Manche mit großem und dauerhaftem Erfolg, Manche mit Begeisterung, aber verzweifelt geringer Kenntnisnahme durch ein Publikum, das schnell von der Masse an Alben und Bands überfordert sein musste. Da half nur erfolgreiches Touren, Werbung, Radio- und TV-Präsenz, aussergewöhnliches Auftreten und natürlich Talent. Man kann all diese in mehreren Kapiteln beschriebenen Alben des Jahres 1970 unter diversen Überschriften finden… und oft könnte ich dieses oder jenes Album vom einen Kapitel ins andere schieben und dort neu vergleichen und beschreiben. Denn… ein Album, das unter dem Header Progressive Rock steht, hat auch Elemente des (sehr ähnlichen) Psychedelic Rock oder des Heavy Psychedelic Rock (aka Heavy Psych) oder des Blues Rock oder des Space Rock oder des mehr oder weniger progressiven Folk… Die Grenzen sind fließend, die Ausführenden haben nicht nach Stilbezeichnungen gefragt. Das ist 1970 so, das ist in den kommenden Dekaden so und das war auch vorher schon so. 1970 ist diese Ecke der Rockmusik neu, spannend, en vogue. Die Alben dieser Tage werden zu Archetypen und manche Bands bleiben in Erinnerung… und werden kommerziell recht erfolgreich. Man muss bedenken, dass diese Art der Rockmusik in dieser Zeit gewünscht, gewollt, gesucht war. Die Hippie-Träume der ’68er (und des Summer of Love…) waren zerschellt: An Vietnam, an toten Demonstranten, an den Toten in der Rockmusik (Hendrix, Joplin, Morrison), an den Drogen, an einer intolernaten Gesellschaft… Eskapismus war die eine Option, Wut die Andere. In dieser Zeit begannen nicht umsonst auch Bands wie die Stooges ihre Karriere… So wurden Fantasy, Philosophie oder die Flucht auf’s Land zu einer verlockenden Idee und die Musik wollte das auch darstellen. Dass die Musiker in diesen Bands oft Virtuosen waren, ist dieser Ästhetik zu verdanken…und dem Umstand, dass die „Popmusik“ inzwischen ihre Virtuosen herangezogen hatte. So entstand eine Art von Musik und eine Art des Musikmachens, die dann wiederum in ein paar Jahren – als alt und albern verlacht – an Glam und Punk zerschellte. Hier folgen also zunächst ein paar explizite Klassiker dieser Ecke der Rockmusik und dann gehe ich im Verlauf des Kapitels auf einen bestimmten Ausschnitt dieser Musik ein: Die Canterbury Scene war seinerzeit nicht ganz so populär, wie die Zugpferde des ProgRock (Genesis, Emerson, Lake & Palmer, Pink Floyd oder Jethro Tull). Aber zwei Bands mit einem großen Saturnring von Side Projects und Kollegen hatten fast den gleichen Erfolg wie die Meister des progressiven, psychedelischen, artifiziellen… whatever Rock. Soft Machine und Caravan gelten bis heute als Protagonisten des Canterbury Sound… und ihre Bubble machte etliche sehr lohnende und eigenständige Alben. Lies mehr dazu hier unten.
Pink Floyd
Atom Heart Mother
(Harvest, 1970)
1970 schienen die Mitglieder Pink Floyds immer weiter auseinander zu driften. Syd Barrett hatte die Band verlassen, das vorherige Album Ummagumma hatte mit „Astronomy Domine“ noch einen letzten Song Barrett’s enthalten, die restlichen Tracks waren da schon Ego-Trips der übrigen Mitglieder und des neuen Gitarristen David Gilmour. Und jetzt wollten, sollten, mussten die Vier mit dem inzwischen etablierten Gilmour irgendwie weitermachen. Die Ratlosigkeit bei der Suche nach neuen Wegen ist auf Atom Heart Mother überdeutlich zu erkennen – aber wie das bei großen Bands so ist – genau Das macht den Reiz des Albums aus. Auf der ersten Seite der LP führt das 23-minütige Titelstück – als orchestrales Epos gebaut – zwar nirgendwohin, aber die Floyd-typische schlichte Melodie ist genial und durchaus ein Genuss. Auf der zweiten Seite findet der zukünftige „Ich bin hier der Band-Kopf..“ Roger Waters mit „If“ langsam seine kompositorische Sprache, während sich Rick Wright in milder britischer Psychedelia übt und David Gilmour auf „Fat Old Sun“ einige Register auf der Gitarre zieht. „Alan’s Psychedelic Breakfast“ als letztes Stück ist eine sehr zeittypische Soundcollage – damals mit all den lustigen Geräuschen sicher revolutionär, im Rückblick musikalisch womöglich das schwächste Stück auf dem Album, weil es sich in Effekten verliert. Die Band nannte Atom Heart Mother später oft ihr schlechtestes Album, viele Fans aber sehen das anders. Neben dem wieder einmal ikonischen Cover vom Design-Kollektiv Hipgnosis ist Atom Heart Mother als Gesamtkunstwerk logischerweise mehr als die Summe seiner Teile. Auch wenn Pink Floyd sicher gelungenere und „wichtigere“ Alben machen würden. Typischer für „progressiven“ Rock der frühen 70ern geht’s kaum…
Genesis
Trespass
(Charisma, 1970)
Ob es eine Konkurrenz zwischen Pink Floyd und Genesis gab? In den Siebzigern wurden beide Bands zu den Aushängeschildern und Topsellern im Bereich Progressive Rock – Pink Floyd mit einem psychedelisch-düsteren Hintergrund, Genesis mit vertrackten Epen voller britischer Weirdness und Märchenhaftigkeit. Beide waren unterschiedlich, beide hatten einen erstaunlichen kommerziellen und künstlerischen Erfolg – und sie werden sich einen Großteil ihrer Fans geteilt haben. Pink Floyd waren 1970 wie gesagt in einer Phase des Umbruchs, Genesis etablierten in diesem Jahr – nach einem schwachen Debütalbum – mit Trespass das Konzept aus instrumental ausgefeiltem progressivem Rock mit philosophischen Fantasy-Lyrics. Genesis wurden – mehr als Pink Floyd – zu Eskapisten, die immerhin skurrilen Humor zuließen und die – auf ihre Art – den Song und ihren ausgefeilten Sound grundsätzlich über die Virtuosität des Einzelnen stellten. Und so findet man auf Trespass nur sechs Tracks, davon zwei von über acht Minuten Dauer. Mit Anthony Phillips (g, voc) und John Mayhew (dr, voc) sind noch zwei Leute dabei, die man nicht mit Genesis verbindet, wenn man diese Band in ihrer Hochphase kennt. Phil Collins würde erst demnächst dazu stoßen – aber Peter Gabriel war jetzt schon ein großartiger und sehr gut wiedererkennbarer Sänger. Für ihre Tracks setzten die Musiker sich zusammen und arbeiteten gemeinsame Ideen aus, Gabriel und Phillips schrieben die Texte wobei Gabriel oft den Ton vorgab. Dass Songs wie „The Knife“ oder „White Mountain“ konstruiert wurden, mag man hören. Aber Genesis gelang es, einen sehr eigenen und warmen, organischen Sound zu schaffen. Insbesondere die 12-String von Rutherford und Phillips sind dominant – und natürlich Tony Banks‘ Keyboard-Flächen. Hier spielten fünf Könner zusammen, die soeben einen sehr prägnanten Sound und einen sehr eigenwillige Kompositions-Stil entwickelten. Damit wurden sie zu einer der prägenden Bands des Progressive Rock.
