Das Wichtigste aus 2015 – Der Islamische Staat und „Wir schaffen das“ – Kendrick Lamar bis Panopticon

Politische ist 2015 vom Terrorismus des islamischen Staates (ISIS) bestimmt. Terroranschläge diverser Art an verschiedensten Orten, zuletzt in Paris – was die „westliche“ Welt weit mehr in Erregung versetzt, als vergleichbare Attentate in afrikanisch/arabischen Staaten – dazu eine Organisation, die im vom Bürgerkrieg zerrissenen Syrien und im Irak einen eigenen Staat aufbaut.

Dazu Flüchtlingsströme aus von Terror und Bürgerkriegen geplagten Ländern, die im Sommer ’15 unaufhaltsam Richtung Europa und am liebsten nach Deutschland strömen und damit allen aufrechten Bürgern den Angstschweiß auf die Stirn treiben – man müßte ja evtl. etwas vom eigenen Reichtum abgeben. Insbesondere die konservativ/rechten Regierungen (Polen, Ungarn, Großbritannien) in der EU verweigern die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen, während die deutsche Kanzlerin mit ihrem „Wir schaffen das…“ einerseits eine kurze Welle der Hilfsbereitschaft auslöst, dann aber schnell von Rechts als Volksverräterin hingestellt wird – und zurückrudern wird. Derweil zeigt die Klimakatastrophe weltweit immer schlimmere Auswirkungen, während der Unwille der Industrie und der verantwortlichen Staaten, aufdämmernden Katastrophen mit unbequemen Maßnahmen gegenzusteuern unverändert anhält. Ende des Jahres kommt es zwar zu einem weiteren „Klimagipfel“, aber die dort vergossenen Tränen entstehen entweder bei der Selbstbeweihräucherung der Politiker oder durch die Verzweiflung der Wissenschaftler. Lemmy von Motörhead und B.B. King – einer der letzten großen Bluesmusiker aus der Zeit, als der Rock’n’Roll erwachsen wurde – sterben. Die Vermischung von elektronischer Musik und diversen Spielarten der Pop- und Rockmusik schreitet fort – mit beachtlichen Ergebnissen: In der jungen Generation ist der Einsatz des PC neben „traditionellen“ Instrumenten Alltag, junge Musiker sind meist mit Klangerzeugung per Computer aufgewachsen. So finden sich hier tolle Alben mit sehr diversen Sounds wie etwa Jamie xx oder SOPHIE oder Grimes etc… Kendrick Lamar macht das nächste beste HipHop-Album aller Zeiten, derweil wird manch tolles HipHop Album nur noch als Download veröffentlicht – und ich kann nicht anders, ich muss Lil‘ Ugly Mane hier loben, obwohl man seine Musik nur streamen oder ‚runterladen kann. Zum Weinen. Aber auch die etwas herkömmlichere Erzeugung von Popmusik via Gitarre, Bass, Drums bietet Spaß. Blur machen ein neues Album (mit viel Elektronik) Björk meldet sich wieder (dito), Joanna Newsom ist exzentrisch wie immer, Die New Wave of Post-Punk erscheint zum Glück auch auf physischen Tonträgern und ist immer noch spannend, die alte Oma Jazz wird von Kamasi Washington populär wiederbelebt, extreme Musik wie Black Metal und Noise Rock funkeln in bunten Facetten, Alles sehr erfreulich – wenn man Banalitäten wie Ed Sheeran außer acht lässt – was ich tue…

https://music.apple.com/de/playlist/der-gro%C3%9Fe-rockhaus-2015/pl.u-KVXBD8vFZPeajl8

Kendrick Lamar
To Pimp a Butterfly

(Aftermath, 2015)

Der Hype um Kendrick Lamar zu Beginn der 10er war enorm… und wohl durchaus auch berechtigt. Sein 2011er Mixtape Section 8.0 war schon fast perfekt, sein erstes reguläres Album good kid m.A.A.d. City war konkurrenzlos das beste Album des Jahres 2012. Dann hatten die Fans die star-kompatible Wartezeit von drei Jahren auszuhalten, bis der Herr des HipHop sich zur nächsten „Äußerung“ herabließ. Er hatte inzwischen weltweit getourt, mit diversesten Idolen schwarzer Musik konferiert, war in Südafrika gewesen, und hatte einen Schub an Inspiration und Motivation erfahren. Er hatte den kleinen Prince aus Minneapolis kennengelernt, die hipste Jazz- und Elektronik-Posse um sich geschart (insbesondere Flying Lotus und Kamasi Washington hatten mit ihm Ideen ausgetauscht) Marvin, Miles und Parliament gehört… und wie das so ist mit den braven Kindern der Post-Moderne – all diese Einflüsse brachten nicht etwa Verwirrung, sondern wuchsen zu einem genialen, eklektizistischen Album zusammen. Man kann es ja spaßeshalber mal versuchen, die einzelnen Einflüsse aus dieser Komglomerat-Musik heraus zu isolieren… oder man hat Spaß, genießt in unvoreingenommenem Erstaunen die Vielschichtigkeit und Schönheit von To Pimp a Butterfly. Lamar nutzte schlicht seine Kenntnis über die Musik der Black People in den USA, er machte ein HipHop-Album, das funky ist, das Soul und R’n’B nutzt, das den Blues kennt, und das tief im Jazz verwurzelt ist. Die Produktion ist lässig, nie zu clean, nie zu dreckig, wunderbare Beats, Musiker vom Feinsten – und alles fließt wie selbstverständlich zusammen. Ein Radiohead-Zitat bei „How Much a Dollar Cost“ fügt sich genauso in das Gesamtkunstwerk ein, wie der pure Hardcore Rap von „The Blacker the Berry“. Noch immer ist Lamar’s Stimme der einzige Schwachpunkt, an den man sich gewöhnen muss… aber ein virtuoser Rapper und Texter ist er definitiv. Und wenn man die musikalischen Elemente erfasst hat, darf man sich mit den Texten auseinandersetzen: Schon good kid m.A.A.d. City war Literatur in Rap, hier setzte sich Lamar mit der Geschichte der Afro-Amerikanischen Bevölkerung auseinander. Mit den aktuellen Black Lives Matter-Themen, mit rassistischer Polizeigewalt, aber auch mit der Gewalt innerhalb seiner Community (was ihm auch Kritik einbrachte…). „I“ wiederum ist hoffnungsvoll, voller Stolz – und mitreissender Funk mit rasanten Raps und Party-Atmosphäre. Man kann eigentlich über jeden Text nachdenken, findet in jedem Track Details, die ihn besonders machen, bekommt ein abwechslungsreiches, kluges Album mit all dem, was schwarze Musik hervorragend gemacht hat. Es war – fast – ein Wunder, dass Lamar die Erwartungen nach dem Vorgänger nicht nur erfüllte, sondern sogar übertraf. Aber er schaffte es – und wir bekamen DEN definitiven Klassiker der 2010er. Nothing less.

