergleich mit Joni Mitchell so treffend macht. Sie IST Dylan- und Mitchell-Fan – und sie macht seit 2008 Musik unter eigenem Namen, hat 2018 mit Mike Lindsay von Tunng als LUMP ein feines Album veröffentlicht und schrieb nun Songs, die an ihr ungeborenes Kind gerichtet waren. Und Ja – es ist fast nervig, wie geschmackvoll sie bleibt. Marling ist wie eine dieser Mitschülerinnen, die cool sind und auch noch gute Noten schreiben. Der Opener des Albums „Alexandra“ bezieht sich auf Leonard Cohen’s „Alexandra Leaving“. Klar, dass sie Cohen’s Songs auch zu schätzen wusste und (…auch das noch) seine Haltung gegenüber Frauen mit den richtigen Worten zu beschreiben wusste („…He writes about women in such a beautiful way. It doesn’t aggravate me that he lived the way he wanted to live….“). Songs For Our Daughter hat zehn wunderbar geschrieben Songs – die ersten drei Tracks sind Up-beat, haben kluge Texte und sind toll gesungen. Marling’s Stimme mag keinen emotionalen Sturm entfachen… aber das wäre auch unangebracht. Dafür sind die restlichen sieben Tracks eher düster – tiefgründig sind sie alle. Dass Marling eine ausgezeichnete Gitarristin ist…? Klar, oder? Ich suche nach etwas Negativem – aber da ist Nichts. Songs for Our Daughter ist toll. Es erschien ganz zu Anfang der Pandemie und war mit seiner Ruhe vielen Menschen vermutlich ein Trost. Es klingt wie ein Klassiker das Folk… es IST ein Klassiker des Folk, der auch noch so modern ist, dass er keine Imitation sein kann. In die verborgenen Tiefen muss man sich ‚reinhören… die fallen eben nicht so auf, wie all die gewagten Experimente anderer Künstler.

Bob Dylan
Rough and Rowdy Ways

(Columbia, 2020)

Für die Freunde des alten, guten, Bewährten (oder auch Überholten…) ist 2020 zumindest interessant. Da kommen diverse Neil Young Alben zum Vorschein, und der 70+ Oldie Bruce Springsteen macht ein wirklich schönes Album. Und ein weiteres Mal schlägt der inzwischen schon 79-jährige Bob Dylan den Rest der Opa-Fraktion. Da kam auf einmal – nach etlichen Jahren voller unerträglicher Lesungen des „American Songbook“ eine viertelstündige Single mit dem Titel „Murder Most Foul“ – scheinbar über den Mord an JFK, tatsächlich aber als Kommentar zur katastrophalen gesellschaftlichen Situation in den USA interpretier- und lesbar. Allein diese Viertelstunde war jede Beachtung wert. Dass Dylan zwei bis drei Bedeutungsebenen in den Song und seinen Text einbaute, zeigte, dass er immer noch ein Meister seiner Kunst war. Einer, der zu Recht von jungen Musikern wie Laura Marling bewundert wurde. Man muss die etwas „gemütliche“ Umsetzung vieler Songs verzeihen. Dylan hatte sich in den letzten 20 Jahren (!) ein Bett gebaut, in dem er mitunter ZU bequem lag… und die Moden hatten vieles überholt. Da sollte man einfach froh sein, dass er sich nicht in elektronischen Spielereien versuchte. (…die Vorstellung allein…). Und auch 2020 war ein guter Song ein guter Song. Und Dylan hatte nicht nur diesen einen bildgewaltigen Text, sondern weitere feine Songs wie „I Contain Multitudes“ oder „My Own Version of You“. Er feierte sein Alter, genoß offenbar, dass er auf all das zurückblicken kann, was er hier zitierte… („…I’m just like Anne Frank, like Indiana Jones And them British bad boys, The Rolling Stones…“). Aber er hatte auch immer noch einen wachen Blick auf das, was aktuell geschah. Das spiegelte er durch Erfahrungen aus der Vergangenheit. Wer sollte ihm das vorwerfen. Fans haben Rough and Rowdy Ways in den Himmel gehoben. Leute, die ihn auch kritisch betrachten (wie ich…) mussten anerkennen, dass er mit 79 ein sehr gutes Album mit klugen Texten und feinen Songs gemacht hatte, das stilecht musiziert war. Und Mythen-Killer und Dylan-Hater sollen Rough and Rowdy Ways meinetwegen hassen. Hier ist immer auch Platz für ein Album für alte Leute.

