1987 – Dinosaur Jr. bis Opal – Gimme more Indie Rock, das SST-Label und wo ist die Credibility?

Einen Abriss der Geschichte des SST-Labels habe ich schon im Artikel 1983 – Black Flag und SST Records bis Cramps – Die Schaumkrone der US Hardcore Welle hinterlassen – dass dieses Label eine Institution des amerikanischen Underground war… auch 1987 noch… ein Label auf dem in dieser Zeit noch immer verlässlich spannende Musik veröffentlicht wurde – mag man schon allein an der Tatsache ermessen, dass ich im „Hauptartikel 1987 Sister von Sonic Youth untergebracht habe.

Und You’re Living All Over Me von Dinosaur Jr. hätte da ebenso gut hin gepasst. Du erkennst die Bedeutung von SST für den alternativen Rock auf diesen Seiten auch daran, dass es ein Schwester-Kapitel für das Jahr 1986 gibt. Hier nun 15 Acts, die SST ’87 veröffentlichte, die mit ihren Alben Das repräsentieren, was Ende der 80er den US-Underground ausmacht. Es sei gesagt – es GIBT (k)einen typischen SST-Sound, aber es gibt bestimmte Merkmale, die viele Alben in diesem Kapitel gemeinsam haben. Gitarren sind oft virtuos, aber nicht selbstverliebt, die Rhythmik ist oft vertrackt, die Musik im Punk verwurzelt, aber dazu gerne jazz-artig komplex und/oder metal-affin. Die Label-Bosse Greg Ginn und Chuck Dukowski hatten inzwischen das Problem, dass ihnen zu viele Bands die Türen einrannten. Die Anzahl an Veröffentlichungen zwischen ’85 und ’88 ist gewaltig – hier sind nur die wichtigsten für dieses eine Jahr beschrieben. NOCH wurde SST kein Ausverkauf angelastet, noch sagte niemand „Corporate SST Still Sucks Rock“. Dass ihre Veröffentlichungs-Politik und Philosophie fruchtete, bewiesen andere Labels, die sich in ihrer Haltung an SST orientierten. So gibt es ein anderes ’87er Kapitel mit Alben, die vielleicht auch auf SST hätten veröfffentlicht werden können. Hüsker Dü hatten sogar bis zum letzten Album auf SST veröffentlicht, Sonic Youth verließen das Label gerade… Mit Negativland hatten SST bald einen Problemfall im Rooster, der das Label wegen Urheberrechts-Streitigkeiten mit der Band U2 fast in den Ruin trieb. Vielleicht wegen ihres Erfolges, vielleicht auch, weil Ginn zu viele Alben herausbringen ließ, verlor SST ab Ende der Achtziger unter Fans langsam seine Credibility. Dem Label wurde etwas dümmlich „Verrat am Indie-Gedanken“ vorgeworfen und bald hieß es von Seiten selbsternannter Moral-Apostel: „Kauft nicht bei SST!!!“ Weil dann auch noch der Vertreiber der Platten Pleite ging, stellte SST in den Neunzigern fast den Betrieb ein – nur noch Greg Ginn’s Projekte behielten das SST-Banner – aber letztlich ist dieses Label mit all seinen Künstlern – auch mit den obskuren – ein Quell guter Musik. Etliche Platten von SST sind Klassiker und die DIY-Haltung war glaubwürdig. SST blähte sich nur im Zuge des beginnenden Indie-Hypes auf… und platzte. Ich sage: Danke SST.