Kamasa Washington
The Epic

(Brainfeeder, 2015)

Wer das hier liest, mag den Hinweis auf Kamasi Washington bei meiner Beschreibung zu To Pimp a Butterfly bemerkt haben. Und Washington stößt nicht bloß bei Lamar’s „U“ ins Horn. Er ist in der schwarzen Community eine Inspiration, deren Kraft und Bedeutung man 2015 auf dem 3-LP Mammutwerk The Epic bewundern kann. Er hat auch beim famosen 2014er Flying Lotus Albums You’re Dead mitgemacht. In diesen Tagen scheinen sich Jazz, HipHop, und elektronische Musik auf’s wildeste zu befruchten. Wobei man – wenn man hinhört – sagen muss, dass The Epic zum Einen etwas zu lang ist (fast 3 Stunden), zum Anderen darauf hinweisen mag, dass Washington’s Musik ein Konglomerat aus Klassikern des Jazz ist. Da ist das Narrativ von Mingus’s ’63er Meisterwerk (und BESTEM Jazz-Album ever) The Black Saint and the Sinner Lady, da treffen die orchestralen Crescendos von Song of Innocence (von David Axelrod) auf das elegant virtuose Saxophon von Coltrane bevor er abhob auf die Chöre eines Max Roach bei seinem ’62er Meisterwerk It’s Time. Aber genau das belebt den Post Bop und den Spirtual Jazz der 60er neu. Wie gesagt: Versatzstücke. Aber welche Musik wird seit den 00ern NICHT aus bekannten Teilen zusammengesetzt? Man kann Vieles von all dem in der „Eröffnung“ des Openers „Change the Guard“ finden. Ein Chor, der an Raumschiff Enterprise erinnert, ein fliegendes Piano, dann steigt Washington’s Sax auf und Miststreitern wie Bassist Steven „Thundercat“ Burner brilliert virtuos. All das kommt mit der Wucht und Begeisterung, die Jazz zu Kunst werden lässt. Und dass ich 50+ Jahre alte Meisterwerke zum Vergleich heranziehe… die boten zeitlosen Jazz. The Epic ist also kein musikalisches Kind seiner Zeit, wie das letztjährige You’re Dead! vom Freund und Kollegen Flying Lotus, sondern die Fortschreibung einer Musik, die zwischendurch versunken schien. Der Einfluss, den dieses Epos auf die Wahrnehmung von Jazz in den kommenden Jahren haben würde, kann nicht überschätzt werden. Allein dass im epischen Format musiziert wird, passt in die Zwanziger. The Epic ist aufgeteilt in die drei Teile The Plan, The Glorious Tale und The Historic Repetition, und wer will, mag die LP’s einzeln hören. Aber mit den sehr ausgefeilten Kompositionen und vor Allem mit diesem selbstbewussten Konzept traf Washington einen Nerv, der die Jazz-Szene in den USA und in England zum Zucken brachte (den aber ganz nebenbei Musiker/innen wie Matana Roberts schon zuvor angeregt hatten). Washington entstammte einer Szene in L.A., die sozusagen die „Alternative“ zum HipHop darstellte: Er und etliche der hier mitspielenden Kollegen hatten statt der Gangsta-Laufbahn die des Jazz-Musikers gewählt, hatten inzwischen als Session Cracks einen guten Ruf – und mit The Epic wurde IHRE Musik ein bisschen überraschend in neue Höhen katapultiert – künstlerisch und aben auch kommerziell. Jazz Improvisationen um wunderschöne Themen wie „Leroy and Lanisha“ und „Re Run“ sind lang, aber nie ZU lang. Wenn bei „Malcolm’s Theme“ ein Malcolm X Sample eingesetzt wird, mag das Gedanken an die Black Lives Matter Bewegung triggern (sollen) – aber The Epic steht auch ein bisschen über den aktuellen Themen. Und das kann man als positiven Faktor ansehen. Die Virtuosität – aber vor Allem die pure Schönheit von The Epic – ist das Pfund, das dieses Album so gewichtig macht.