King Crimson
In The Wake Of Poseidon
(Island, 1970)
Na – das war dann mal eine Aufgabe. 1969 war das Debüt von King Crimson ein gamechanger. Es ist bis heute die Definition des Progressiven Rock… wie er in seiner Perfektion unerreichbar bleiben würde. Und Robert Fripp – der Gitarrist und Kopf der Band – hatte sofort nach der Tour zum Album mit dem zu kämpfen, was King Crimson Zeit ihres Bestehens plagen würde. Keyboarder, Bläser und Mit-Songwriter Ian McDonald ging, Drummer Michael Giles trommelte nur noch leihweise mit und holte seinen Bruder Peter an den Bass, weil Bassist/Sänger Greg Lake beschlossen hatte, seine eigene Band zu gründen (Emerson Lake & Palmer – siehe weiter unten). Immerhin lieh auch Lake nochmal seine Stimme. Bei den meisten Bands wäre mit dem Verlust von ¾ des Personals der Charakter weg. Nicht so beim scharlachroten König. In the Wake of Poseidon GILT zwar als schwächerer Nachfolger, aber dennoch – kein anderes Album war 1970 wie dieses Not-Produkt. Die Struktur des Albums gleicht der des Debüt’s: Der Opener „Pictures of a City“ ist eine zahmere Version von „21st Century Schizoid Man“ – und somit immer noch beeindruckend. Incl. Jazz-Part, ruhigen Passagen und Chaos. Mit „Cadence and Cascade“ wird die Balladen-Seite des Debüt’s wiederholt. Zauberhafte Gitarren, zauberhafte – und ein bisschen ZU süsse – Melodie. Hier singt erstmals Fripp’s Schulfreund Gordon Haskell, der beim dritten Album fast komplett die Vocal-Duties übernahm. Beim Titeltrack MUSS es sich um ein Outtake aus den Aufnahmen zu In the Court of the Crimson King handeln. Das ist Bombast, der nicht nervt. Mit „Cat Food“ versuchte Fripp wohl eine Art „Hit“ zu schreiben. Hier sang wieder Lake, aber er klingt anders als auf dem Debüt. Ein sehr absurder Song, der (mir) im Kopf blieb. Das komplette Album kann man als Aufguss bezeichnen – zugegeben. Aber immerhin ist es der Aufguss eines köstlichen Tee’s… mit einem weiteren exqusiten Albumcover.
King Crimson
Lizard
(Island, 1970)
…und noch im Dezember desselben Jahres sollte besser es werden. Denn für Lizard hatte Robert Fripp sich offenbar erst mal mit der Fluktuation abgefunden – und er kopierte nicht wieder das bekannte Konzept. Der neue Drummer Andy McCullough war ihm von Keith Emerson und Geg Lake empfohlen worden, mit dem nun fest engagierten Haskell hatte er nun einen Sänger, dessen Stimme sehr charakteristisch ist, der aber nicht überall auf Begeisterung stieß… und der die Band bei den Aufnahmen wieder verließ. So sang dann Jon Anderson von Yes „Prince Rupert Awakes“ ein. All das Durcheinander ändert nichts daran, dass Lizard ein weiteres Meisterwerk ist. Fast so gut wie In The Court of… wieder mit einem fantastischen Cover, das – an mittelalterliche Buchillustrationen angelehnt – den Hörer erst einmal auf die falsche Fährte lockte. Lizard ist kein Medieval Folk. Hier spielen (Free) Jazz, krafvoller Rock und die KC-typische absurde Exzentrik, bei der manchmal eine gewaltige Kraft hervorbirst, die Hauptrolle. Mit Mel Collins war ein Flötist/Saxophonist dabei, der auch noch das Mellotron dröhnen ließ und so einen weiteren typischen Sound-Faktor bediente. Und die Kompositionen waren ausgefeilt und NEU!! Das von Free Jazz-Fetzen zerfledderte „Happy Family“ etwa ist ein simpler Kinderlied-Reim, der durch abenteuerliche Arrangement-Ideen jeder Banalität enthoben wird. „Lady of the Dancing Water“ ist märchenhaft, basiert auf Flöte und akustischer Gitarre und passt zum Cover. Die zweite Seite der LP bildet die (damals gerne genommene) Suite um Prince Rupert und den Lizard. Da bekam man im Paket den King Crimson-Spirit. Ausgefeilte Arrangements, Interpretations-freundliche Lyrics von Fripp’s Kollegen Pete Sinfield und natürlich die perfekte Ausführung an allen Instrumenten. Man kann sich in den Einzelheiten verlieren: Im Marschrhythmus der Drums unter „Bolero – The Peacocks Tale“. Den flinken Klavierläufen von Gast Keith Tippett, die den Song langsam in Richtung Jazz leiten, den ausgefeilten Bläsern, dem Chaos imVerlauf von „The Battle of Glass Tears“… and so on an on and on… Die große Kunst dabei ist, dass all das nie ins Kunsthandwerk abgleitet, dass hier einer Landkarte gefolgt wird, die in unerforschte Gebiete führt. Lizard war und ist ein Unikat. Danach musste Fripp die Band wieder umstellen…
McDonald and Giles
s/t
(Island, 1970)
Man mag es im Zusammenhang mit den „erfolgreichen“ Progressive Acts etwas irritierend finden, dass ich diese relative Obskurität hier berschreibe – aber es ist nur logisch: Ian McDonald and Michael Giles waren Mitglieder von King Crimson gewesen, hatten das epochale Debüt geprägt – McDonald war sogar Co-Songwriter gewesen. Die Zwei hatten KC Ende ’69/Anfang ’70 verlassen, Giles hatte auf In The Wake of Poseidon sogar noch getrommelt. Aber nun nahmen die Beiden dieses schicke Album auf. Wobei der Begriff „Progressiv“ hier ein wenig gedehnt werden muss. Der Opener „Suite in C; Including Turnham Green, Here I Am and Others“ klingt zu Beginn fast nach den Beatles, wird aber im Verlauf zu einem der von King Crimson bekannten Impro-Orgien mit Flöte, Klavier etc. McDonald and Giles ist in vieler Hinsicht King Crimson light. Was nicht missverstanden werden sollte. Das Album ist interessant, ist (wie all die Prog-Epen der frühen 70er) ein period piece – aber eines, das mit viel Spaß und Neugier musiziert wurde. McDonald war ein veritabler Songschmied… dass der später mit Foreiger (!! of all mediocrity..!!) viel Geld verdienen würde, sollte diese Wertung nicht mindern. Und dass Michael Giles ein famoser Trommler und sein Bruder Peter am Bass den feinsten Rhythmus-Flor ausbreiten, ist auch nicht verwunderlich. Verwunderlicher ist da schon eher, dass dem Projekt nicht mehr Erfolg beschieden war. Die 21-minütige Suite „Birdman“ auf der zweiten LP-Seite ist wunderbar leichtfüssiger, intelligenter Twee-ProgRock, der einen sehr sympathischen Optimismus ausstrahlt. Auch dieses Album hätte größere Beachtung verdient, und wer sich in diesen Ausläufer der King Crimson-Familie verirrt, ist üblicherweise begeistert. Aber – es gab einfach zuviel davon. Und Giles und McDonald gingen nach dem Album getrennte Wege. Dass Ian McDonald später mit Foreigner schrecklich banalen Rrrock machte, ist schade. Aber er hatte ein Auskommen. Das ist ja dann auch fein und mindert nicht die Klasse dieses Albums.