The Microphones
Microphones in 2020

(P.W. Elverum & Sun, 2020)

Interessant zu beobachten, in welchem Maße Phil Elverum’s Musik in den Jahren seit 1999 – spätestens seit seinem überbordenden 2001er Meisterwerk The Glow Pt. 2 – gewachsen ist. Der Mann hat eine ungemeine ideenreiche und individualistische Art, an Musik heranzugehen. Seine Alben klangen immer so, als wäre Musik das Einzige, mit dem er sein Leben verarbeiten kann. Dass dabei herzzerreißende und sehr „intime“ Einblicke zustande kamen, machte es teils schwer, ihm zuzuhören. Lies nur im 2017er Hauptartikel über das Mount Eerie-Album A Crow Looked at Me, auf dem er den Tod seiner Frau und seinen fatalen emotionalen Zustand offenlegte… Immer waren seine Alben Konzepte in Ton und Text. Und 2020 kam ein weiteres unglaubliches „Werk“ über die Hörer: Microphones in 2020 ist EIN 44-minütiger, durchgehender Song, in dem Elverum die Ereignisse beschreibt, die ihn zu seiner Musik, zu dem Zustand, in dem er sich befindet, zu seinem Leben geführt haben. Dass auch das nur Facetten eines Lebens sind, erkennt jeder, der kurz nachdenkt… und nachdenken wird man, wenn man diesen Song verstanden hat. Er hat die Kunst des stream of consciousness zur Perfektion gebracht. Der „Song“ besteht aus zwei Akkorden auf einer fast durchgehend geschrubbten Akustik-Gitarre. Darüber erzähl-singt Elverum mit müder Stimme, unterbricht sich kapitelweise, lässt immer wieder eine E-Gitarre rückkoppeln, Drums setzen ein, setzen aus, mal singt er mit sich im Chor… und Alles ist schlüssig. Und die Geschichte, die er erzählt ist mitreissend, spannend, hypnotisch, witzig, traurig, philosophisch… sie ist alles, was das Leben mit dem Projekt Microphones ausgemacht hat und was zu dieser Musik geführt hat. Da singt er „I will never stop singing this song. It goes on forever. I started when I was a kid and I still want to hold it lightly…“ …und das ist nur eine kleine Facette dieses Albums. Ich frage mich natürlich, ob meine Faszination daher rührt, dass ich zu wissen meine, wer Phil Elverum ist. Ich habe das Gefühl, sein Leben miterlebt zu haben. Ich weiss immerhin, was für Musik er gemacht hat – und hatte deshalb kein Problem damit, dass er das Album mit 5 Minuten reinem Guitar-Strumming begann. ICH denke, Microphones in 2020 ist eines der schönsten Alben dieser Tage… und mir kann niemand widersprechen, weil man diesen Musiker kennen muss, um die Schönheit seiner Musik zu erkennen.

The Strokes
The New Abnormal

(RCA, 2020)

…jetzt mal ein bisschen Post-Punk-Revival… Das Zeug, das jahrzehntelang populäre Musik interessant gemacht hat. Wieviel Häme ist über The Strokes ausgeschüttet worden!!? Die waren 2001 eine Saison lang DER Hype. Junge, lässige, reiche Söhnchen, die irgendwie auf dekadente Weise den spirit of New York hatten aufleben lassen, sich in eine Reihe mit Ikonen wie The Velvet Underground oder Talking Heads oder Ramones stellen ließen… und postwendend dafür verachtet wurden. Zu Unrecht, weil ihre Alben No. 2 (Room on Fire) und 3 (First Impressions of Earth) keinen Ton schlechter waren. Aber ein Hype muss anscheinend zuende gehasst werden. Nun – 2020 war offenbar genug Zeit vergangen, um ihr sechstes Album wieder als das erkennen, was es wirklich ist: The New Abnormal ist formidabler, begeisterter, intelligenter, effektiver Indie Rock, der New Wave und Punk und Plüsch kennt. Hier gibt es (auch und wieder) diese schlichten, halb-sehnsüchtigen Songs, die von einer Stimme gesungen werden, der man Dekadenz und Selbst-Abscheu anzuhören meint. Julian Casablancas hat nicht nur einen Namen, der nach Stardom klingt… Und diese schlanken Songs, die seltsam süß daherkommen, die auf’s Grundgerüst Gitarre/Bass/Drums reduziert sind, die aber dennoch ein bisschen dekadent klingen. Dass sie sich nun von Rauschebart Rick Rubin produzieren ließen, dessen Spezialität es offenbar ist, abgehalfterten Stars wieder in den Sattel zu helfen, war eine tolle Idee. Der wusste, was man auf einem guten Strokes-Album hören wollte. Ob ER an den tollen Songs schuld war, weiss ich nicht. Aber „The Adult Are Talking“ und „Ode to the Mets“ sind fast so ikonisch wie dereinst „New York City Cops“. Bei „Eternal Summer“ klingen sie sogar ein bisschen so psychedelisch wie Pink Floyd. In GUT!! Und einen Song „Why Are Sundays So Depressing“ zu nennen… Cool. Sie hatten Zeit gehabt, sich zu überlegen, wie The Strokes weitergehen sollen und ihren NY Post-Punk sogar ein bisschen modernisiert. Na ja, Casablancas, Hammond & Co waren inzwischen über 40 und die Wellen des Hypes und des Hasses waren über sie hinweggefegt. Wer das durchsteht, IST cool. Das beste Post Punk Album 2020…