Sonic Youth – Sister
(SST, 1987)

Der von mir gewählte Kandidat für das beste Album des Jahres 1987 aus dem SST Rooster ist zu Recht Sister von Sonic Youth. Ein Album das übrigens im Verbund mit seinem Schwester-Album EVOL von ’86 gehört werden MUSS… Aber da wäre mit derselben Bedeutung…

Dinosaur Jr.
You’re Living All Over Me

(SST, 1987)

Als ich Dinosaur Jr. entdeckte, waren sie die perfekte Mischung aus zwei bisher scheinbar disparaten Musikrichtungen – ja grundsätzlichen Haltungen zu Musik. Einerseits Punk, andererseits Gitarrensoii wie bei Neil Young, einerseits die schmutzige Härte der Stooges, andererseits die Melodieseligkeit der Beatles. 1984 gegründet hatte das Trio aus J Mascis (g, voc), Lou Barlow (b, voc) und Murph (dr) schon ein Album mit etwas wilderem Stilmix unter dem Namen Dinosaur veröffentlicht. Für You’re Living All Over Me ging das Trio nach New York um mit dem Sonic Youth Produzenten ein Album aufzunehmen, das komplett nach den Vorstellungen des Girtarristen und Sängers J Mascis ausgeführt wurde. Der zwang Drummer Murph, exakt nach seinen eigenen Vorgaben zu spielen – zu dessen verständlicher Verärgerung. Bassist Lou Barlow durfte immerhin noch zwei Songs beisteuern, aber der Streit zwischen den Dreien war jetzt schon virulent. Das Album wird unter seinem – wirklich tollen – Gitarrensound regelrecht begraben, dazu singt Diktator J Mascis mit hoher, wimmernder und immer leicht benebelter Stimme, und die extrem kraftvollen Songs haben seltsam verdreht anmutende poppige Melodielinien. Die seltsame Mischung aus Härte und Pop wurde gerade in diesen Jahren von diversen anderen Bands aufgegriffen, (Nirvana oder die Pixies – siehe auch in diesem Kapitel…) aber wie Dinosaur Jr. klang niemand – weil niemand so klingt wie J Mascis – außer Neil Young vielleicht, aber der machte seine eigenen Sachen und der hat seine Wurzeln nicht im Hardcore. Das Album wurde immerhin so erfolgreich, dass eine gleichnamige Supergroup aus Ex San Francisco Hippies (Grateful Dead, Hot Tuna etc.) das Trio zwang, sich umzubenennen. Gute Idee, angesichts des Alters der blöden Hippies dann das „Junior“ dranzuhängen.

Meat Puppets
Mirage

(SST, 1987)

Die Meat Puppets sind einer der legendärsten und langlebigsten SST-Acts. Und eine Band, deren Verbindung von Hardcore und Country sie untypisch für ein Label scheinen lässt, das in der und für die Hardcore-Punk-Szene entstanden war. Ihr ’84er Album Meat Puppets II ist ein cornerstone der Populärmusik der 80er. Ein Album, das diese traurige Zeit besser gemacht hat (und daher im entsprechenden Hauptartikel beschrieben ist…). Danach kam das gleichwertige Up on the Sun, dann ’86 eine großartige EP (Out My Way) und 1987 wurden gleich zwei Alben veröffentlicht. Die Meat Puppets waren nicht stehegeblieben. Offenbar hatten die beiden Kirkwood-Brüder King Crimson gehört und instrumental war Curt Robert Fripp durchaus ebenbürtig. Das hatte er schon zuvor bewiesen. Auf Mirage gibt es Passagen, die 1:1 von KC’s Discipline stammen könnten. Die perlenden Gitarren von „Beauty“ sind bestes Beispiel dafür. Aber Curt Kirkwood’s Saitenspielereien auf Mirage sind grundsätzlich erstaunlich. Man mag beklagen, dass manche Songs fast ZU nett sind. Da war offenbar viel Material, das raus musste. Sie umarmten Psychedelia – und das führte manchmal zu unkonzentriertem Songwriting. Interessanterweis kann man diese Art Psychedelic inzwischen besser hören. Es gibt Bands wie Tame Impala, die 30 Jahre später all das machen, was 1987 von einigen Fans nicht verstanden wurde. Die Opener der beiden LP-Seiten – „Mirage“ und „Leaves“ aber sind so eigen- und einzigartig, dass man sie zeitos nennen kann. Und der Rest des Albums wächst mit mehreren Spins.