Van Der Graaf Generator
The Least We Can Do Is Wave To Each Other
(Charisma, 1970)
Hier nun die Progressive Rock Band, die sogar von Punks anerkannt wurde. Eigentlich unlogisch – denn VdGG machten Musik, die hochkomplex, artifiziell, thematisch irgendwo zwischen Fantasy und düsterer Science Fiction angesiedelt war. Aber sie hatten einen gewissermaßen „reduzierten“ Sound – weil sie quasi ohne Gitarristen auskamen, weil sie zwar virtuos waren, aber nie in selbstverliebtes Solieren verfielen. Und weil ihr Kopf, der Sänger Peter Hammill diese eigenartige Stimme hatte, die zwar sehr theatralisch zu intonieren vermochte, die dabei aber keine Spur Pathos trug. The Least We Can Do Is Wave To Each Other war das zweite Album – eigentlich aber Album No.1, weil der Vorgänger The Aerosol Grey Machine – zunächst als Hammill-Solo-Album gedacht – nach Vertragsquerelen und -betrügereien unter dem Bandnamen veröffentlicht worden war (was Nichts an seiner Qualität ändert…). The Least… zeigt eine beeindruckend eingespielte Band, die nur ein paar Wochen geprobt hatte um dann in vier Tagen ein Monster von Album aufzunehmen. Hugh Banton’s dröhnende Orgel baut Kathedralen – kein Wunder, er hatte als Kirchenorganist gearbeitet. Guy Evans trommelt virtuos um jeden Rhythmus herum, Nic Potter’s Bass donnert wuchtig, spielt aber zugleich die ausgefeilten Melodien mit und David Jackson verziert die Songs mit Flöte oder lässt das Saxophon brüllen und quaken. Beim Opener „Darkness (11/11)“ spielt er Roland Kirk-like zwei Saxophone zugleich. Dazu schreit, singt, spricht Peter Hammill mit seiner eigenartigen Stimme philosophisch/dystopische Texte. Dass die langen Song melodisch reich sind, dass sie abwechslungsreich arrangiert nie Langeweile aufkommen lassen, ist eine der Leistungen der Band. Die Geschlossenheit des Materials, die Tatsache, dass hier mit einem unnachahmlichen Sound sechs ganz eigenartige Songs ein Album bilden, das wie aus einem Guss ist, macht The Least… zu einem der großen Prog Rock Meisterwerke. Man muss sich mal vom überwältigenden Finale von „White Hammer“ wegblasen lassen. Einem Song über das Malleus Maleficarum, den „Hexenhammer“ aus der Zeit der Inquisition. Und beim Closer „After the Flood“ wird eine apokalyptische Flut heraufbeschworen und Einstein zitiert – und all das wird musikalisch in eine 12-Ton-Figur gepackt. Dynamik, Kraft, lyrische Passagen, instrumentale Finesse… The Least… ist eines der ganz wenigen Alben, die an das Debüt von King Crimson heranreichen. Und dieses eine Mal hatte die Band auch einen gewissen kommerziellen Erfolg…
Van Der Graaf Generator
H To He Who Am The Only One
(Charisma, 1970)
…der sich beim im selben Jahr aufgenommenen Nachfolger H To He Who Am The Only One leider nicht wiederholte. Die Band war auf Tour und nahm bei diversen Gelegenheiten mit demselben Produzenten neue Songs auf. Weil Bassist Nic Potter die Band zwischendurch verließ, übernahm Banton dessen Part mit den Bass Pedals seiner Orgel. Hammill fragte Robert Fripp, ob er ein paar Gitarrenparts einspielen wolle und der sagte zu – sein erster Job als Session-Musiker und eine Ehre von einem, der diese Band toll fand. Die Standards waren gesetzt, der Sound der Band war festgefügt (obwohl nun wie gesagt der Bassist weg war) und Hammill hatte wieder ein paar exzellente Songs und Ideen. Der beängstigende Opener „Killer“ sollte zunächst als Single veröffentlicht werden, aber die Band hatte die Sorge, als Heavyrock-Act missverstanden zu werden. Der Song hat mitunter brutale Passagen, aber Hammill’s Stimme ist meiner Meinung nach sehr Hardrock-fern. Das folgende „House With No Door“ behandelt in klugen Bildern jemanden, der nicht in der Lage ist, mit seinen Mitmenschen in Kontakt zu treten. Interessant, dass Hammill gerade mal 22 Jahre alt war – deep thoughts für einen so jungen Mann. Bei „The Emperor in His War Room“ machte er sich Gedanken über Tyrannen und ihre Opfer, die sie dann im Schlaf verfolgen – und wieder war da eine beeindruckende Melodie, die Kraft-Passagen und die lyrischen Momente, das Dröhnen der Orgel und der klagende Gesang Hammills. Nie larmoyant, nie Zuviel und eingebettet in einen sehr abwechslungsreichen Teppich aus Orgel, Bass, Schlagzeug, Flöten… und am Schluss Robert Fripp’s singende Gitarre. Wer klang schon so? Und auf der zweiten LP-Seite mit „Lost“ ein textlich straighter Lovesong, bei dem die Band in allen Registern „rocken“ durfte. Was mit Hammill’s Stimme allein schon schwierig ist, mit dröhnender Orgel und hartem Saxophon nie banal werden KANN. Und mit „Pioneers Over c“ kam dann zuletzt noch ein Science Fiction Epos über Zeitreise aus der Ich-Perspektive. Alles war wieder gebettet in den saftigen Sound dieser Band, melodisch ausgefeilt, komplex, ohne sich zu verlieren, artifiziell und zugleich geerdet. Dies war Progressiver Rock in extrem geschmackvoll Es wurde ein anstrengendes Jahr für die Band, sie tourten mit Deep Purple, Black Sabbath, Genesis, Pink Floyd, Fairport Convention… sie waren angekommen. Nur – zu welchem Preis? Das würde man bald sehen.
