1962 – Art Blakey bis Steve Lacy – Jazz auf dem Weg in die Freiheit – Blue Note, Impulse! und New Jazz

1962 beackern einige Plattenlabels in den USA Jazz als kommerziell ertragreiches Feld. Dass Miles Davis bei Columbia veröffentlicht – und dort auch bis zu seinem Tode bleiben wird – zeigt, dass diese Musik und kommerziell orientierte Musikverlage zusammengehen.

Aber Jazz-Alben waren lange Zeit eine Sache, die Liebhaber auf idealistisch und klug aufgebauten Spartenlabels veröffentlichten. Einige dieser Labels werden sogar noch Dekaden später als enorm geschmackvolle und stylishe Musikverbreiter angesehen. Ich will in diesem Artikel die ’62 veröffentlichten Jazz-Alben der ehrwürdigen und krediblen Blue Note Records, vom gerade gegründeten Label Impulse! und vom Prestige-Ableger New Jazz beschreiben und ein paar Worte über die Entstehung und Entwicklung dieser Labels sagen. Dass dabei die Entwicklungen von HardBop zu PostBop/Modal- und Avantgarde Jazz mit beeindruckenden Beispielen belegt wird, zeigt, dass diese Labels in dieser Zeit VOR Pop, vor den Beatles und vor Dylan, vielleicht die wichtigste und interessanteste Musik veröffentlichten. Dass diese Labels auch noch das Prinzip der Corporate Identity in der Cover-Gestaltung praktizierten – ja eigentlich erfanden (und damit dem Pop-Markt um Dekaden voraus waren) – macht dieses Kapitel zu einem, das sich sogar schön anschauen lässt. Interessant ist, wie viele visionäre Alben mit innovativem bzw. avantgardistischem Jazz auftauchen. In der Zeit um die 50er/60er veränderte sich Jazz stark. Aus BeBop wurde durch die Integration neuer Elementen HardBop, dann Post-Bop, Avantgarde Jazz, Free Jazz. Das geschah vor allem, weil ein Kern von 50-70 Musikern einander beeinflusste und befruchtete. Und diese Musiker machten ihre Sessions/Alben sehr oft für die hier thematisierten Labels. Es ist tatsächlich interessant, die personellen Überschneidungen bei den Sessions zu den hier beschriebenen Alben zu beachten. Niemand dürfte gesagt haben: „Ich mache jetzt ein Hard Bop-Album…“, Vielmehr wurde munter und voller Elan ‚rumprobiert und es kamen im Idealfall Sachen heraus, denen man (finde ich…) den Spaß an der neuen Ideen bis heute anhört. Und die Plattform für diese Leidenschaft boten idealistisch geführte Labels wie Blue Note, Impulse!, New Jazz… Die Alben, die auf diesen Labels erschienen, sind sich in ihrer Innovationskraft durchaus ähnlich – von denen wurde das Gesicht des Jazz verändert und neu geprägt. Mit Alben wie…

https://music.apple.com/de/playlist/der-gro%C3%9Fe-rockhaus-1962-jazz-auf-blue-note-impulse/pl.u-xlyNqJdIka7bN8Y

John Coltrane – “Live“ At The Village Vanguard
(Impulse!, Rec. ’61, Rel. ’62)

…natürlich. John Coltrane steht für das „New Thing“, er hatte das Können und die Ideen, er war – einst Schüler von Miles Davis – inzwischen eine Integratiosfigur der Musik der schwarzen Bevölkerung. Und nachdem er bei Impulse! gelandet war, machte er Jazz-Klassiker im Akkord…

The John Coltrane Quartette – Coltrane
(Impulse!, Rec. ’62, Rel. Aug. 1962)

… was ich im Hauptartikel mit diesen beiden Alben belege. Ein perfektes Live-Album und das erste Studio-Album in der legendären Quartet-Besetzung, die bald den Über-Klassiker A Love Supreme (’65) einspielen wird. Und noch eben der Hinweis, dass Atlantic ’62 auch ein Coltrane-Album veröffentlichte. Dieses wurde 1960 aufgenommen und wird in den einleitenden Zeilen des zweiten Teiles dieses Kapitels sowie natürlich im Hauptartikel ’62 gewürdigt…