Meat Puppets
Huevos

(SST, 1987)

Das im Oktober ’87 folgende Album Huevos war eine andere Sache: Die Meat Puppets hatten offenbar beschlossen, nicht mehr nur komplexen, psychedelischen Country-Hardcore Punk zu machen, sondern texanischen Boogie-Blueser ZZ Top zu beerben (die waren ’87 noch nicht komplett im Mainstream angekommen). Das mochte man freilich auch wieder beklagen. Dass da scheinbar nicht genug eigener Charakter war, dem sie ihre Musik unterordnen wollten… Oder die Kirkwood’s und ihr Drummer Derrick Bostrom fanden, dass sie auch solche Bands unter ihren Rock holen konnten. Letzteres ist hier IMO der Fall. Beim Gesang wird es manchmal ein bisschen peinlich – keiner der Brüder hat eine „Blues“ Stimme. Aber ihr Blues ist ja auch gebrochen – ironisch nehme ich fast an. Es ist immer noch Country, Psychedelic und Punk in den Songs. Und immer noch ist der Rhythmus ungebührlich flink und es ist erstaunlich, wie Curt Kirkwood’s Gitarrenläufe im Hintergrund perlen – Bill Gibbons von ZZ Top konnte (oder wollte) das nie. Beim Opener „Paradise“ und bei „Bad Love“ spielt Curt Kirkwood jedenfalls ein regelrechtes Blues-Solo und manche Tracks sind Indie-Boogie-Rock. Seltsam, aber wenn man sich dran gewöhnt hat… Huevos wurde ’87 nicht mit allzu großer Begeisterung aufgenommen. Die Fans des SST-Sounds mussten sich erst mal daran gewöhnen, dass eine Band aus diesem Umfeld Einflüsse aus Corporate Rock und Blues in ihre Musik aufnahmen. Dabei hatten die Meat Puppets doch von Beginn an keine Berührungsängste mit hardcore-fernen Musikgattungen gehabt. Die probierten aus. Dass sie in den kommenden Jahren „normaler“ – heisst mehr nach Indie-Rock – klingen würden, war da sogar in gewisser Weise ein Rückschritt. Huevos ist auf seine Art expermientell. Und einige gute Songs sind dabei. So war SST 1987 eben.

fIREHOSE
If’n

(SST, 1987)

Zeit war vergangen, SST war jetzt also ein etabliertes Indie-Label – und einer von SST’s main acts – die Minutemen – waren Geschichte, seit ihr genialer Gitarrist und Sänger D.Boon im Dezember ’85 gestorben war. Das Minutemen-Album Double Nickles on the Dime von 1984 nenne ich nicht leichthin eines der größten Art-Punk Alben aller Zeiten. Es ist eine DER Referenzen von SST. Die Minutemen hatten viele Fans gehabt… und einer von denen hatte den Rest der Band – Mike Watt und George Hurley – dazu gebracht, unter dem Namen fIREHOSE weiter Musik zu machen. Das erste Album Ragin‘ Full-On war noch von einer sehr menschlichen Mischung aus Trauer und Begeisterung geprägt. Gitarrist und Sänger Ed Crawford’s unbändige Freude darüber, mit einer der besten Rhythm-Sections der USA Musik machen zu können, war berührend und echt. Bassist Watt und Drummer Hurley aber schienen noch ihren Freund und Kollegen zu suchen. Inzwischen hatte sich eine gewisse „Routine“ eingestellt. Nicht missverstehen – das war keine Langeweile, da war Akzeptanz und offenbare Freude am neugefundenen Sinn im Musikmachen. If’n ist sicher nicht so genial wie die besten Minutemen-Sachen. Es ist ihnen nicht einmal wirklich ähnlich – was man auch als Kompliment an Mr. Crawford verstehen sollte. Die beiden Rhythm-Kings waren tief in Jazz eingetaucht, Crawford hatte offenbar fleißig Gitarre geübt, er konnte inzwischen SST-typisch shredden, war aber auch in der Lage, eine wunderbare akustische Gitarre bei „In Memory of Elizabeth Cotton“ zu spielen. Um beim folgenden „Soon“ rasant loszulegen, fast so zu klingen, wie es der auf dem Cover abgebildete Bob Mould von den Labelmates Hüsker Dü bald tun würde. If’n ist fröhlich, zumindest humorvoll. Der knurrende Bass von Watt und sein grimmiges Gegrummel beim Closer „Thunder Child“ ist nicht ernst gemeint. Und mit „For the Singer of REM“ haben fIREHOSE einen ihrer tollsten Songs dabei. Mann… diese kraftvollen Rhythmen!! If’n war die Bestätigung, dass Crawford die Trauer dieser Musiker würde heilen können.