PS: Ein Van Der Graaf Generator ist ein Gerät zur Erzeugung hoher elektrischer Gleichspannung, was wiederum die Spannung ist, die z.B. bei Gewittern entsteht…
Emerson Lake & Palmer
s/t
(Manticore, 1970)
Oben ist es beschrieben… Greg Lake verließ King Crimson, als er auf Tour den The Nice Kopf und Klavier-Virtuosen Keith Emerson traf. Auf In the Wake of Poseidon sang er noch mit und vermittelte mit Emerson den Drummer Andy McCullough an Fripp. Derweil suchten Emerson und Lake noch den Ex-Crazy World of Arthur Brown und Atomic Rooster Drummer Carl Plamer aus und begannen, ihre Version des gerade hippen ProgRock zu konstruieren. Jazz, Rock und vor Allem Klassik waren die Zutaten, die die drei zusammengossen – und vor allem die instrumentale Kraftmeierei, die zu dieser Zeit einfach gerne gesehen wurde. Als erstes traten ELP beim Isle of Wight Festival auf. Dort beeindruckten sie mit selbstverliebten Soli und Böllerschüssen am Ende der Show… Das Thema war gesetzt. ELP standen für die bombastische Seite des ProgRock, für die Arroganz der Virtuosen, für pomp and circumstance. Dass sie damit die Verachtung vieler nach 76 musikalisch Sozialisierter auf sich gezogen haben, ist nicht verwunderlich… und auch ein bisschen ungerecht. Das Debütalbum Emerson Lake & Palmer wurde in kürzester Zeit im Juli 1970 mit Greg Lake als Produzent aufgenommen. Vor Allem Emerson galt als Jimi Hendrix des Klavier’s, dementsprechend ist das Album durchsetzt mit Klavier und Orgel-Soli, mit Zitaten aus der Klassischen Musik: Leoš Janáček wurde bei „Knife-Edge“ zitiert und Johann Sebastian Bach gleich mit. Und bei „The Barbarian“ musste Béla Bartók’s „Allegro Barbaro“ dran glauben. Aber na ja – besser gut zitiert als schlecht selber komponiert. Dass auch der enorm flinke Drummer ein eigenen Track incl. Drum-Solo bekam, ist selbstverständlich. Fast sieben Minuten „Tank“ mögen hohl erscheinen. Aber 1970 wollten Jugendliche solches Können bewundern. Greg Lake spielte dazu gerne verzerrten Bass, aber auch viel Akustik-Gitarre und brachte den erste und einzigen Single-Hit der Band mit: „Lucky Man“ geht auf jeden Fall ins Ohr, ist etwas naiv… aber er hatte den Song als 14-jähriger geschrieben. Also? Nun – die Power dieser Band ist beeindruckend, ihr Können sowieso, das Album ist etwas zerrissen, weil jeder dieser drei Meister mal ‚ran wollte. Aber all das KANN man auch toll finden. Es gibt bessere Bands und Alben. Solche, die weniger auf Show setzen. Aber ELP würden logischer und konzentrierter werden. Und wer Prog Rock im vollen Ornat haben will, der höre hier hin…
Jethro Tull
Benefit
(Warner Bros., 1970)
Auch Jethro Tull sind 1970 ein junger, erfolgreicher Act, der von einem vergleichbaren Publikum goutiert wird, wie all die Alben in diesem Kapitel. Als folkige Blues-Band gestartet hatte die Band um den inzwischen allein herrschenden Ian Anderson inzwischen den Blues fast ganz hinter sich gelassen und begann nun einen sehr eigenen Sound zu etablieren. Benefit wurde 1970 nicht mit voller Begeisterung gehört… erreicht aber dennoch Platz 3 der UK-Charts, Platz 5 in den deutschen LP-Charts. Sprich – Ian Anderson war auf dem richtigen Weg – und würde mit dem folgenden Album Aqualung (’71) die Band zu einer der erfolgreichsten ihrer Generation machen. Benefit ist also ein Album des Überganges, der Startblock vor dem Sprung. Martin Barre hatte sich etabliert, seine Gitarre klingt auf manchen Songs fast nach Hardrock („Son“), aber seine Folk-Roots sind auch ständig zu hören. Zumal Anderson’s Querflöte und seine Kompositionen sich eindeutig an einer ziemlich eigenen Art von Folk orientierten. Ein Song wie „For Michael Collins, Jeffrey and Me“ klingt wie Folk, ist aber inhaltlich klug und ziemlich modern (…1970 jedenfalls…). Der Opener der zwieten LP-Seite „To Cry You a Song“ ist nah am Ideal eines Jethro Tulll Songs: Hardrock, der von mittelalterlich klingenden Melodien durchsetzt ist, mit eigenartigen Wechseln im Arrangement, mit stolpernden Rhythmen, ein bisschen psychedelisch, ein bisschen folky und vor Allem sehr viel Jethro Tull. Dazu Ian Anderson’s charakteristische Stimme, die offenbar keinen Spaß versteht und immer wieder diese Querflöte. Die hatten einen Stil gefunden, den niemand nachahmen konnte. Man kann sich sogar fragen, ob diese Musik überhaupt in irgendeine Stil-Kategorie passt. Benefit ist erstaunlich gut gealtert, Anderson klingt frisch, die Songs sind kurzweilig, und mit „With You There to Help Me“ oder „Play in Time“ sind da ein paar archetypische Tull-Songs, die auch noch äußerst dynamisch gespielt sind. Und es würden sogar noch bessere Alben kommen.
Gentle Giant
s/t
(Vertigo, 1970)
…dass die drei Shulman Brüder Derek, Ray und Phil in den Jahren vor 1970 als Simon Dupree & The Big Sound mal einen Pop-Hit hatten, sollte niemanden mehr interessieren. Die drei Brüder gründeten 1970 Gentle Giant und beschlossen, Musik zu machen, die Grenzen verschiebt, egal, wie gut das ankommt. Sie holten sich noch einen Drummer, einen klassisch ausgebildeten Pianisten und einen Gitarristen, der auch andere Saiteninstrumente drauf hatte. Diese Band hatte die instrumentale Vollausstattung und mit Derek Shulman einen Sänger, der wiedererkennbar war. Wenn sie dazu noch im Chor und im Kanon sangen, war das nur noch ein weiteres Gewürz im Kuchen. Mit dem ’69 gegründeten Vertigo-Label bekam die Band einen Partner, der sich gerade mit progressiven Bands etablierte. Und mit Gentle Giant setzten sie direkt ihre eigene Duftmarke. Die Musik auf diesem Debüt ist komlex, verbindet Jazz mit Klassik, mittelalterlicher Musik, Soul und teilweise ziemlich hartem Bluesrock. Die Tempowechsel und Rhythmen sind vertrackt, die Melodien gehen krumme Wege, dann aber erholt man sich in Momenten britischer Zurückhaltung. Und wenn man bei „Nothing At All“ kurz meint, Ruhe zu finden, wird man schnell wieder in ein Labyrinth aus Tönen und Instrumenten geführt. Dabei ist Gentle Giant noch ein einfaches Album – im Vergleich mit dem, was da noch kommen würde. Tracks wie die drei Alben-Eröffner „Giant“, „Funny Ways“ und „Alucard“ sind Lehrbeispiele dafür, wie variable, kluge, komplexe Progressive Rockmusik klingen muss, die auch noch Spaß macht. Immerhin wurden Gentle Giant semi-erfolgreich. Sie blieben im Gedächtnis, wurden oft bewundert – auch weil sie bei allem Eklektizismus immer als Gentle Giant erkennbar blieben. Diese Band ist ein Argument pro Progressive Rock.