Das Label Blue Note Records existiert 1962 schon seit 33 Jahren und ist somit eine ehrwürdige Institution. Blue Note wurde 1939 von den beiden aus Nazi-Deutschlang geflohenen Freunden Alfred Lion und Francis Wolff in New York gegründet. Ersterer war schon im Deutschland der 30er ein Jazz-Fan, Letzterer neben seiner genauso großen Jazzleidenschaft auch noch ein hervorragender Fotograf, dessen monochrome Fotos nicht nur die Covergestaltung von Blue Note beeinflusst haben. Das Design von Blue Note war legendär – und es wurde ab 1956 durch die Schrift-Grafik des Designers Reid Miles in Kombination mit Wolff’s Fotos in der klassischen Phase zwischen den Mitt-50ern und den Mitt-60ern zum Kult. Nebenbei: Auch Andy Warhol hat einige Cover für Blue Note gestaltet, bevor er als Konzept-Künstler reüssierte. Blue Note war auch eines der ersten Labels, das seine Alben ab den frühen 50ern auf Vinyl veröffentlichte. Es dürfte bezeichnend sein, dass im ersten Kapitel dieses Buches (Das Wichtigste aus 1952…) gleich drei Blue Note Alben (von Thelonious Monk und Bud Powell) beschrieben sind. Dieses Label und seine Gründer waren echte Fans. Sie legten hohen Wert auf inspirierte Aufnahmen, gaben den meist schwarzen Musikern – damals völlig unüblich – Zeit (und Geld) um vor den Plattenaufnahmen zu proben und hatten beim Toningenieur Rudy Van Gelder in dessen eigenem Studio einen Stammplatz, der von allen namhaften Künstlern genutzt wurde. Die Klangqualität der Blue Note Alben war auch dank jenem RVG legendär und ist bis heute unübertroffen. (Lies auch über diesen Mann im Artikel 1960… Elvis bis Hank Mobley und wer ist RVG). Man muss beachten, dass Blue Note vielen später sehr bekannten Künstlern als Sprungbrett diente. Da sind Jazzlegenden wie Monk, Bud Powell, Art Blakey, auch Miles Davis nahm zu Beginn seiner Karriere für Blue Note auf. Da war auch John Coltrane dabei (ein einziges mal!!, der war danach bei Impulse!), Ornette Coleman, Eric Dolphy, Wayne Shorter, Joe Henderson, Herbie Hancock etc… Gerade Ende der 50er bis ’65 wurden auf dem Label fast monatlich classics to be veröffentlicht. Lustigerweise oft mit Verzögerung – weil man den Plattenmarkt nicht überfluten wollte, aber auch weil die Ergebnisse der Sessions dieser Avantgarde mitunter etwas zu gewagt schienen. Mit der Wendung des Jazz Richtung Avantgarde und Free Jazz wurde es komplizierter: Es gab weiterhin großartige Alben und viele davon wurden zu wegbereitenden Klassikern des Jazz der kommenden Jahre. Und Lion war der Ansicht, dass gerade diese Alben wichtig wären und veröffentlicht werden mussten. Aber Pop und der aufkommende Psychedelic Rock veränderten das Gesicht der populären Musik und Jazz wurde zu einer hermetischeren Angelegenheit. Insbesondere dem inzwischen über 60-jährigen Alfred Lion wurde die Arbeit zu viel, und er und Wolff verkauften die Firma 1965 an Liberty Records.

Art Blakey & the Jazz Messengers
Mosaic

(Blue Note, Rec. 10/61, Rel. 01/1962)