Lil‘ Ugly Mane
Third Side of Tape

(Bandcamp, 2015)

Im einleitenden Text beklage ich es laut. Insbesondere im HipHop gibt es eine Reihe Künstler (und Labels…), die den physischen Tonträger offenbar als unnötig betrachten. Höchstens in Mini-Stückzahlen veröffentlichen Backwoodz Studioz oder Künstler wie Death Grips – oder eben dieser dennoch von mir empfpohlene Travis Miller aka Lil‘ Ugly Mane nur noch streambare Alben mit visionärer Musik. Innovativen HipHop, den man nur noch ‚runterladen kann. Eine Abwertung von Kunst, die hoffentlich irgendwann endet. Travis Miller aka Lil‘ Ugly Mane tanzte schon seit zehn Jahren auf allen möglichen Hochzeiten, er holte sich Inspirationen aus Noise, Black Metal, Free Jazz und natürlich aus dem HipHop. Vor 2010 hatte er zwei Black Metal Projekte am Start, drei Noise/Industrial Acts, ein Underground HipHop Projekt namens The Legacy – und seit 2010 veröffentlichte er diverse Alben und Mixtapes auf Bandcamp unter dem Lil‘ Ugly Mane Moniker. So kann man die 120+ Minuten von Third Side of Tape als eine Art Überblick über Miller’s Musik aus den letzten 10+ Jahren hören. Er versammelte auf sechs Tracks „…music I’ve made (mostly by myself) over the last 15 years that I forgot about, lost, hated or other people didn’t like when I attempted to play it for them...“ Nun – wer sich durch die zwei Stunden hindurchhört, hat die anstrengende/ anspruchsvolle Seite des HipHop der 10er gehört. Lil‘ Ugly Mane ist ein hervorragender Produzent, er weiss Beats zu setzen, er ist völlig furchtlos bei der Wahl seiner Mittel – da mag vieles LoFi sein – aber er weiss, wann er wie klingen will. Und auch wenn Third Side of Tape eine Compilation sein soll, scheint Lil‘ Ugly Mane geplant zu haben, was wo hin gehört. Die ca. 20-minütigen Tracks bestehen aus unterbrochenen Abschnitten, die durch den Sound und den Produktionsstil zusammengehalten werden. Zu beschreiben, was da zusammenfällt, sprengt schlicht den Rahmen, man muss da durch, um zu erleben, wie der Instrumental HipHop Part von „Side One-A“ zum Schluss in so etwas wie LoFi-Post Rock ausläuft… wie bei „Side One – B“ Techno in Gothic schwenkt …und das Ganze keinen Moment unpassend ist. Man mag dieses Album mit J Dilla’s Donuts (2006) vergleichen – nur dass Lil‘ Ugly Mane all seine Stilarten auswalzt. Der Mann hat Ideen und Skills für mehrere Karrieren. Ich muss erwähnen, dass Lil‘ Ugly Mane 2012 mit Mista Thug Isolation eines der besten Rap-Alben der 10er Jahre gemacht hatte. Einen Hybrid aus Cloud Rap und Southern HipHop, der nur wegen Kendrick Lamar’s good kid, m.A.A.d city nicht im Hauptartikel erwähnt ist (und weil man es nur ‚runterladen konnte).

Lil‘ Ugly Mane
Oblivion Access

(Download Bandcamp, 2015)

2015 kam mit Oblivion Access der „Abschluss“ der Lil‘ Ugly Mane Phase (…NOT – weil er den Namen 2021 dann doch wieder benutzte…). Travis Miller ist ein seltsamer Künstler. Er hatte – auch nach eigener Aussage – kein Interesse an einer „Karriere“ im Rampenlicht und er fand den Prozess des Erschaffens von Musik weit interessanter, als das Endprodukt. Das mag zu der Nachlässigkeit gegenüber den Konsumenten beitragen, die gerne ein Album als Endprodukt in den Händen hätten. Nun – wie Mista Thug Isolation gab es auch Oblivion Access dann irgendwann auf einem kleinen Label als Vinyl-LP, die sofort ausverkauft war und inzwischen nur noch für absurde Summen zu bekommen ist. Sehr ärgerlich, weil auch dieses Album wieder anders ist, wieder mit Ideen und Konzepten für genze Karrieren vollgestopft ist und trotzdem ein kohärentes Ganzes in 44 Minuten bildet. Hier war Travis Miller offenbar im Black Metal-Mood. Das Album ist so misanthropisch, wie man es nur von Bands wie Burzum oder Gorgoroth kannte. Die Musik aber ist abstrakter Industrial, Noise, den man allein wegend der gerappten Lyrics mühevoll ins HipHop-Genre einpassen wollte. Man muss versuchen den Text von „Grave Within a Grave“ zu verstehen, man muss den dünnen Keyboard Sound hören – und versteht, dass hier jemand um seine geistige Gesundheit kämpfte. Miller ging durch eine wirklich harte Zeit, stellte sich und das ganze Leben in Frage – und kam nicht zu besonders positiven Ergebnissen. Dazu rappte er mit unverstellter Stimme, benutzte Sounds und Rhythmen, die man im HipHop bis da noch nie genutzt hatte und machte ein Album, das mit Nichts zu vergleichen war. Man konnte nur hoffen, dass Oblivion Access als Katharsis gemeint war, denn sonst wäre da keine Hoffnung geblieben. Aber wie gesagt – diese beiden Alben sind nur Facetten eines Künstlers, mit dem du dich nach diesem Artikel dringend beschäftigen solltest…

Sufjan Stevens
Carrie & Lowell

(Asthmatic Kitty, 2015)