Ornassi Pazuzu
Mestarin kynsi

(Nuclear Blast, 2020)

Ich will 2020 drei Acts hervorheben, die sich im inzwischen doch sehr weiten Feld des „Metal“ (?) bewegen: Da sind zunächst die Finnen Oranssi Pazuzu (= Orangener babylonischer Dämon des Windes…) mit ihrem fünften Album Mestarin Kynsi (= Klaue des Meisters). Und – natürlich – ist das, was diese Band macht sehr weit von „normalem“ Metal entfernt. Sowas wie Iron Maiden oder Metallica wird man in dieser Zeit nicht finden. Acts wie Oranssi Pazuzu loten extremere Bereiche aus. Diese Finnen hatten sich seit 12 Jahren/auf vier Alben mit einer Mischung aus Black Metal, Psychedelic/Space Rock und Avantgarde einen einzigartigen Sound erarbeitet. Dass ihr Sänger Jun-His seine Texte dazu in Finnisch herausbrüllte – konsequent seine Muttersprache verwandte, weil er die komplexen Aussagen anders nicht verdeutlichen konnte, war ein weiterer – im Black Metal nicht unüblicher – Twist ihres eigenartigen Stil’s. Dass die Bandmitglieder sich in ihrer Schulzeit von experimentellen Rock Acts wie Circle beeinflussen ließen, erklärt sicher einiges. Auch wenn die Presse sie zunächst in eine Reihe mit Mayhem und Darkthrone stellte… die waren von Anfang an anders. Mestarin Kynsi wurde vom Shoegaze und Indie-Spezialisten Julius Mauranen produziert… du siehst – hier kannst du nicht your average Metal erwarten… Und wenn Sänger Jun-His seine Ork-Stimme beim Opener „Ilmestys“ erhebt, während ominöse Sounds zu einer schicksalshaften Melodie ertönen, dann werden sich Mutlose abwenden. Dann setzt irgendwann die Band ein, dann wird die austeigende Moll-Tonfolge mit erschreckender Wucht über dich herfallen… und die Frage, WAS das jetzt eigentlich für Musik ist, wird obsolet. Den Songs von Oranssi Pazuzu wohnt eine finstere Schönheit inne (die in interessantem Metal gerne vorkommt, ist diese Musik doch oft eher in den dunklen Gefilden unterwegs). Man kann es auch so ausdrücken: Jun-His, Ontto, Ikon, Evill und Korjak sind fähige Musiker, die sowohl Atmosphäre als auch Melodie und Dynamik galore erzeugen können. Mit Mestarin Kynsi entfernten sie sich noch einmal weiter von allen Metal-Klischees , eine solche Mischung aus dunklem Space-Rock, Krautrock-Teilen und psychedelischem Black Metal gab es 2020 nirgendwo sonst zu holen. Es ist ein Flug Richtung Schwarzes Loch in der Seele. „Uusi Teknokratia“ mag mit seinen Pink Floyd-goes-Doom-Sounds herausstechen. Aber das nur als Teaser

Paysage d’Hiver
Im Wald

(Kunsthall, 2020)