Art Blakey ist ein Musiker, der mit Blue Note Records mitgewachsen ist. Der enorm virtuose Drummer war 1962 schon ein Veteran, über 40 Jahre alt, hatte in den 40ern bei Big Bands getrommelt, hatte danach alle BeBop-Legenden von Parker über Monk bis Gillespie begleitet – und hatte seit den 50ern mit den Jazz Messengers ein Kollektiv zur Erforschung des BeBop – zur Entwicklung des langsameren, blueslastigeren Hard Bop um sich versammelt. Inzwischen waren Freddie Hubbard (tr), Curtis Fuller (tromb), Cedar Walton (p), Jymie Merritt (b) und Wayne Shorter (sax) die Messengers. Eine hochkarätige, recht junge Bande, die dem Veteranen nun etliche Alben lang zur Seite stehen würde. Vor Allem der End-Zwanziger Wayne Shorter (sax) würde den Kurs mit seinen Kompositionen bei den diversen Sessions der kommenen Jahre (mit) bestimmen. Das Problem ist tatsächlich bei Blakey, dass er regelrecht inflationär Alben produzierte – nicht nur bei Blue Note, sondern auch bei Riverside und anderen Labels. Und die sind nicht alle so gut, wie das am 2. Oktober ’61 aufgenommene Mosaic. Eine Session nur, keine „Alternate Takes“, dafür wieder eine Band, die perfekt zusammenspielt, ein Saxophonist, dessen fliessendes Spiel beeindruckt, der mit „Childen of the Night“ zeigt, dass er ein wunderbarer Komponist ist. Dann ist da Freddie Hubbard, der Shorter bei seinem eigenen Solo-Debüt kennengelernt hatte, der einer der ganz großen Trompeter ist – in seiner Virtuosität sicher über Miles Davis steht. Dessen Komposition „Crisis“ allein ist das Album wert. Wunderbare Improvisationen auf einem straighten, einfallsreichen Teppich aus Blakey’s Drums und Merritt’s Bass. Mosaic ist ein Paradebeispiel für Hard Bop. Rhythmisch, warm, voller Spaß an der Improvisation – aber nicht gerade avantgardistisch. Ein wunderbarer Einstieg in die ausgedehnte Diskografie von Art Blakey und seinen Jazz Messengers. Und natürlich – wie alle Blue Note Alben hier – auf’s feinste von Rudy Van Gelder in seinem Studio in Englewood Cliffs, NJ aufgenommen. Die Alben hier haben alle den Aufnahmeort gemeinsam. So auch…

Freddie Hubbard
Ready for Freddie

(Blue Note, Re. 08/61, Rel. 1962)

…denn würde ich eine Playlist erstellen, dann ist Freddie Hubbard’s viertes Blue Note Album als Leader sehr passend. Zwei Monate vor Mosaic natürlich auch in Englewood Cliffs mit RVG aufgenommen, mit vier Songs von Hubbard und – siehe da! – einem Song von Wayne Shorter und ansonsten mit ein paar weiteren üblichen Verdächtigen. Posaunist Bernard MyKinney mag weniger bekannt sein, aber das Trio aus McCoy Tyner (p), Art Davis (b) und Elvin Jones (dr) wurde sehr bald Teil der Band(s) um John Coltrane. (Der wiederum auch Freddie Hubbard’s Dienste in Anspruch genommen hatte… wie gesagt… EIN Clan…). Hubbard hat lange Hard Bop gespielt, er war als Sideman gefragt, sein Trompeten-Ton war nicht so „modal“ wie der von Miles Davis, er würde erst spät selber in Free Jazz und Avantgarde-Bereiche gehen. Seltsam, denn als Sideman war er im Dezember 1960 Teil des Doppel-Quartetts für Ornette Coleman’s epochales Album Free Jazz gewesen. Immerhin merkt man, dass er sich auf Ready for Freddie im Hard Bop Umfeld äußerst wohl fühlte. Man muss sich vor Augen halten: 1962 war Hubbard gerade mal 24 Jahre alt. Hatte aber schon bei etlichen spannenden Alben mitgewirkt, die den Jazz geprägt haben. Und Ready for Freddie mag nicht so abgedreht sein, wie Coleman’s Ausbruch, aber hier spielen sich die Musiker teilweise auch in eine Art Trance. Vor Allem auf „Birdlike“ sind die Soli temporeich, bei anderen Tracks gleitet das Album elegant in den modalen Jazz. Bester Track – weil er sich spielerisch genau im Zwischenfeld aus Modal Jazz und Hard Bop bewegt – ist der Album-Closer „Crisis“… und das ist natürlich die selbe Komposition, die zwei Monate später auf Mosaic eingespielt werden würde. Hier fließender, dort rhythmusbetonter. Ready for Freddie ist vergleichbar – und vergleichbar gut.