Oblivion Access ist Lil‘ Ugly Mane’s persönlichstes Album. Und mit Carrie & Lowell gab es 2015 ein Album von einem stilistisch ganz anders gearteten Künstler, der sich ähnlich persönlich äußerte und damit ebenfalls ein aussergewöhnliches Album machte. Dass Stevens einer der ganz großen Songwriter seiner Generation ist, steht außer Frage, und mich beeidnruckt immer wieder, wie er seine Alben um kluge Konzepte baut. Dass – und Wie – er auf Carrie & Lowell die schwierige Beziehung zu seiner Mutter behandelt, ist zutiefst berührend, nachvollziehbar und von großer „Schönheit“. Ja – „schön“ ist immer wieder das Attribut, das mir selbst zu seinen finstersten Songs einfällt. Entwaffnend schlichte Gitarren- und Piano-Figuren und Synth-Flächen untermalen hier herzzerreißende Bekenntnisse. Stevens Mutter war drogensüchtig, war schizophren, hatte ihn als kleines Kind verlassen und war 2012 an Krebs gestorben. Seine letzten Besuche bei ihr im Krankenhaus zum Thema eines Songs zu machen, ist sicher eine schockierende Form der Selbstentblößung. Man muss nur die Lyrics zu „Fourth of July“ lesen. Und dass dieser Song so anrührend ist, zeigt Stevens‘ Umgang mit seiner Kunst und seinem Leben. Er sagte speziell über dieses Album „This is not my art project; this is my life.” Es ging ihm darum, den Zeitraum zwischen seinem 5. und 8. Lebensjahr zu beschreiben, als er mit seiner Mutter und ihrem damaligen Partner – Lowell – wieder Kontakt hatte. Der wiederum hatte ihn auch nach der Trennung von Carrie weiter begleitet und ihm geholfen, sein Label Asthmatic Kitty zu gründen. Natürlich ist vieles auf diesem Album tieftraurig, etwa wenn Stevens beim Song „Eugene“ (der Name eines Ortes, den er mit dem Zusammensein mit seiner Mutter verbindet) immer wieder singt „…i just wanted to be near you“. Die Wirkung der Aufnahmen zu diesem Album waren zunächst wohl nicht wirklich befreiend. Danach ging Stevens nach eigenen Aussagen durch eine Zeit, die von Trauer und Suizid-Gedanken und durchzogen war. Er ist im letzten Song des Albums gänzlich untröstlich darüber, dass er erst kurz vor ihrem Tod seiner Mutter nah kam. Und dass er niemanden finden wird, der ihre Stelle einnehmen könnte. All diese Songs hatte Stevens in Fragmenten ohne großen Aufwand aufgenommen. Sein Freund und Produzent Thomas Bartlett – der gerade seinen Bruder an den Krebs verloren hatte – fasste all die Schnipsel zusammen und sagte dann: „These are your songs. This is your record.“ Es mag sein, dass dieses Album für Stevens wegen seiner spartanischen Instrumentalisierung nicht als art project gilt. Aber Kunst liegt ja im Auge des Betrachters…

Joanna Newsom
Divers

(Drag City, 2015)

Eine schöne Konstante in der Populärmusik – es gibt immer wieder Künstler, deren Musik sich ständig auf hohem Niveau weiterentwickelt. Neil Young, PJ Harvey, Radiohead… sie alle haben über Jahre hinweg große Alben gemacht. Und Joanne Newsom ist – genau wie Julia Holter – eine der Singer/Songwriterinnen, deren neue Alben jedes mal eine Bereicherung sind. Nach Ys (2006) und dem Mammutwerk Have One on Me (2010) erwartete man zu Recht auch vom nächsten Album Großes… und bekam mit Divers die erhoffte Steigerung. Wobei diese Musikerin bei all ihrem überbordenden Talent immer ein acquired taste bleiben wird. Ihre Musik ist so artifiziell wie ihr Hauptinstrument, die Harfe. Dazu stellen sich die Fragen: Sind ihre mäandernden Songs mit den komplexen philosophischen Texten Folk? Klassische Musik? Aus welchem Jahrhundert kommt diese Frau? Ihr viertes Album Divers spielte sie ohne „Rock-Instrumentarium“ ein. Nur Synthesizer-Texturen spielten eine große Rolle, Newsom selber arbeitete mit 15 weiteren Instrumenten, um einen Sound zu schaffen, der Divers gänzlich in einen eigenen Kosmos schoss. Dass ihre Songs auf diesem Album kürzer waren, als auf den beiden Alben zuvor, machte sie dennoch nicht einfacher. Aber – sie waren „..connected narratively, in a really tight, close way...“ Und selbstverständich behandelte sie die großen Themen: Krieg und Liebe, Tod und Leben – aber Newsom erzählt Geschichte(n), indem sie auf immer kleinere Details eingeht, sie fällt für jeden Song in ein rabbithole – und will da auch nicht mehr ‚raus. So werden ihre Texte zu Wortkaskaden, die eine „normale“ Strophe/Refrain/Strophe Struktur nicht einmal zuließen. Die Frage, ob Joanna Newsom bei ihrem melodischen Ideenreichtum vielleicht einen „Hit“ schreiben könnte, ist obsolet. Vor übersprudelnden Songreigen wie „Sapokanikan“ oder „A Pin-Light Bent“ mag man staunen, aber Fragen nach möglicher Popularität sind banal. Und dann ist da diese Stimme! Ein lautes, schrilles Quäken! Oder ein kehliges Flüstern? Singt da die kleine Schwester von Kate Bush? Bei vielen Songs – insbesondere, wenn die Harfe nicht gezupft wird – will man an die wunderbare britische Musikerin denken. Aber Joanna Newsom hat ihre eigene Welt erschaffen. Divers ist die Kulmination ihrer bisherigen Kunst. Ist Folk und Barock und Klassik und bild/wortgewaltiges, wunderschönes Songwriting. Divers ist Joanna Newsom in konzentrierter Form IST Kunst. Dieses Album konkret zu beschreiben fällt sehr schwer. Daher – man muss es hören und erleben.