SWA
XCIII

(SST, 1987)

Wenn man über den SST-Sound spricht, dann werden immer gerne die Begriffe Jazz und Metal verwandt. Labelgründer und Black Flag-Boss Greg Ginn’s Liebe zu Black Sabbath, dem Mahavishnu Orchestra und John Coltrane war kein Geheimnis. Und auch sein einstiger Bandkollege Chuck Dukowski teilte offenbar diese un-hardcore-punk-hafte Liebe. Nachdem er Black Flag verlassen hatte, gründete er mit SWA eine Art SST-All-Star-Ensemble und nahm Musik auf, die misstrauisch angehört und oft schlecht bewertet wurde. Mit dem nötigen Abstand aber mag man erkennen, was diese Band war. Wie interessant – aber auch anstrengend – diese fluktuierende Einheit war. Dukowski war ein famoser Bassist, dessen Jazz-Kenntnisse hörbar waren. Mit Merrill Ward hatte er einen Sänger, der „Sänger“ war – kein Hardcore Shouter, sondern einer, der klang wie Kiss‘ Gene Simmons nach ordentlichem Gesangsunterrischt. Mit seinem Drummer Greg „Nazi Sex Dr.“ Cameron war da auch ein Könner am Werk und inzwischen war mit Sylvia Juncosa eine Frau an der Gitarre, die Greg Ginn locker Konkurrenz machen konnte. Die konnte shredden wie der härteste Hardcore-Punk, aber sie vermochte ihrer Gitarre auch leuchtende Psychedelic-Töne zu entlocken, rückkoppeln, dass es eine Freude war… die war ein perfektes Beispiel für die Punk-Jazz-Gitarristen des SST-Stalls – und eine gute Songwriterin. SWA’s drittes Album XCIII ist wegen ihres Songs „Arroyo“ das Bekannteste. Aber neben diesem Track gibt es noch mehr Hörenswertes: „Faker’s Blues“, das am Ende in proto-grungy Hardrock ausblüht, „Optimist“, das daran erinnert, dass Dukowski großen Anteil an Black Flags verkanntem Meisterwerk My War hatte. SWA klingen wie Kiss + MC5 bei einer Black Flag Tribute-Show. Das ist definitiv anstrengend – auch wenn das Album gerade mal 36 Minuten dauert. Man muss beachten, dass diese Musik 1987 kein Erfolgsrezept war. Da folgte jemand seiner Leidenschaft. Auch wenn er (Dukowski) dafür die Ressourcen seines Labels nutzte… dem man inzwischen ZU großen kommerziellen Erfolg vorwarf. Absurd.