Hier also der zweite Act: Und mir scheint, ein letztes Wort in Sachen Black Metal wäre mit den beiden „Alben“ von Paysage D’Hiver gesagt… Diese Musik-Gattung ist schließlich schon über 30 Jahre alt und (…man könnte meinen, wenn man nicht hinschaut…) viel hat sich doch nicht verändert..? So könnten das 4-LP Werk Im Wald und die Compilation Schnee des Schweizers Paysage D’Hiver aka Tobias „Wintherr“ Möckl als eine Art Zusammenfassung all dessen gelten, was Black Metal zu bieten hat. Der „Kenner“ allerdings (und so einer bin ich schon irgendwie) weiss natürlich, dass Paysage D’Hiver auf seine Art die nur schwarz-weisse Facette „Atmospheric BM“ ausleuchtet. Dass er nicht ganz so depressiv ist, wie Shining, auch nicht chaotisch wie Deathspell Omega, nicht melodisch wie Dissection – er füllt die BM-Urform a la Burzum seit Jahren immer wieder auf interessante Art neu aus. Und mit dem 2-stündigen 4 LP-Werk Im Wald kam er dem, was man „Erfolg“ nennen könnte sogar irgendwie nah. Mit dieser Musik würde niemand einen Grammy gewinnen – aber der Buzz, den diese enorme Box in der Presse erzeugte, war hörbar. Dabei folgte Möckl nur einem Plan und klaren ästhetischen Prinzipien. Er hat seine hermetische Musik immer der Beschreibung physischer und psychischer Naturgewalten untergeordnet. Die Mittel: Tremolo Picking, Blast Beats, unheimliche Keyboard-Sounds, im Mix versunkene, gekreischte Texte, Lo-Fi Sound und Field Recordings. Dazu hier Schritte, die nicht aufhören wollen, und unendliche Wiederholung in ewig-langen Tracks. Aber ich will Im Wald nicht analysieren, sondern in diesem düster träumenden Winterwald zwischen Eis und toten Bäumen dahinschreiten. Ich lese die Geschichte von Jemandem, der angesichts der gewaltigen Natur die Nutzlosigkeit aller menschlichen Existenz erkennt und sich in der Unendlichkeit auflöst. Es ist beeindruckend, wie schnell und mit welcher andauernden Wucht Möckl mit den paar gewählten Mitteln eine zugleich beängstigende wie fatale Atmosphäre erzeugt. Natürlich ist der Black Metal von Im Wald aggressiv. Aber er klingt hier nicht so teuflisch, wie auf manchen anderen Paysage D’Hiver-Alben (…die ich sehr empfehlen kann…). Im Wald ist eisige, wunderschöne Katharsis.

Paysage D’Hiver
Schnee

(Kunsthall, Rec. 2002-2017, Rel., 2020)

Und um sich davon zu überzeugen, dass Paysage D’Hiver auch anders konnte, durfte man (zunächst nur als CD, ab 2024 als Doppel-LP) die Zusammenstellung der seit 2002 entstandenen Tracks zum Album Schnee erwerben. Nun ist es sicher so, dass Nicht-Initiierte auch diese vier Tracks, die Möckl hier und dort als Beiträge zu anderen Projekten geschaffen hatte, nicht von Im Wald unterscheiden werden. Es IST Black Metal. Pur und Schrecklich und gewaltig und eisig und wunderschön… Und ich empfehle zum wiederholten Male: Öffnet dieser Ästhetik eure Ohren, hört die Kraft dieser Musik. Und ein komplettes (dunkles) Universum liegt vor euch. „Schnee I“ von 2002 (?) ist aggressiv, man erkennt Paysage D’Hiver nicht wieder. Dazu klingt Möckl’s Stimme fast mönchshaft unter dem Wall aus Gitarre und erstaunlich variablen Drum-Patterns. Riffs durchziehen den 18-minütigen Track, machen ihn sehr abwechslungsreich… sowieso eine der Stärken der Paysage D’Hiver-Alben. Bei aller Beschränkung und aller Lo-Fi Ästhetik ist die Musik dieses Projektes nie eintönig. Was irgendwie inkonsequent scheint, denn Hypnose durch Wiederholung ist doch oft ein probates Mittel. Bei „Schnee II“ versucht man sich vergebens durch einen Schneesturm zu schlagen, erfriert regelrecht, „Schnee III“ ist noch schmerzhafter, „Schnee IV“ von 2017 ist näher am Atmospheric Black Metal von Im Wald. Dass Schnee tatsächlich als „Album“ funktioniert, obwohl 15 Jahre zwischen den einzelnen Tracks liegen, wird an der Thematik liegen (offenbar…) – es zeigt aber auch, wie konsequent Möckl in diesem ästhetischen System arbeitet. Man muss sich vor Augen halten, dass er mit einer billigen japanischen Gitarre, alten Speakern, Drums und einem Computer diese doch irgendwie „organische“ Musik zusammenbaut. Immer mit allen Sinnen auf die (schweizerische) Ur-Natur und ihre physische Unbarmherzigkeit und ihre psychologische Tiefe gerichtet. Dies ist sehr kluge Musik.