Björk
Vulnicura

(One Little Indian, 2015)

…was ich über die Konstanten in der Popmusik gesagt habe, gilt auch für die Isländerin Björk Guðmundsdóttir. Ihre ersten Alben Debut (’93) und Post (’95) werden von mir in den jeweiligen Hauptartikeln gelobt. Homogenic (97), der darauf folgende zauberhafte Soundtrack Selmasongs (’00), dann die beiden artifiziellen Alben Vespertine (im Hauptatrtikel ’01…) und Medulla (’04) sind allesamt eigenständig, grenzüberschreitend, hervorragend… Joanna Newsom und Björk haben einiges gemein, aber Newsom muss erst einmal da hinkommen, wo Björk mit ihren 50 Jahren angelangt ist. Nach zwei weiteren, vielleicht etwas ZU abgehobenen Alben kam mit Vulnicura ein weiteres Meisterwerk. Björk war schon immer multimedial unterwegs gewesen und sie war inzwischen im Kultur-Establishment angekommen. So sollte Vulnicura eigentlich zu einer Ausstellung über Björks Werk im NY Metropolitan Museum of Modern Art veröffentlicht werden. Aber – die Musik wurde geleakt, und so veröffentlichte Björk das Album zwei Monate vor der Ausstellung. Für das vorherige Album/ Projekt Biophilia hatte sie etliche technischen Spielereien (Apps, extra erfundene Instrumente) genutzt und die Musik war hinter dem Konzept fast verschwunden. Inzwischen hatte sie die Technik im Griff und mit dem/der venzuelanischen Produzentin Künstler/in Arca eine/n Bruder/Schwester im Geiste an der Seite. Die Inspiration zu den neuen Songs war schmerzhaft: Vulnicura ist ein aus den lateinischen Worten vulnus (Wunde) und cura (Heilung) zusammengesetzter Begriff der sich auf ihre zerbrochene Beziehung zum Filmemacher Matthew Barney bezog – aber die Songs die herauskamen waren dennoch voll der Wärme, der ausserweltlichen Melodik, der seltamen Wendungen, die schon Björk’s früheren Alben so wunderbar gemacht hatten. Dass sie dazu mit ihrem eigenen Umgang mit Arrangements, mit dem Genie Arca und mit einem weiteren Produzenten (Haxan Cloak) wieder einen auf dieses Album zugeschnittenen Sound erfand… dass ihre Neugier und ihre unakademische Art Songs und Strukturen zu schaffen wieder eine neue Facette ihrer Kunst aufleuchten ließ, war ein Segen. Und das, obwohl die Themen der Songs doch so schmerzhaft und persönlich waren wie nie zuvor. In sechs von neun Songs beschrieb sie das Ende ihrer Ehe und den Zerfall ihrer Familie – Barney und sie haben eine Tochter, und das Erschaffen dieser Songs war laut Björk ihr Weg, den Schmerz zu überwinden. Sie schrieb für Songs wie den Opener „Stonemilker“ Streicherarrangements, im Text dazu beschrieb sie ihre Gefühle neun Monate vor der schon geahnten Trennung, Arca versorgte den fertigen Track mit elektronischen Strukturen und Beats. Das sechs-teilige Tagebuch der Zerstörung einer Beziehung mag textlich bitter sein – aber bei aller herausblutenden Wut und Trauer wirken die Songs enorm inspiriert und kathartisch. Und beim siebenten Track „Atom Dance“ – ebenfalls um verdrehte Streicher komponiert und getextet – sang Anohni mit. Und wieder hatte man einen dieser seltsamen Songs, die sich allen gängigen Strukturen verweigern, die aber dennoch von anrührender Schönheit sind. Björk hatte erneut bewiesen, dass sie einmalig ist.

Julia Holter
Have You in My Wilderness

(Domino, 2015)

Ich hatte sie im Zusammenhang mit Joanna Newsom erwähnt. Beiden Künstlerinnen gegenüber nicht ganz gerecht…. Julia Holter hatte mit ihren Loud City Songs 2013 ein konzeptuelles Meisterwerk voller eigenständiger, komplexer und ästhetisch erfüllender Songs geliefert. Auch bei ihr durfte man hoffen, dass der Nachfolger eine Weiterentwicklung werden würde, die das vorherige Album nicht schlechter machen würde -vielleicht neue Facetten ausleuchten würde. Allerdings ist Julia Holter’s Musik im Vergleich weniger offen exzentrisch, als die von Björk oder Joanna Newsom… was ja auch erholsam sein kann. Die scheinbare Normalität mag in ihrer Stimme und im von ihr gewählten Instrumentarium liegen. Sie schafft keine elektronischen Strukturen und auch die Harfe wird nicht gezupft. Aber Have You In My Wilderness ist – wie der Vorgänger – dennoch auf die bestmögliche Art avantgardistisch. Die studierte Komponistin arbeitete wieder mit dem Produzenten Cole M. Greif-Neill, die Songs basierten (wie bei Björk) auf Streicherarrangements, ein „Rock“ Instrumentarium gab es nicht, dafür Bass, Drums und Cello, Geige, Saxophon und Holter’s sehr schöne Stimme. Und dieses Mal kein Konzept hinter zehn Songs, die sie selber als „golden group of love songs“ bezeichnete. Dass ihr das konzept-lose Songwriting schwer fiel, dass die Sammlung von Liebesliedern ihrer Meinung nach nicht wirklich zustande kam, hört man schlicht und einfach aus Have You In My Wilderness nicht heraus. WAS man hört, sind Songs, deren melodischer Reichtum (ja – auch bei Julia Holter…) beeindruckt. Songs, die näher an den bekannten Strukturen gebaut sein mögen, die aber – wenn man sie genauer betrachtet – sehr weit von jedem „normalen“ Songwriting entfernt sind. Höre nur eine fröhliche Story wie „Everytime Boots“ mit seinem toll arrangierten Ende. Lass dich von dem hypnotischen Traum „Feel You“ in ein Balladen-Album leiten, bewundere das freie Saxophon beim „Night Song“. Julia Holter wollte Songs in der Tradition von Balladen aus den 60ern machen. Irgendwie hat das funktioniert, aber diese Frau war eindeutig ein Kind ihrer Zeit, hatte einen sehr individuellen Zugriff auf ihre Kunst. So gesehen ist Have You In My Wilderness das Joni Mitchell Album des Jahres. Und das meine ich als hohes Lob.