Universal Congress Of
s/t

(SST, 1987)

Und nochmal – die beiden Bosse des SST-Lables mögen ja den Markt mit ihren Platten uberschwemmt haben – aber die folgten ihren Leidenschaften und veröffentlichten vermutlich die Musik, die sie für gut hielten NICHT nach kommerziellen Erwägungen. Nehmen wir z.B. Joe Baiza, den vormaligen Gitarristrn der Band Saccharine Trust (deren ’86er We Became Snakes – auch auf SST – ein weiteres sehr gutes Punk-Jazz-Album ist…), dessen neue Band nun mit mit The Universal Congress of ein astreines psychedelisches FreeJazz-Album mit extended Jams und Hardcore-Untertönen veröffentlichen durfte. Das Universal Congress of-Alias wurde erst nach den Aufnahmen zu diesem Debütalbum wirklich benutzt, diese Jams nahm Baiza mit Musikern der gerade aufgelösten Band Latino Baby Jesus auf – und hatte Spaß dabei. Dass er die Aufnahmen Greg Ginn andiente, war ja nicht unlogisch, dass der dann den Namen von Baiza’s geplantem neuen Projekt auf das Cover schrieb, finde ich nicht falsch. Universal Congress of ist tatsächlich irgendwie visionär. Diese Art Free Jazz, Noise, Hardcore zu verbinden war neu. Später würden etliche namhafte Avantgarde- und Noise-Musiker dieses Album als Einfluss nennen: Thurston Moore und John Zorn sind die namhaftesten (…und wer DIE nicht kennt, hat was verpasst…). Für puren Free Jazz ist das über zwei LP-Seiten gehende „Certain Way“ zu melodisch, für Hardcore zu abstrakt, für puren Psychedelic Rock zu hart, für Noise fast ZU schön… Noise passt schon am ehesten. Die restlichen 4 ½ Minuten von „Chasing“ lassen dich auf einen Trip in eine andere Welt gleiten. Na ja – dass Joe Baiza ein hervorragender Gitarrist war, muss eigentlich nicht geschrieben werden. Er kann hart, er kann lyrisch, er kann Noise… Ein Meister seiner Klasse, dessen Alben unter diesem Projektnamen – wie unter anderen Namen – immer gelingen. Aber dieses Debüt, der 88er Nachfolger Prosperous and Qualified und das oben genannte Saccharine Trust-Album sind meine Wahl…

Tar Babies
Fried Milk

(SST, 1987)

Dass die Minutemen eine einflussreiche Band waren, dass sie und ihre Nachfolgeband fIREHOSE und auch anderen Bands wie die Meat Puppets Role Models für viele junge Musiker in den USA waren, versteht sich nun also. So gab es z.B. in Madison, Wisconsin die Tar Babies: Bucky Pope (g), Dan Bitney (dr) und die Brüder Jeremy Davies und (voc) Robin Davies (b). Die hatten zunächst auf dem eigenen Label ein paar Singles veröffentlicht, dann war Bruder Jeremy gegangen und die Band bekam einen Vertrag bei SST. Und natürlich passte diese Band zum Label. Man stelle sich vor, die Minutemen würden mit den Red Hot Chili Peppers jammen. Die Rythmen – Funk. Die Härte – eindeutig Hardcore Punk, dazu abgefahrene Gitarrensoli, ein Sprechgesang, der aus der Unfähigkeit wirklich zu SINGEN entstand, dazu eine Stimmfarbe, die sehr an Anthony Kiedis erinnert… Na ja – 1987 kannte noch niemand RHCP und Crossover war noch ungewohnt. Auf jeden Fall wussten die Tar Babies mit ihren Instrumenten umzugehen. Dazu gehört der Hinweis, dass Drummer Dan Bitney später bei den Post-Rock-Virtuosen Tortoise einstieg. Fried Milk ist ein Album, das (wie viele SST-Alben) zunächst etwas sperrig wirkt. Die Produktion von SST-Haus-Toningenieur Spot ist trocken und wohl nicht so dynamisch, wie es die Tar Babies verdient gehabt hätten. Live sollen sie eine Wucht gewesen sein. Direkt einhakende Songs hatten sie nicht, auch wenn „Styrofoam“ oder „Pig Relevence“ sich nach ein paar Spins festsetzen können. Mit Bucky Pope hatte diese Band einen Gitarristen, der enormes Talent hatte. Seine Art Funk, Punk und schräge Jazz-Akkorde abzuschießen, ist beeindruckend. Das Album wächst – wie viele SST-Alben. Dass die Band sich bald mehr Richtung Fun-Punk wandte, ist ein bisschen schade. Diese LP und die ’85er EP Respect Your Nightmares sollte man hören… Sind aber beide in Europa schwer zu finden…