Herbie Hancock
Takin‘ Off

(Blue Note, 1962)

Und das nächste Aufeinandertreffen der Jazz-Elite. Takin‘ Off ist Herbie Hancock’s erstes Album als Leader, er holte im Mai ’62 Freddie Hubbard zu seiner Session, dazu den großen Saxophonisten Dexter Gordon (siehe dessen Solo-Alben hier nach…). Mit Billy Higgins (dr) und Butch Warren (b) war das patentierte Blue Note Rhythmusteam dabei. Diese Beiden haben einen gewichtigen Anteil am Charakter des Albums und Hancock hatte sie sich bewusst dazugeholt, denn Takin‘ Off ist rhythmisch komplexer als der übliche Hard Bop dieser Tage. Dazu verdiente er sich mit dem Klassiker „Watermelon Man“ erste Meriten als Komponist. Man muss bedenken, Hancock war gerade erst 22 Jahre alt, er hatte noch keine großen Sessions hinter sich, er hatte sich seinen Ruf (und den Blue Note Vertrag) verdient, als er den wegen eines Schneesturmes nicht rechtzeitig zum Auftritt gekommenen Pianisten von Donald Byrd (Duke Pearson – siehe auch weiter unten) spontan ersetzt hatte. Byrd war so beeindruckt von Hancock, dass er ihn nach New York mitnahm und im September ’61 auf seinem Album Royal Flush einsetzte. Takin‘ Off hat freilich auch etliche schöne Improvisationen, Hancock’s Klavierspiel allein ist schon beeindruckend, manche Kompositionen mögen noch nach Fingerübungen klingen, die nur als Basis für instrumentale Ausflüge da sind, aber besagtes „Watermelon Man“ und der Closer „Alone and I“ sind schon komplett ausgeformter Post Bop bzw. Modal Jazz. Bei beiden Highlights muss man natürlich auf das Spiel von Hubbard und Gordon hinweisen. Ohne die wäre das Nichts geworden – aber ohne Hancock auch nicht. Ohne ihn wären viele Entwicklungen im Jazz der kommenden Jahre nicht passiert. Bald würde Miles Davis ihn in seine Band holen, Hancock selber würde eine ganze Kiste voller großartiger Solo-Alben machen, den Fusion-Jazz mit Miles Davis zusammen entstehen lassen, die Headhunters gründen,… Die Entwicklung, die noch vor ihm lag, ist eine gewaltige. Takin‘ Off ist somit wie ein erstes Solo-Album anzusehen – als ein Versprechen auf mehr, noch nicht perfekt, aber schon erstaunlich gut. Wer Hancock nur in Perfektion hören will, müsste sich seine Alben Empyrian Isles (64), Maiden Voyage (66), Sextant und Head Hunters (siehe Hauptartikel ’73)… und noch einige andere anhören. Und das sind wie gesagt NUR die Solo-Alben.

Dexter Gordon
Dexter Calling

(Blue Note, Rec. 05/61, Rel. 1962)

Hier ein Blue Note Highlight des Jahres ’62: Dexter Gordon war – ähnlich wie Art Blakey – ein Be Bop-Veteran, dessen erste Alben als Leader aus den ganz frühen 50ern stammen. Einer der im gleichen Atemzug mit Dizzie, Charlie, Bud genannt werden konnte. Ein Riese von einem Mann mit einem voluminösen Ton auf dem Saxophon. Und einer, der großen Einfluss auf Coltrane gehabt hatte… und Gordon wiederum ließ sich in den 60ern von Coltrane in Sachen Hard Bop und Modal Jazz beeinflussen. ’61 war er aus LA nach New York gekommen und hatte erstmals Sessions für Blue Note aufgenommen (natürlich auch in den Van Gelder Studios in Englewood Cliffs…). Sein zweites und drittes Album für das Label zeigen alle Stärken, die der Mann hatte. Wie das bei Blue Note so üblich war – Die Sessions zu Dexter Calling hatten an drei Tagen im Mai ’61 stattgefunden, und daraus war im Jahr zuvor schon das ebenfalls sehr gelungene Doin‘ Allright entstanden, jetzt kam der leckere Nachschlag. Klar – auch hier waren Namen, die auf den Jazz-Alben dieser Zeit beständig auftauchen: Kenny Drew (p), mit dem er schon in den 50ern zusammen aufgenommen hatte und der zwei Tracks beisteuerte, Philly Joe Jones (dr), der auch mit Miles Davis und Coltrane gespielt hatte, und Bassist Paul Chambers – auch so einer, der überall dabei war und als Leader begeisterte. Gordon war inspiriert, er sah seinen zweiten Frühling kommen, wunderbar sein kristallklares, melodische Spiel bei „I Want More“, beeindruckend seine flinken komplexen Improvisationen, die phantasievollen Soli, am schönsten vielleicht die Ballade „Ernie’s Tune“, als er enorm lyrisch und expressiv spielt, virtuos die verwirrenden Wendungen von „Clearing the Dex“. Die beiden Alben aus den ’61er Session sind der Beginn seiner besten Karriere-Phase.