Carly Rae Jepsen
E·MO·TION

(Interscope, 2015)

Und jetzt zum POP!!! In der Tat – POP hat in den 00ern an Bedeutung und Niveau gewonnen. Oder hatte er das die ganze Zeit? Die Everly Brothers, die Beatles, die Beach Boys waren Popstars, Bowie, Kate Bush, Pet Shop Boys, MGMT… alles POP. Und wenn POP so dermaßen gut gemacht ist, so monumental produziert, das Songwriting und sogar die POP-Lyrics so gut sind…? Dann ist Carly Rae Jepsen’s E·MO·TION schlich wichtig. Mindestens so wichtig wie etwa Lorde’s letztjährige Kostbarkeit Pure Heroine. Oder demnächst Beyoncé’s Lemonade (um mal ins nächste Jahr zu schauen). Die ’85 geborene Kanadiern hatte 2007 die Casting Show Canadian Idol gewonnen, hatte 2012 mit „Call Me Maybe“ einen weltweiten Chart-Hit gehabt, war mit ihren nun 30 Jahren scheinbar schon zu alt für das auf die Jugend-zwischen-15-und-20 konzentrierte Pop-Geschäft. Aber da kam ein Album, das alles mitbrachte, was die alljährlichen One-Hit-Wonder nicht hatten. Eine Kollektion von zwölf One-Hit’s. Die kamen nicht aus dem Nichts – Jepsen war mit dem Klotz „Call Me Maybe“ nicht glücklich, wollte unbedingt den Folk, den Indie-Pop, den sie eigentlich so liebte, in die Welt setzen. Und in diesem Einen glücklichen Fall machte die Plattenfirma mit. Sie suchte sich die richtigen Produzenten, die richtigen Co-Autoren, den richtigen Sound irgendwo zwischen 80ies Synth Pop und 90ies R&B und hatte mit einem tollen Hit wie „I Really Like You“ (geschrieben mit dem Gitarristen der schwedischen Cardigans…) einen ersten Erfolg in den Charts. Die folgenden Singles gingen unter – obwohl oder gerade weil ein Song wie „Your Type“ klug, catchy und hip ist. Aber womöglich war da zuviel Niveau für die Charts der 10er. Auch mit dem Album ging es in den Charts schnell bergab – aber dann scheinen irgendwann Millionen Indie-Kids und –Grown Ups die Klasse der Songs erkannt zu haben, wurde E·MO·TION irgendwie auf eine Meta-Ebene gehoben, wurde CRJ zum Indie Darling. Das Witzige ist – das Album ist tatsächlich perfekt. Nicht ZU perfekt, sondern POP-perfekt. Bis jetzt (2022) sind Tracks wie „Run Away With Me“ oder „Emotion“ abwechslungsreich, intelligent und schön. Mal sehen, wie bzw. ob wir das in 10 Jahren sehen.

Jamie xx
In Colour

(Young Turks, 2015)

Ich habe das Debüt der Band The xx aus dem Jahre 2009 gefeiert. Der Minimalismus, die Melodien, der Stilwille – vom Auftreten der Band bis zum Corporate Design… ein Meisterstück, dessen Klasse von manchen Glaubwürdigkeits-Wächter nach zunächst geäußerte Begeisterung geleugnet wurde (wie bei Lana Del Rey…). Jamie Smith war der Rhythm & Sound-Designer der Band. Und dass er irgendwann aus dem gewollt limitierten Klang seiner Band solo ausbrechen würde, war logisch. Er hatte 2011 I’m New Here – das Comeback Album vom Spoken Word Pionier Gil Scott-Heron – remixt und unter dem Titel We’re New Here veröffentlicht. Aber das war eine ehrfürchtige Verneigung gewesen, In Colour war Jamie’s eigenes Ding – ein Ding, das Weile haben wollte. Fünf Jahre brauchte Smith für die Produktion und Zusammenstellung der Tracks. Sein Ziel war ein hehres: Er wollte ein Album machen, das „zeitlos“ sein würde, das sich keiner Ära zuordnen ließe. DAS ist ihm nicht unbedingt gelungen. In Colour ist ein Hybrid aus UK Bass, Future Garage, Rave, Minimal Pop… es ist allein schon durch die elektronischen Sounds als Album seiner Zeit zu erkennen. Der Opener „Gosh“ führt den Hörer mit harten, progressiven Breakbeats und Vocal-Sample ins Album. Es sind die simplen, minimalistischen Beats, die In Colour besonders machen, der Mann hatte es nicht nur im Kontext von The xx drauf, deepe Rhythmen unter eigentlich schlichte Tracks zu legen und dem Hörer damit den Atem zu rauben. Dazu wurden einige Songs mit Hilfe von klug ausgesuchten Gästen in die Stratosphäre geschossen. Beide xx-Kollegen halfen aus – Oliver Sim enorm abgeklärt bei „Stranger in a Room“, Romy machte „Loud Places“ zu einem Wunder an kühler Schönheit. Dass beide Tracks durchaus auf des xx-Debüt gepasst hätten, war verzeihlich… sogar ein Qualitätsmerkmal. Bei „SeeSaw“ blieb Romy’s Gesang im Hintergrund über einer wunderbar eingängigen Melodie und einem treibenden Beat – und wieder musste man die Beats bewundern, die hier nicht nach The xx klangen. Mit „I Know There’s Gonna Be (Good Times)“ versuchte Jamie xx sich auch mal im Mainstream. Ein Party-Track, bei dem die Dancehall Ikone Popcaan mit dem stylishen Rapper Young Thug über einem netten Instrumental und einem Soul-Sample tanzen. Ein Fremdkörper – aber sogar das passte ins Gesamtkonzept des Albums. Mit „The Rest is Noise“ und dem wunderbar psychedelischen „Girl“gab es zwei Instrumental Tracks am Ende des Albums, die nochmal betonten, was Jamie xx und In Colour ausmacht: Kluge Beats, minimalistische Melodien und eine Atmosphäre, zu der man sich auf die beste Club-Nacht seines Lebens vorbereiten möchte.