Magma
s/t [Kobaïa]
(Philips, 1970)
Auch hier könnte mancher Fan empört schnauben: Magma sind sicher kein „Progressive Act“… wie Pink Floyd (?), Genesis (?) oder Emerson Lake & Palmer. Na ja – wer hat den Begriff „Progressive“ denn definiert? Hier tu Ich es… Magma wurden von dem französischen Schlagzeuger und Komponist Christian Vander und dem Bassisten Laurent Thibault in Paris gegründet – und der enorm versierte Vander hat ab 1969 ein komplette eigene Welt um sein Projekt aufgebaut. Mit eigenem Design-Konzept, mit einer eigenen musikalischen Sprache irgendwo im Spannungsfeld zwischen Free Jazz, ProgRock, Folk und moderner Avantgarde. Dass der diese Musik mit dem eigenen Begriff „Zeuhl“ etikettierte und dazu in einer eigens erfundenen Sprache (Kobaïanisch…) singen ließ, ist dann nur noch konsequent. All diese Entwicklungen starteten mit dem Debüt Magma – später umbenannt in Kobaïa. Zunächst war die Band noch eine relativ feste Einheit, die sich im Jazzrock-Umfeld bewegte, aber schon hier bekommt man etliche seltsame Eigenheiten des Zeuhl vorgesetzt. Vander hatte den Sänger Klaus Blasquiz kennengelernt, der mit ihm das Kobaïanisch entwickelte – eine Sprache, die eher auf dem Klang als auf der Bedeutung aufbauen sollte. Mit noch relativ wenigen Mitspielern bauten diese Musiker in drei Monaten ein wirklich bewundernswertes Werk auf. Allein schon, dass das komplette Album akustisch ist (nur die Gitarre wurde verstärkt) – und trotzdem mitunter ein gewaltiger Lärm losbricht, ist schon erstaunlich. Und WAS für ein Noise das ist. Free Jazz spielt eine große Rolle – Vander war u.a. aus Trauer über den Tod von John Coltrane auf seinen ganz eigenen Weg der Musik abgebogen. Aber dieser Free Jazz ist immer sehr geordnet. Manchmal spielt die Band Marschrythmen, über denen atonale Bläser und kobaïanische Parolen ertönen. Dann wird wieder mit enormem Drive vornagestürmt, fast will man an Hardrock denken. Aber dazu ist derRhythmus dann zu komplex, dazu ist vor allem Blasquiz‘ Geschrei und Gerede in Zunge (kobaïanisch eben…) zu fremd… manchmal fast ZU komisch. Dass die Geschichte um eine Gruppe von Menschen, die von der Erde enttäuscht zum Planeten Kobaïa fliehen, den Eskapismus der frühen 70er perfekt bedient, soll erwähnt sein. Aber Songs wie „Auraë“ oder der Marsch „Sckxyss“ oder der Opener und Titeltrack, der das Publikum nachgewiesenermaßen dereinst in einen Schock versetzte sind einfach erstaunlich und fantastisch. Achtung – mit Kobaïa betritt man eine eigene Welt, die zu verlassen schwer fällt. Es gibt ca. 15 Magma-Alben, die man dann hören muss… Um dann im Anschluss die in manchen Belangen ähnlichen Alben aus der Canterbury Scene zu hören. Die hat später sogar ein paar Überschneidungen mit Magma und den Leuten aus Kobaïa…
Canterbury Scene kurz erklärt…
…es wird Berichte über die Musik der Bands aus/um diese Szene geben…. 1971 und ’72 ist der Haufen an Alben mit Canterbury Sound groß und mir scheinen dann eigene Kapitel richtiger. Hier kurz ein paar Info’s: Die Gegenkultur in Kent rund um die Stadt Canterbury hatte 1964 mit den Wilde Flowers eine Band hervorgebracht, in der sich etliche der hier wiederzufindende Musiker trafen. Die Wilde Flowers spielten eine Art Psychedelic Pop mit Jazz-Anteilen, nahmen aber nie ein Album auf. Alle Musiker dieser Band spielten danach in namhaften Bands einer Szene, die als Begriff im Laufe der kommenden Jahre auch noch etliche andere Musiker aus aller Herren Länder erfassen sollte. Es gibt gewisse Gemeinsamkeiten unter den Bands, die man der Canterbury Scene zuordnet: Der Sound ist geprägt von Psychedelic Rock mit starken Jazz-Anteilen und oft einer schwer definierbaren „Leichtigkeit“. Einer Art Humor, der ziemlich britisch ist – auch wenn, wie gesagt, bald etliche Acts aus Belgien, Frankreich oder den Niederlanden mit diesem Begriff bezeichnet werden. Zwei der wichtigsten, prägendsten Bands mit ihren besten Alben folgen hier…
Soft Machine
Third
(Columbia, 1970)

…zum Beispiel das (schon) dritte Album von Soft Machine. Hier hatten sich drei Ex-Wilde Flowers getroffen, Einer war schon nach dem ersten Album wieder gegangen. Kevin Ayers hatte die Band nach dem formidablen ’68er Debüt (…siehe 68er Kapitel über den UFO-Club) verlassen. Bassist Hugh Hopper und Drummer/Sänger extraordinaire Robert Wyatt waren noch dabei… Als die nun vier Musiker + Helfer ein Album aufnahmen, das so tief im Jazz wurzelt, dass es eigentlich garnicht richtig in dieses Kapitel passt… Aaaaber!! Wenn das Jazz ist, dann ist es progressive Jazzrock. Third ist ein Doppelalbum (Vinyl), mit vier Tracks, jeweils um die 20 Minuten. Und hier wird meiner Meinung nach Jazz in psychedelische und meinetwegen auch „progressive“ Richtungen gedehnt. Mit Hopper, Wyatt, Keyboarder und Bandgründer Mike Ratledge und Saxophonist Elton Dean war da der nächste Prog-Act ohne Gitarristen, und wieder hört man, wieviele Varianten des Progressiven Rock man finden kann. Der Opener „Facelift“ ist purer Free-Jazz. Elton Dean lässt das Sax anständig blöken, Bass und Drums sind ein Regen aus Rhythmen und Klustern, Ratledge’s Keyboards macht Sounds, die man nur in Canterbury hört… Man vergleiche mal mit Caravan – der freundlichen Schwester-Band von Soft Machine. Auch Ratledge’s „Slightly All the Time“ ist Fusion Jazz mit gerade genug britishness, dass man sich fragt, was mit dem Jazz geschehen ist. Elton Dean stiehlt zuerst die Show, aber was Hopper am Bass macht und wie Wyatt seine Drums klöppeln und klappern lässt, ist beeindruckend. Seite 3 der LP hat den einzigen Track mit Gesang. Bei „Moon In June“ singt Robert Wyatt mit seiner Kinderstimme und man kann erkennen, warum er nach Fourth (’71) die Band verließ. Die Kollegen haben ihm bei diesem Track kaum geholfen, und rein instrumentaler Jazz war nicht Wyatt’s Ding. Auch wenn dieser Track scheinbar ziellos dahinfließt, ist er anders als das, was der Rest der Band machte. Zuletzt zeigt Ratledge mit „Out-Bloody Rageous“, welche Art Jazz er sich bei Frank Zappa abgehört hatte. Nicht missverstehen. Soft Machine waren zu keinem Zeitpunkt Imitatoren. Dazu hatte diese Band viel zuviel Charakter, dazu ist der Canterbury Sound zu eigenartig. Hier hat man: Prog-Jazz mit mitunter schwärmerisch-schönen Passagen, aber auch mit verschrobener Kraft und dann wieder Passagen von wunderbarer Leichtigkeit. All das sind nur Worte, um einzigartige Musik zu beschreiben. Wer Prog kennenlernen will, braucht die ersten drei Alben von Soft Machine.