Dexter Gordon
Go !

(Blue Note, 1962)

Aber das Highlight dieser Zeit wurde dann das im August ’62 aufgenommene Go. Dazu hatte Gordon sich mit Sonny Clark (p), Butch Warren (b) and Billy Higgins (dr) in den obligaten Van Gelder Studios getroffen und eines der entspanntesten und zugleich abwechslungsreichsten Alben des Hard Bop eingespielt. Mit den drei (im Vergleich) jungen Kerlen hatte er ein paar Konzerten im Sommer ’62 gespielt. Er mochte sie und sie respektierten ihn, die Stimmung war gut – und so ging Go mit dem flotten „Cheese Cake“ los. Mit einem dieser Themen, das „typisch“ für gepflegten, noch nicht ganz so experimentellen Jazz ist. Dann gibt es mit „I Guess I’ll Hang My Tears Out to Dry“ eine sanfte Ballade, Sonny Clark brilliert bei „Second Balcony Jump“, „Love for Sale“ beginnt als Bossa Nova, Gordon’s Saxophon ist so groß wie er selber. Zum Schluss veredelt er den Standard, „Three O’clock in the Morning“ mit eleganten und einfallsreichen Improvisationen. Dass diese Rhythm Section vor Energie sprüht, dass Sonny Clark ein mindestens so guter Pianist ist, wie Gordon’s Altersgenosse Kenny Drew, will erwähnt sein. Go KLINGT womöglich eine Spur inspirierter noch als Dexter Calling, ist daher erste Wahl. Aber beide Alben sind toll. Allerdings – wie bei Blue Note zu dieser Zeit sehr oft – noch in den geregelten Bahnen des HardBop. Gordon würde in den kommenend drei Jahren noch mindestens drei große Alben auf dem Label veröffentlichen – teils in Paris eingespielt. Und er würde 1986 in die Auswahl für den Oscar als bester Hauptdarsteller für den Film Round Midnight kommen. Der Mann wurde nicht nur wegen seiner 1,98 Körpergröße der Sophisticated Giant genannt.

Jackie McLean
Bluesnik

(Blue Note, Rec. 01/’61, Rel. 1962)

Hier folgt nun einer der wichtigsten Jazzmusiker seiner Zeit – Einer, der ’61 schon ein gewaltiges Profil hat. Der 1931 geborene (übrigens nicht „weisse“…) New Yorker Jackie McLean hatte mit Miles Davis gespielt, hatte auf Mingus‘ Pithecantropus Erectus (’56) mitgewirkt, war bei den Jazz Messengers gewesen und hatte als Komponist schon seit den 40ern viel Reputation gesammelt – und hatte in den letzten Jahren wegen massiver Drogenprobleme nicht mehr live auftreten dürfen. Das führte dazu, dass er bei den an Stelle der Live-Auftritte tretenden Studio-Sessions zwischen ’59 und ’67 21 (!) Alben für Blue Note aufnahm. Natürlich auch mit exzellenten Mitspielern. Und McLean war neben oder vielleicht trotz seiner Sucht ein abenteuerlustiger Musiker voller überbordender Kreativität. Mit Bluesnik gab es Anfang ’62 das fünfte Album für Blue Note – destilliert aus einer Session von Anfang des Vorjahres… (in den Van Gelder Studios in Englewood Cliffs…) Und wie der Titel sagt – hier bewegten McLean und Kollegen sich noch im traditionellen (HardBop) Kontext. Was bei McLean hieß, dass dennoch mitunter sehr kraftvoll und frei aufgespielt wurde. Schon die steile Improvisation beim titelgebenden Opener zeigt, wie „scharf“ der Mann spielen konnte. McLean hatte einen eigenständigen Ton, war schnell, expressiv, und durch seinen Einfallsreichtum sozusagen „gezwungen“, bald in die freieren Gefilde des Jazz aufzubrechen. Dass mit Freddie Hubbard ein Könner mitmachte, der weit mehr den HardBop vertat, mag man an dessen oben beschriebenem Ready for Freddie nachvollziehen. Der „Goin‘ Way Blues“ etwa passt perfekt zum LP-Titel, aber auch da hört man, wie gerne McLean auch in traditionellem Umfeld Grenzen überschritt. Dass die Rhythm Section aus Pete La Roca (dr), Doug Watkins (b) und dem Pianist Kenny Drew (Jaja – wieder dieselben Namen…) mit Kraft und Lust spielten, verlieh Allem eine beeindruckende Dynamik. Bluesnik (und auch das folgende A Fickle Sonance) begeistern durch das, was Jazz in meinen Ohren einzig spannend macht: Eine Kraft, ein hörbarer Spaß, der weit über Zurschaustellung von Virtuosität hinaus geht. Vielleicht ist Bluesnik dadurch in gewisser Hinsicht sogar der beste Einstieg in McLean’s Diskografie: Hier spielte er noch um schlichte Themen herum, malte den Blues aus, blieb harmonisch. Danach kann man ein Avantgarde Meiterwerk wie das ’64er Destination Out womöglich noch besser genießen.