SOPHIE
Product

(Numbers, 2015)

SOPHIE – das war die schottische Produzentin/DJane Sophie Xeon. Eine Musikerin, deren Können, Musikalität und Innovationskraft sie hätte weit tragen müssen – die aber leider 2018 von einem Dach fiel und starb. Sie hatte schon im Kinderzimmer mit Computer und geschenktem Keyboard Tracks zusammengebaut, sich selber DJ-ing beigebracht und irgendwann Leute kennengelernt, die sie um Remixe baten. Sie begann mit dem hippen Label-Kollektiv PC Music zu arbeiten und 2013 kam ihre erste Single heraus. Deren Nachfolger „Bipp“, dann „Lemonade“… und ihr Ruf als Meisterin des Bubblegum Bass, des Deconstructed Club – nenn es wie du willst – wurde unüberhörbar. Also wurde 2015 die LP (?) Product aus vier Singles und vier neuen Tracks zusammengestellt. Bubblegum Bass – das ist (elektronische) Musik, die insbesondere die putzigen Teile der 00er Jahre Popmusik völlig überzeichnet, mit billigen Synth-Sounds und harten Bässen versetzt, Popmusik ins Extrem treibt. Die – wenn man „Deconstructed Club“ dazu sagt – auch harte Industrial Sounds und zersplitterte Rhythmen in manchmal tanzbare Tracks einbaut. Es ist ganz einfach die überzeichnete, intelligente Version der elektronischen Clubmusik der 10er Jahre. Und die Trans-Person SOPHIE ist (übrigens neben Arca – siehe Björk’s Vulnicura…) diejenige, die diese Musik wenn nicht erfunden, dann auf ein Niveau gebracht hat, das enorm ist. Vielleicht muss man sich an Tracks wie den Opener „Bipp“ gewöhnen. Hyperventlierender Gesang, seltsame Billig-Computer-Sounds, hüpfende Rhythmen… dies ist KEINE Tanzmusik. „Lemonade“ klingt wahlweise wie ein hektischer Werbe-Jingle oder wie ein harter, abstrakter Industrial Track. Auf Product bekommt man elektronische Musik, die die Ästhetik der 10er Jahre in alle Richtungen über die Grenzen jagt. Ob das mal als „zeitlos“ angesehen wird, steht schlicht nicht zur Diskussion. Für mich haben vor allem die nur für dieses Album gemachten Tracks wie „Msmsmsm“ oder „Vyzee“ dieselbe Klasse, wie etwa Aphex Twin’s Selected Ambient Works von 1992. SOPHIE’s folgendes einziges „reguläres“ Album OIL OF EVERY PEARLS UN-INSIDES von 2018 war der nicht mehr notwendige Beweis ihrer Klasse. Blöd nur, dass auch diese Musik kaum in der von mir persönlich ersehnten Form als CD oder LP zu finden ist.

Protomartyr
The Agent Intellect

(Hardly Art, 2015)

Und noch eine Welle, die auf einer alten und einer noch älteren Welle aufbaut: Protomartyr spielen (mit etlichen anderen tollen Bands) Post Post Post-Punk. Das Rezept ist ja eigentlich einfach, aber offenbar immer noch so schmackhaft wie Kartoffelsalat. Der wird eben seit ein paar Jahren mit neuen Gewürzen aufgepeppt. Und Bands wie METZ, Viet Cong, Algiers, die Girl Band oder eben Protomartyr machen eine wütende, bedeutende und zeitlose Art von Musik, die eigentlich seit den Mitt-60ern und der damaligen Pre-Punk/Garage-Rock Welle immer wieder aufregende Alben an den Strand spülte. Das Quartett aus Detroit existiert schon seit 2008, hat 2012 ein nettes Debüt veröffentlicht, hat 2014 mit Under Color of Official Right ein weit besseres Album gemacht und steigert sich 2015 mit The Agent Intellect in allen Belangen. Ja – Dieses Album wäre auch 1980 nicht Fehl am Platz gewesen. Es wäre damals auch aufgefallen – und das muss man erst einmal schaffen: Mit solcher Musik – nenn sie meinetwegen den Blues des weissen, desillusionierten Jugendlichen – eine solche Wucht und Wut und irgendwie auch Begeisterung zu transportieren. Die Mittel dazu mögen bekannt sein, aber die Botschaft und die Ausführung sind zeitlos. Wenn beim wuchtigen Opener „The Devil in His Youth“ Sänger Joe Casey seine Stimme erhebt, ist der Gedanke an Jaz Coleman von Killing Joke nahliegend. Mit denen haben Protomartyr einiges gemeinsam: Marschierende Rhythmen, Parolen-Geschrei. Aber Casey ist cooler als Coleman, nicht so manisch. Die Songs sind bei aller Wucht feiner auskomponiert. Greg Ahee ist ein Gitarrist, der meinetwegen auch Vorblider bei den 80er-Bands hat. Aber er kennt 35 Jahre Post Punk Historie. Und er macht immer wieder diese schönen kreisförmigen Riffs, unterbrochen von Powerchords. „Pontiac ’87“ ist ein toller Song, ist Post Punk 2015, hätte SO nicht 1980 stattfinden können, weil damals manche Posen verpönt waren, die Protomartyr hier einnehmen. The Agent Intellect ist wie so manches andere Album der letzten 15 Jahre – wie Interpol’s Turn On the bright Lights von 2002 oder The National’s Boxer (2007) – wer will, kann es als Abklatsch bezeichnen. Aber diese Songs sind voller Kraft und Begeisterung gemacht. Und Post Punk hat 2015 mit seinen Botschaften und seiner Wut jede Berechtigung.