Descendents
All

(SST, 1987)

CREATOR: gd-jpeg v1.0 (using IJG JPEG v62), quality = 100

Ein anderer Aspekt des Indie Rock, der auch von SST bedient wurde: Punk. Im Falle der Descendents schnell und mit großem Pop-Appeal. Ihre ersten Alben – Milo Goes to College (’82) und I Don’t Want to Grow up (’85) – sollten in keiner anständigen Plattensammlung fehlen. Da waren sie nicht auf SST gewesen. Für den Nachfolger Enjoy! wechselten sie zu SST – und machten ihr schlechtestes Album. Aber jetzt hatten Descendents mit Karl Alvarez (b) und Steven Carrington (g) zwei Neue an Bord und gaben sich Mühe, die Fehler des Vorgängers zu vermeiden. So GANZ klappte es nicht. Descendents ’87 hatten immer noch Metal-Anklänge (…die manchen auf den Geist gingen, die IMO nicht schlecht sind). Aber Metal war inzwischen – zumal bei SST – kein Fremdkörper im Punk mehr. So wurde All ein Proto-Punk-Pop-Album, an dem sich Bands wie Green Day Jahre später orientiert haben dürften. Der kindisch-anarchistische Punk der ersten beiden Alben war einer gewissen „Grown-Up“ Mentalität gewichen. Und mit „Schizophrenia“ versuchten die Descendents offenbar so zu klingen, wie die experimentelleren SST-Bands. Nicht Gut!! Andererseits sind auf All mit „Coolridge“ und „Cameage“ Songs dabei, die das Beste aus beiden Welten vereinen. Absolut ins Ohr gehender Punk, mit Spaßfaktor, aber auch mit einer Portion Metal-Gitarren. Bei „Van“ werden sie ein bisschen ZU komplizert – aber wer will Musikern vorwerfen, sich weiterzuentwickeln zu wollen? Ich jedenfalls nicht. Und immerhin haben diese Musiker absolut die Fähigkeiten, auch komplexeste Strukturen im Affenzahn zu meistern. All ist nicht das beste Descendents-Album, aber es ist weit besser, als es von Fundamentalisten gemacht wird. Ende ’87 verließ Sänger Milo Aukerman die Band um seinen Doktor in Biochemie zu machen und der Rest der Band tat sich unter dem Namen All mit dem Sänger von Dag Nasty zusammen. Immerhin – 1995 machte Aukerman mit den Descendents doch weiter. Und es lohnte sich…!!

The Leaving Trains
Fuck

(SST, 1987)


Under Construction

Pell Mell
The Bumper Crop

(SST, 1987)


Under Construction

Always August
Largeness With (W)Holes

(SST, 1987)


Under Construction

Slovenly
Riposte

(SST, 1987)


Under Construction

Blind Idiot God
s/t

(SST, 1987)