Jackie McLean
A Fickle Sonance

(Blue Note, Rec. 10/’61, Rel. 1962)

Aber zunächst kam mit A Fickle Sonance noch im November ’62 McLeans letztes halbwegs konventionelles HardBop Album. Hier war das Personal ein anderes… dennoch natürlich aus dem Blue Note-Stall: Tommy Turrentine an der Trompete, Sonny Clark am Piano, Butch Warren am Bass, Billy Higgins an den Drums. Dass er hier nicht mehr nur den Blues erforschte, wurde spätestens beim völlig freien Flug des Titelsongs deutlich. Und auch schon der Opener „Five Will Get You Ten“ (von Thelonius Monk geschrieben) mit fanfarengleicher Einleitung, mit swingendem Rhythmus und feinem Piano von Sonny Clark ist HardBop in verfremdeten Farben. Aber vor Allem „A Fickle Sonance“ ist – wie gesagt – ein Meisterstück. Man mag ja die musik-theoretische Seite dieses Albums als Jazz Nerd bewundern… mich begeistert weit mehr, wie wenig akademische „Theorie“ ich hier höre und wie viel Wucht dieses Quintett entwickelte. Und das taten die Fünf auch beim schönen, ausnahmsweise blues-nahen „Enitnerrut“ (= Turrentine rückwärts…). A Fickle Sonance ist vor allem wegen seines Titeltracks großartig. Aber der ist so fantastisch, dass man darauf aufmerksam machen muss, wie toll der Rest des Albums ist. Noch machte McLean wie gehört in Sachen HardBop, aber die Entwicklung Richtung Modal-, Free- Avantgarde–Jazz, das Spiel mit Dissonanzen, seltsamen Rhythmen und komplexeren Themen war schon da. Und Jackie McLean war einer der Musiker, die Formen erschafft haben. Keiner, der „nur“ ausmalte. Seltsame Tatsache: Ab ’67 – ab dem Ende seines Vertrages mit Blue Note – nahm er quasi keine Musik mehr im Studio auf…

Sonny Clark
Leapin‘ and Lopin‘

(Blue Note, Rec. 11/’61, Rel. 1962)

…und hier der nächste Mitspieler, der natürlich auch als Leader ein paar Sessions einspielte und veröffentlichen durfte. Sonny Clark hatte mit Butch Warren (b), Billy Higgins (dr) und Tommy Turrentine (tr) die Sessions zum zuvor gelobten A Fickle Sonance eingespielt. Ein paar Wochen später – im November ’61 – nahm er mit Charlie Rouse an McLean’s Stelle Leapin‘ and Lopin‘ auf. Clark war vor allem wegen seines rhythmischen Spiels einer der beliebtesten Sidemen im Blue Note-Stall (Das Piano wird im Jazz oftz eher als Rhythmus- denn als Solo Instrument behandelt). Immerhin aber hatte Clark ’58 mit Cool Struttin‘ einen Blue Note-Klassiker und Verkaufserfolg veröffentlicht. Sprich – bei ihm mag man von Easy Listening auf hohem Niveau reden. Turrentine und Rouse waren ebenso tolle Instrumentalisten, allerdings keine Bilderstümer und die Rhthmen des Duo’s Higgins/Warren swingen enorm, aber hier generierten sie nicht die Wucht, die man bei Jackie McLean hören konnte. Und das sollte wohl auch so sein. Und natürlich war Sonny Clark ein exzellenter Pianist. Wie die Töne beim selbstverfassten „Melody for C“ tropfen, wie der Track vorangetrieben wird, das Unisono-Thema von Trompete und Saxophon. All das ist dynamisch – und ziemlich gepflegt… und damit übrigens in einem Stil gehalten, den man von der Mehrzahl der Blue Note-Alben kennen mag, wenn man reiner Jazz-Afficionado ist. Mit „Voodoo“ wird es immerhin auch mal etwas finsterer, Charlie Rouse’s Saxophon klingt nebelig, Turrentine’s Trompete malt eine sumpfige Melodie, der Track verströmt Atmosphäre – was bei etwas leichterem Jazz entweder peinlich werden kann, oder – wie hier – einen zusätzlichen Reiz schafft. Na ja – und Sonny Clark war Chef. Swingte und wanderte rhythmisch, flink und schlau über die Tasten. Ein schönes Album. Eine Erholung. Leider verstarb Clark im folgenden Jahr – vermutlich an einer Heroin-Überdosis.