Panopticon
Autumn Eternal

(Bindrune, 2015)

Panopticon ist das Black Metal Projekt eines gewissen Austin L. Lunn aus Louisville, Kentucky. Der Mann hat seit 2007 eine wachsende Anzahl von Alben mit einer sehr eigenartigen bzw. eigenständigen Art von Black Metal veröffentlicht. Aus dem ländlichen Kentucky stammend hat er immer wieder Bluegrass-Einflüsse mit harschem, irgendwie typischem US-Black Metal gepaart. Viele der US-BM Musiker haben natürlich neben den bekannten norwegischen Vorbildern Dark Throne oder Burzum auch amerikanische Meister wie Wolves in the Throne Room oder Weakling auf ihrem Schirm. (siehe deren 2000er Meisterwerk Dead as Dreams… das es bis heute (2022) weder als Stream noch als physischen Tonträger gibt!!!!). Nun – Panopticon lieferte hier den dritten Teil einer thematischen Trilogie, bestehend aus den durchweg fantastischen Alben Kentucky (2012), Roads to the North (2014) und eben Autumn Eternal. Und wes Geistes Kind Lunn/Panopticon ist, wird sofort bei „Tamarack’s Gold Returns“, dem Opener der LP, klar: Hier hört man nämlich keinen Black Metal, sondern eine feine, in Appalachian Folk gebadete akustische Gitarrenmelodie mit Dobro-Begleitung. Dann erklingen Schritte über ein paar Felsen… und dann donnert es los. Harsches Kreischen, rasende Drums, atmoshärische, in Moll getränkte Gitarren, Autumn Eternal wird zum modernen US-Post/Black Metal. „Into the North Woods“ wird mit einem fast traditionellen Metal-Gitarrensolo veredelt, am Schluss marschieren Drums durch die nördlichen Wälder. Heavy Metal-Einflüsse scheinen immer wieder durch, das Album ist glasklar produziert, die Melodien der ausgedehnten Tracks sind von urweltlicher Schönheit, Lunn’s Vocals sind monströs. Dass er bei „Pale Ghosts“ und „a Superior Lament“ auch mal mit klarer Stimme singt, passt natürlich zum undogmatischen Umgang mit Black Metal, Panopticon war immer als „mit der Natur Kentucky’s“ verbundenes Projekt gedacht. Dass Lunn inzwischen alle möglichen weiteren Einflüsse in die riesigen Wälder lässt, ist für den US-BM der Zeit nach 2000 typisch. „Oaks Ablaze“ etwa ist fast chaotisch in seinem feurigen Rasen, die Stimmungen, die er einfängt sind glaubhaft. Autumn Eternal ist durchdacht, facettenreich, fein komponiert und bildet akustisch tatsächlich die Stimmung und die Schönheit ab, die auf dem Cover-Photo zu sehen ist. Dass Panopticon auch noch eigenständig und damit wiedererkennbar ist, ließ die Wahl zu DEM Metal-Album 2015 leichtfallen. Die Alben-Trilogie sollte anhören, wer sich auch nur ein bisschen für Metal interessiert…

…and to mention the honourable…

Wie schon für die Jahre zuvor gesagt: Es lässt sich noch nicht sagen, ob hier jedes ausgesuchte Album in 10, in 20 Jahren noch den Wert hat, den ich ihm duch meine Auswahl beimesse. Auch toll und vielleicht demnächst noch toller sind etwa: Der Southern HipHop von Travis Scott’s Rodeo oder der krasse Industrial HipHop Whatever von Death Grips‘ Jennny Deat: The Power That B Disc 2. Oder Matana Roberts‘ Coin Coin Chapter Three, das besser sein mag, als Kasama Washington’s The Epic. Chelsea Wolfe’s The Abyss ist auch groß, könnte hier stehen – genau wie die zusammengesetzte elektronische Plunderphonics Orgie I’ll Try Living Like This von death’s dynamic shroud wmv. Oder vielleicht Viet Cong von Viet Cong oder Holding Hands with Jamie von der Girl Band statt Protomartyr’s Post… Punk? Dass es IMMER auch andere Alben gibt, deren Wichtigkeit andere Menschen anders bewerten, ist unvermeidlich. Wenn es auch noch einen geringeren zeitlichen Abstand zur Gegenwart gibt, wird die Auswahl noch schwieriger. Und somit mag es sein, dass ich irgendwann ein anderes Album an die Stelle xx setzen werde. Aber im Moment ist dies hier meine Wahl.