Jah – Vielseitigkeit. Auf SST fand man genau das. Wobei – mit den Bad Brains war da eine Band, die letztes Jahr mit I Agains I immerhin ein stark im Reggae und im Hardcore/Noise verwurzeltes Album auf SST herausgebracht hatte. Blind Idiot God standen mit ihren Füßen in ähnlichen, nur scheinbar weit auseinander liegenden Tümpeln: Die Musik des virtuosen, damals gerade den Teenagerjahren entwachsenen Trios auf dem gleichnamigen Debüt ist teilweise tiefster Dub mit Reggae-Rhythmik, teils komplexer Math-Rock (.. und den gab es 1987 noch nicht), teils krachender Hardcore – und manches hier erinnert sogar an die Noise-Eskapaden bei diversen Black Metal Bands der frühen 90er. Der Mix diverser Einflüsse zu einem „Crossover“ war noch nicht wirklich etabliert – das würde erst ein paar Jahre später wirklich losgehen, was der Grund sein mag, warum Blind Idiot God nicht so erfolgreich waren, wie man es nach heutigem Anhören ihres ersten Albums vermuten könnte. Hier konnte man aber immerhin wirklich virtuoses Musizieren bewundern, die tiefen Dub-Bässe von Gabriel Katz, das noisige und zugleich Jazz-informierte Gitarrenspiel von Andy Hawkins, die muskulösen und abwechslungsreichen Drum-Fills von Ted Epstein… da hört man den Opener „Stravinsky/Blasting Off“ dessen Titel wohl Programm für das Album ist, und da sind die letzten drei genauso programmatisch benannten Stücke mit den Titeln „Wise Man Dub“, „Raining Dub“ und „Stealth Dub“. Irgendwann war diese Musik unmodern, dann mal wieder angesagt – letztlich war Blind Idiot God typisch SST – wegen der Harcore Wurzeln und vor Allem weil die aufgeweitet wurden. Eine weitere vergessene Perle im SST-Katalog.

These Immortal Souls
Get Lost (Don’t Lie)

(SST, 1987)


Under Construction

Negativland
Escape From Noise

(SST, 1987)


Under Construction

Mit Negativland haben SST bald einen Problemfall im Rooster, der das Label wegen Urheberrechts-Streitigkeiten mit der Band U2 fast in den Ruin treibt,

Opal
Happy Nightmare Baby

(SST, 1987)

Dass SST ’87 all over the place waren, sollte jetzt klar sein. Und so kam es dann auch, dass sie – in den USA jedenfalls – mit Opal eine Band veröffentlichen ließen, die mit HC-Punk oder Metal Nichts am Hut hatte, sondern auf ihrem einzigen Album Happy Nightmare Baby eindeutig das Feld des bluesigen, psychedelischen Dream Pop absteckten. Nun – Opal waren Kendra Smith, eine Bassistin und Sängerin, die bei The Dream Syndicate und Rainy Day mit diversen Allumni des sog. Paisley Underground zusammengearbeitet hatte. U.a. mit Susanna Hoffs (Bangles…). Und Steven Roback, der bald mit Hope Sandoval die fantastischen Mazzy Star gründen würde. Letztere übernahm den Gesang bei Opal nach den Aufnahmen zu Happy Nightmare Baby. All das bedeutet: Man hört hier Musik, bei der elegisch-psychedelische Gitarren Songs veredeln, die sich nach bluesigen Pink Floyd und samtigem Underground Rock a la US-Westcoast anhört. Die gemeinsam geschriebenen Songs waren beeindruckend eigenständig – zumal in dieser Zeit und in einer Szene, die sich gerade erst entwickelte. „Magick Power“ hätte auch bei den UFO-Club Pink Floyd gepasst. „Supernova“ wäre bei Spacemen 3 gut aufgehoben, aber beide Songs haben durch Smith’s Stimme und Roback’s heulende Gitarren eine festes eigenes Fundament. Beim Closer „Soul Giver“ klingen Velvet Underground und arabische Musik an – Opal waren die erdige Vorstufe der großartigen Mazzy Star (…deren „Fade Into You“ sich JETZT dringend anhören sollte, wer die nicht kennt…). Es ist fast bedauerlich, dass Opal nicht länger funktionierten. Und Kendra Smith’s Solo-Alben aus den 90ern sind jede Suche wert und die ’84er EP Fell From the Sun – noch nicht unter dem Namen Opal, aber vom gleichen Personal wie Happy Nightmare Baby eingespielt – kann man direkt mit-kaufen. Sind nur leider alle nicht billig. Ja – die Entscheider beim SST-Label hatten Geschmack und schauten über alle Tellerränder. Muss man zugeben…