Caravan
If I Could Do It All Over Again, I’d Do It All Over You
(Deram, 1970)
Caravan ist die andere Band, die aus den Wilde Flowers entstand: Richard Sinclair (b), sein Bruder David (key), Pye Hastings (g) und Richard Coughlan (dr) taten sich nach der Urzelle zusammen, um weniger am Jazz orientierte Musik zu machen. Man kann sagen, dass hier die „schönen“ Elemente des Sounds, den man bei Soft Machine findet… den man in der Canterbury Scene findet (!) auf’s vortrefflichste zusammenfanden. Schon das Debüt hatte einen äußerst eigenständigen Sound gehabt, bei If I Could Do It All Over Again I’d Do It All Over You (ein Bob Dylan-Zitat…) war der Stil dieser Band definiert. David Sinclair’s extrem effektiver und stark verzerrte Hammond-Sound macht einen großen Teil des Reizes von Caraven aus. Bedenke: 1970 war es keine Peinlichkeit, zu solieren. Das war begeisternder Spaß. Und D. Sinclair war ein Meister seines Faches. Nicht im Sinne des klassisch aufgebildeten Kraftprotzes Keith Emerson, sondern songdienlich, melodieverliebt. Sein Bruder lieferte eher Background, Bassist und Drummer waren auch hervorragende Musiker – aber eben nicht dermaßen in Jazz-Fingerübungen vertieft. Und vor Allem: Die hatten „Songs“. Auch wenn die fröhlichen, leicht spinnerten Melodien oft nur als Startpunkt für wilde Exkursionen dienten – sie hielten die Songs zusammen. Schon der Kanon-Gesang im Titeltrack und Opener zeigt, was man bekommen wird. „And I Wish I Were Stoned/ Don’t Worry“ hat fast feierliche Momente und wird zur lustvollen Leistungsschau. Den Gesang teilten sich Hastings und Richard Sinclair. Der ist einerseits schwächlich – aber die Beiden machen das Bestmögliche daraus indem sie immer wieder im Chor singen. Caravan’s Musik klingt nach Spaß, ein bisschen verschroben, aber voller Freude an der eigenen Musik. Und wie Die klang keiner – auch Soft Machine nicht. Man hätte sich Robert Wyatt eigentlich besser bei Caravan vorstellen können. Er arbeitete bei seinem Soloalbum ja auch mit David Sinclair zusammen. Höhepunkt ist die Suite „Can’t Be Long Now / Françoise / For Richard / Warlock“. Da ziehen sie alle Register, sind melodisch reich, leicht bekifft und zugleich völlig konzentriert in ihren jeweiligen Soli. Mit dem Nachfolger In The Land of Grey and Pink machten Caravan ’71 DAS Canterbury-Album, das man besitzen muss. Aber if I Could… ist nur um ein geringes schwächer. Völlig eigenständiger Canterbury-ProgRock.
Robert Wyatt
The End of an Ear
(CBS, 1970)
Siehe Soft Machine’s Third – Robert Wyatt ist ein fantastischer Drummer, ein einfallsreicher Komponist, dessen Musik genau genommen KEINEM Genre wirklich zugeordnet werden kann. Er ist eine der formativen Figuren der Szene in und um Canterbury. Und bei Soft Machine wurde ihm das Korsett durch die Hinwendung der Band zum instrumentalen Jazz zu eng. Er hatte genug eigene Ideen, um sein erstes Solo-Album zu machen. Dass er mit der Entscheidung der Band, seine Stimme als Instrument nun zu ignorieren, nicht einverstanden war, kann man schon daran erkennen, dass er auf The End of an Ear „Mouth“ als Instrument aufführt und seinen Scat-Gesang auch so einsetzte. Er lud ein paar Kollegen aus der regen Londoner Szene ein, bat auch Elton Dean von der eigenen Band ins Studio… und machte das, was auf Third ganz gut geklappt hatte, nun als Soloalbum. The End of an Ear ist selbstverständlich toll musiziert, aber Wyatt würde weit bessere Solo-Alben machen. Sein Meisterwerk Rock Bottom kam 1974, nachdem er aus dem Fenster gestürzt war und nicht mehr trommeln konnte. Auf The End of an Ear lotete er die Möglichkeiten seiner Stimme aus. Er ließ die Tracks – ganz Third-like – ausfransen und ausufern, er hatte wenig Interesse am „Song“ sondern probierte avantgardistische Musik mit Stimme aus, so wie man das in diesen spannenden Zeiten in der Progressive-Szene London’s machte. Da er mit David Sinclair den Keyboarder der Kollegen von Caravan dabei hatte, vermute ich, dass „To Caravan and Brother Jim“ auch ein bisschen songorientierter durfte. Aber das Album ist schwere Kost für den Genesis-Fan. Schon der Einstieg mit Gil Evans‘ „Las Vegas Tango Part 1“ strengt an mit acht Minuten wortlos gelalltem Scat-Gesang und komplexem Jazz-Drumming. Und das mit einer Stimme, die an die Chipmunks erinnert… Das war und ist nicht jedermanns Sache und es ist auch kein ProgRock im Sinne der zuvor beschriebenen Alben. Aber Jazz war Teil des Progressive Rock und Robert Wyatt war (wie Elton Dean, der ja hier mitmachte) als großer Free Jazz-Fan Teil des Geschehens. Ich will den melodieverliebten Genesis-Hörer also warnen. The End of an Ear wird nicht your cup of tea sein.