Neptunian Maximalism
Éons

(I, Voidhanger, 2020)

Anscheinend ist das überdimensionale Format mein Ding der Stunde, oder ist es so, dass ich mich gerade am Gigantismus begeistere? Wegen eines nicht wahrgenommenen Mangels an Bedeutung? Nein – Ich denke, in 10 Jahren ist die Bedeutung von Éons vom Brüsseler Kollektiv Neptunian Maximalism immer noch so hoch, wie ich sie jetzt sehe. Jedenfalls steht dieses über 2-stündige Album an der Stelle, an der ich sonst gerne den jährlichen „Besten Jazz“ (whatever…) präsentiere. Und sicher sind die Musiker um Guillaume Cazalet und den Saxophonisten Jean-Jacques Duerinckx jazz-informiert. Aber sie kennen auch Death und Drone und Prog-Metal – was sie mit Acts wie Kayo Dot gemeinsam haben. EINE Beschreibung, die ich über sie las lautet: „…almost as if Sunn O))) had a chance to collaborate with the great John Coltrane…“ Das macht klar, dass Éons in gewissem Sinne das Gegenteil von Im Wald ist. Hier taten sich vier Virtuosen zusammen, um etwas gargantueskes zu machen. Neben Duerinckx und Cazalet noch die beiden Drummer Pierre Arese und Sébastien Schmit – deren Namen nicht nur der Vollständigkeit halber genannt sind. Was hier an diversen Percussion entfacht wird, ist beeindruckend. Das ganze Album ist beeindruckend. Das Saxophon von Duerinckx trötet urweltlich, oder es explodiert in FreeJazz-Territorien. Dazu donnert gerne Cazelet’s Bass oder die Gitarre rück-koppelt. Und diese Stammes-Trommeln..! Darunter liegt oft ein Drone, mitunter erheben sich wortlose Stimmen, als würde in einer urweltlichen Sprache kommuniziert. Das Konzept des drei-geteilten Albums ist verwegen: Es geht um das Ende des Zeitalters der Menschen, um die Apokalypse (natürlich…) und um den Beginn des „Probozän“ – des Zeitalters der intelligenten Elefanten (!). Um den Zusammenbruch unserer Zivilisation, der natürlich nicht friedlich vonstatten gehen wird. Ich lese immer wieder irgendwo Verweise auf Acts wie SunnO))), Earth, Swans, Popol Vuh, Motorpsyche, Bong… was ich aber bemerken will: Die Einflüsse fügen sich auf Éons zu einem völlig logischen und selbstständigen Elefanten zusammen. Die dualen Drum-Attacken, das lose Saxophon (…oft der Star hier), dieser fantastische Bass, der durchgehende Drone… Man mag einzig beklagen, dass in diese Apokalypse kein Licht fällt… ausser dem der Brände unserer Zivilisation. Éons ist anstrengend. Aber ist das bei wirklich guter Musik nicht meist der Fall? Und mehr Worte will ich dazu nicht sagen. Anhören!

Mentioning the Honourable…

Jaja, es gibt natürlich etliche Alben, die statt xxx hier stehen könnten. So ist Jessie Ware’s What’s Your Pleasure? abslout famos. Aber ihre tanzbare Musik wurde von anderen ausgewählten Alben verdrängt. Schade. Da ist Ichiko Aoba, dessen Folk-Meisterwerk Adan No Kaze japanisch und wunderschön ist… aber in Deutschland wegen schlechten Vertriebes quasi unavailable ist. Nur deswegen beschreibe ich es nicht hier. Hört es, wenn ihr es findet. Ein FUCKING Jammer ist es, dass das HipHop-Meisterwerk Brass von Moor Mother & billy woods wieder nur gestreamt werden kann. Die physischen Tonträger sind so limitiert wie sibirische Tiger – und das ist ein so großes Ärgernis, dass ich hier über die tolle Musik nicht berichten will. Sowieso – HipHop: Genauso toll und genauso nur für viel zu viel Geld zu bekommen ist Armand Hammer’s Shrines. Immerhin gibt es Freddie Gibbs & The Alchemist’s Album Alfredo zu normalen Bedingungen. Hört es… Ich empfehle Ulcerate’s enromen chaotischen Death Metal auf Stare Into Death and Be Still, aber auch den Alternative Metal auf Ohms von den alten Deftones, Shoegaze auf Inlet von den reformierten Veteranen Hum, puren Post-Punk wieder von Protomartyr. Und es gibt auch noch weitere tolle Singer/Songwriterinnen wie etwa Phoebe Bridgers und ihr feines Album Punisher. Undsoweiter undsoweiter… Etliche sehr gute Alben die vielleicht auch hier hin gepasst hätten Es ist eine subjektive Auswahl. Über all die genannten Alben will ich gerne an anderer Stelle schreiben. Und darauf hinweisen, dass da Nichts schlechter ist, als die hier beschriebene Auswahl.