Kevin Ayers and The Whole World
Shooting at the Moon
(Harvest, 1970)

Auch Kevin Ayers war ’64 bis ’65 als Sänger bei den Wilde Flowers. ’66 gründete er mit Robert Wyatt, Mike Ratledge und Daevid Allen (der inzwischen mit Gong in Frankreich tätig war…) Soft Machine… und stieg nach dem ersten Album und der US-Tour als Vorband von Jimi Hendrix aus. Der lange Tourstress, aber auch die musikalische Ausrichtung der Kollegen waren nicht seins, er ging zum Kollegen Daevid Allen nach Ibiza und ruhte sich erstmal aus, ehe er ’69 sein erstes Solo-Album Joy of a Toy einspielte… natürlich mit Leuten aus der Szene (Hopper, Sinclair, Wyatt, Ratledge, etc.). Für die Tour zum Album (wieder chaotisch… das war zu dieser Zeit wohl so…) stellte er die Band The Whole World zusammen. Und wer alles dabei war!! Der 17-jährige Mike Oldfield (siehe Tubular Bells), der Free-Jazz-Saxophonist Lol Coxhill und der klassisch ausgebildete Komponist und Lehrer David Bedford. Mit dieser Band ging es ins Studio in London um den Nachfolger Shooting at the Moon einzuspielen. Man mag ja feststellen, dass die Ideen all over the place waren – Der Free-Jazz Anteil ist hoch, es wird fröhlich experimentiert, Studiostricksereien, Überbleibsel von Ayers Zeit bei Soft Machine, der leichte Wahnsinn, der mit zuviel Drogen einhergeht. Aber dann auch wieder Ayers‘ unverkennbarer Spaß an Pop. Der Opener „May I“ ist ein Ohrwurm, das anschließende „Reinhardt and Geraldine“ ist experimentell und erinnert an Soft Machine auf den ersten beiden Alben. Dazu noch Ayers‘ prängnante sonore Stimme… der ist immer wiederzuerkennen und klingt nie banal, hat neben Robert Wyatt (der hier auch trommelte) die beste Stimme aus dem Canterbury-Umfeld. Shooting at the Moon mag Manchem ZU experimentell sein, „Lunatics Lament“ klingt wie es heisst. „Pisser Dans Un Violon“ ist pure Avantgarde. Aber Songs wie „Red Green an You Blue“ versöhnen doch!! Es ist ein schlaues, immer interessantes Album, eingespielt von Virtuosen, die nichts beweisen wollen. Und wem DAS was bedeutet – im Wire Magazin gehört Shooting at the Moon der ehrenvollen Liste der „100 Records That Set The World On Fire (When No One Was Listening)“ an…
Daevid Allen Gilli Smyth / Gong
Magick Brother
(BYG, 1970)
Und hier der letzte Canterbury Protagonist, der direkt aus der Ursuppe Wilde Flower/ Soft Machine/ Caravan entstiegen ist: Der Australier Daevid Allen durfte nach der ’67er Tour von Soft Machine nicht wieder ins UK einreisen (Drogen?) und blieb in Frankreich hängen. Dort tat sich Allen mit der britischen Art-School Intellektuellen und Literatur-Professorin Gilli Smyth zusammen, die bei Soft Machine-Konzerten schon ihre Gedichte performt hatte. Man geriet in die ’68er Studenten-Proteste in Paris, verteilte Teddybären an Polizisten und musste nach Mallorca fliehen, wo man mit dem Freund/Kollegen Kevin Ayers ein paar ruhige Wochen verbrachte und den Jazz-Saxophonisten Didier Malherbe in einer Höhle lebend vorfanden und für die geplante Band verpflichtete. Daevid Allen war ein versierter Gitarrist, ein einfallsreicher Songwriter mit beiden Beinen im FreeJazz (er hatte ’62 mit dem da gerade 16-jährigen Robert Wyatt ein Free Jazz Trio gehabt) und passt so ins Canterbury-Portfolio. Aber er hatte die Freiheit des Hippie-Traums verinnerlicht – und durfte nach der Rückkehr nach Paris ’69 mit Gong das Debütalbum aufnehmen, das dann Anfang ’70 erschien. Dass Allen – ganz wie das Vorbild Sun Ra – die Vision des Planeten Gong als Grundlage für eine dekaden-lange Karriere nutzte, ist für die Alben dieser Band sicher wichtig. Es lässt die Musik von Gong im angemessen kosmischen Licht leuchten. Und die vier Gong-Alben bis 1974 sind allesamt Pflicht! Immerhin war Magick Brother noch nicht komplett erleuchtet. Man war noch auf der Suche… aber der Weg war das Ziel und das Album ist ein echtes period piece. Mit einigen ziemlich gelungenen Songs, aber auch mit Experimenten, die man in solchen Zusammenhängen erwarten kann. Mit Noise-Collagen wie „Princess Dreaming“, aber auch mit konzisen Songs wie „Change the World“ oder dem „Gong Song“. Es ist psychedelic at its most psychedelic, und die Freak-Folkies der 00er dürften Gong gut genug kennen. Aber wer „5 and 20 Schoolgirls“ hört, kann auch direkt einen Bezug zu Canterbury, Caraven und Soft Machine herstellen. Magick Brother ist Proto-Gong. Sie tauchten erst mit dem Nachfolger Camembert Electrique komplett in ihr Universum ab. DAS ist mal ein tolles Album!!
Egg
s/t
(Deram, 1970)
Nun eine der weniger bekannten Bands der Canterbury Scene. Egg hatten vor einem Jahr unter dem Pseudonym Arzachel eines dieser vergessenen Kleinode des ProgRock gemacht. Da war noch der demnächst bei Khan und dann bei Gong (AHA!) brillierende Gitarrist Steve Hillage in der Band gewesen. Dass Egg sich eigentlich Uriel nannten und vom Management überredet wurden, diesen Namen zu ändern, weil er zu sehr nach „Urinal“ klänge, ist ein kleines Bonmot, das erwähnt sein muss. Der Kopf hinter dem verbliebenden Trio war Dave Stewart – wieder eines dieser damals weit verbreiteten Tasten-Genies. Der hatte mit Mont Campbell (b) und Clive Brooks (dr) die Typen an der Hand, die man für eines dieser gern genommenen Power-Trios brauchte. Dass Stewart demnächst bei der Band Hatfield and the North deren Dave Sinclair (siehe Caravan… wenn du noch durchblickst…) ersetzen würde… na ja – es war eine inzestuöse Szene, der er da angehörte. Mit Egg machte Stewart drei Alben, die jeden ELP-Fan lehren könnten, WIE man auch ohne Lametta beeindrucken kann. Stewart hatte natürlich flinke Finger, er wusste, was man spielen kann, er ließ seine beiden sehr kompetenten Kollegen mitgestalten, und er hatte die klassische Klavierschule hinter sich, die ihn ebenfalls dazu verleitete, Bach’s Fuge in D-Moll, Stravinsky’s Rites of Spring sowie eines der Themen von Gustav Holst’s „Planeten“ zu interpretieren. Sowas war 1970 scheinbar Pflicht. Aber die Band hatte eben auch ein paar gute eigene Songs… und Egg klang – im Gegensatz zu Emerson Lake & Palmer – wie aus einem Guss. Natürlich waren die Keyboard-Ergüsse dominant. Aber diese Band spielte schon eine ganze Weile zusammen und der Sound war gefunden. Egg ist experimenteller, als es einem größeren Erfolg zuträglich wäre. Aber die Eigenkompositionen „While Growing My Hair“ und „I Will Be Absorbed“ sind wirklich gelungen. Und die Stimme des Bassisten Mont Campbell ist wirklich gut. Und dann ist da noch „The Song of McGillicudie the Pusillanimous (Or: Don’t Worry James, Your Socks Are Hanging in the Coal Cellar With Thomas)“… Rasant, absurd, melodisch reich, eine Tour de Force. Und ein weiteres wunderbares Beispiel für den Sinn von Prog Rock…
Carol Grimes and Delivery
Fools Meeting
(B & C Rec, 1970)
In der Menge der Alben psychedelisch-progessiver Art mag es ja verständlich sein, wenn das eine oder andere verloren ging… aber schade ist es schon, dass Fools Meeting von Delivery 1970 dermaßen ignoriert wurde. Dies war eine Band aus einigen der besten Instrumentalisten der Canterbury Scene: Phil Miller (g), sein Bruder Steve (p), Pip Pyle (dr) und Roy Babbington (b, g)… man würde sie demnächst in allen möglichen Side Projects rund um Wyatt/Soft Machine finden. Dazu halfen im Studio noch Richard Sínclair von Caravan und Lol Coxhill, der großartige Saxophonist, dem wir bei Kevin Ayers begegnet sind. Es war ein All-Star Cast, der mit Carol Grimes auch noch eine beeindruckende Sängerin für Fools Meeting an Bord genommen hatte. Die war keine Blues-Shouterin, sondern eher eine dieser Ausdrucks-Sängerinnen a la Grace Slick. DER Vergleich wird immer wieder gerne genannt. Aber Delivery waren definitiv keine Westcoast-Psychedelic Band. Die jazz-verliebten Improvisationen, die melodischen Spielereien – ja, auch der Sound dieser Band erinnert an Soft Machine und Caravan… mit einer Sängerin eben. Tatsächlich verlangten B & C Records, dass dieses Album unter dem Namen Carol Grimes & Delivery firmiert… ob die Musiker das so toll fanden, weiss ich nicht. Das Ergebnis immerhin lässt sich wirklich hören. Carol Grimes hat eine sehr wiedererkennbare Stimme, singt eher jazzy, aber mit sehr viel Begeisterung… she sings her heart out… es ist eine Art des Vortrages, der 2024 seltsam unmodern klingt. Die Songs wiederum sind ein Bett für die schönsten Improvisationen. Bei „We Were Satisfied“ stößt die Band in King Crimson-Gefilde vor. Vor allem Lol Coxhill lässt deren Mel Collins bei seinen Saxophon-Ausbrüche hinter sich. Und dann haben Delivery mit Phil Miller ja auch noch einen sehr fähigen Gitarristen… Das findet man bei diesen Canterbury Bands selten. Fools Meeting ist abwechslungsreich, es ist ein Album, das aus dem Sound dieser Szene wegen seiner famosen Sängerin heraussticht, es ist voller packender Songs, die mit großem Engagement eingespielt wurden… aber leider ging die Band nach den Aufnahmen auseinander und ihre Mitglieder schlossen sich den erfolgreicheren Acts der Szene an. So gingen tolle Songs wie „Miserable Man“ oder „Is it Really the Same“ dem Gedächtnis verloren. Immerhin hat Fools Meeting Kult-Status – und ist nur für viel Geld zu bekommen. Eine Änderung dieses Umstandes wäre wünschenswert
Supersister
Present From Nancy
Polydor, 1970)
Wie gesagt – die Canterbury Scene strahlte schon früh ins (europäische) Ausland aus. So kann man die niederländische Band Supersister sehr zu Recht mit Bands wie Caravan, Soft Machine und Konsorten vergleichen. Und freilich hatte die Band aus Den Haag keinen Gitarristen, dafür einen virtuosen Keyboarder und Sänger namens Robert Jan Stips, mit Sacha Von Geest eine prominente Flöte im Soundbild und mit Marco Vrolijk (dr) und Ron Van Eck (b) das Canterbury-typische flinke Rhthmyus-Gespann, das Alles spielen konnte. Auch musikalisch sind die Ähnlichkeiten mit den Ur-Bands dieser Szene frappant. Allein schon der Klang der Keyboards… Nicht missverstehen – es gab im Progressive Rock der Dekadenwende viele sehr fähige Keyboarder – siehe Keith Emerson oder Dave Stewart. Aber den stark verzerrten Hammond-Sound kennt man eigentlich nur aus Canterbury. Und auch die Art zu improvisieren, die nicht so sehr klassik-beeinflusst, sondern eher jazz-nah ist… Dazu auch noch die verqueren Tracks, die auf Present From Nancy sicher etwas näher am Jazz sind, als bei Caravan, nicht ganz so british distinguiert, zugleich aber ebenfalls absurd. Niederländisch absurd, würde ich mal sagen. Was demjenigen einleuchtet, der Robert Jan Stips Nachfolgeband The Nits kennt (!!). Und wer die Vergleiche braucht – Present From Nancy ist weiter weg von Third von Soft Machine als von Caravan. Nichts klingt verkopft, der Albumcloser „Dona Nobis Pacem“ – der sich natürlich auf eine Fuge von Beethoven bezieht – bekommt am Ende noch eine Zirkuszelt-Behandlung. Das Beste aber sind die beiden ersten Tracks – drei- bzw. zweiteilige Suiten, bei denen voller Freude improvisiert wird, ohne dass der Song vergessen wird, ohne blödes Muskelspiel, immer im Interesse der Melodie. Und wer die Esoteric-CD mit Bonustracks erwirbt, der bekommt die Single „She Was Naked“, die der Band den Plattenvertrag verschafft hatte. Da haben wir den Pop, der in Canterbury entstand in Perfektion. Eines der besten Stücke dieser Szene. Sucht Present From Nancy in dieser Form…