Hank Mobley
Workout

(Blue Note, Rec. 03/’61, Rel. 1962)

Der einstige Jazz Messenger, kurzzeitige Miles Davis Kollaborateur, Session-Liebling Hank Mobley hatte 1960 mit Soul Station einen wunderschönen HarBop-Klassiker auf Blue Note veröffentlicht. Und er hatte in den Jahren bis ’65 einen Lauf. Schon seit 1957 war er bei dem Label, kannte natürlich auch die ganze Musiker-Elite seiner Zeit und nahm im März ’61 in… Tadaah!! den Van Gelder Studios in Englewood Cliffs sein ca. 14tes Album als Leader auf. Dass Workout von Scott Yanow vom allmusic guide als eines der „17 Essential Hard Bop Recordings“ bezeichnet wird, mag man lustig finden, aber es ist durchaus vertretbar. Mobley holte sich mit Wynton Kelly (p), Paul Chambers (b), und Philly Joe Jones (dr) Miles Davis Rhythm-Section zu den Sessions, sowie den Gitarristen Grant Green (auch aus dem Blue Note-Stall) – und allein schon dessen Teilnahme macht aus Workout ein spannendes HardBop-Album. Die Gitarre war seinerzeit kein „übliches“ Instrument, erst mit dem Aufkommen des Fusion-Jazz kam dieses „Rock“ Instrument öfter zum Einsatz. Wobei – ganz nebenbei – in den nächsten Jahren auf Blue Note ein paar Klassiker das Cool Jazz mit Gitarristen als Leadern erscheinen werden (Midnight Blue von Kenny Burrell und Idle Moments von ebendiesem Grant Green…). Hier war es natürlich Mobley’s Tenor Saxophon, das die Themen setzte. Und Mobley ist einer, der sich in vieler Hinsicht auch mit Giganten wie Coltrane messen konnte. Man nannte ihn – wie ich in meiner Eloge über das 60er Meisterstück Soul Station geschrieben habe – den Middle-weight-Champion of the tenor saxophone“. Im Zusammenhang mit HardBop und dessen Anlehnung an den Blues war diese Besetzung natürlich ideal. Mobley’s melodisches, lyrisches Spiel, die Gitarre von Grant Green – und eben auch vier Eigenkompositionen eines Saxophonisten, der groß in Form war – der allerdings in den nach der Session folgenden Monaten wegen Drogenmissbrauchs pausierte. Davon bemerkt man hier allerdings Nichts. Bei Tracks wie „Workout“ und „Uh Huh“ hört man ein ungeheuer müheloses, cooles Saxophon, melodisch reich, virtuos, scheinbar ohne jede Anstrengung. Und er war auch ein guter Komponist, dessen Lässigkeit auch bei den Themen der Tracks erkennbar ist. Workout mag aber eben auch durch die Teilnahme Grant Green’s so besonders (gut) sein. Er steht an der Stelle der sonst üblichen zweiten Bläsers, und seine Improvisationen bei „Uh Huh“ stehen denen Mobley’s an Lässigkeit in Nichts nach. Der machte mit Workout schlicht das nächste ideale HardBop Album. Blue Note Boss Alfred Lion soll mal gesagt haben „…it must schwing!“ Das tut es hier. Und übrigens – im Dezember ’61 nahm er ohne Green Another Workout auf. Das vergleichbar schöne Album wurde seltsamerweise erst 1985 veröffentlicht…

Donald Byrd
The Cat Walk

(Blue Note, Rec 05/’61, Rel. 1962)

Und da haben wir das nächste HardBop-Urgestein: Der in jenen Tagen 30-jährige hatte noch als Schüler in den 50ern bei den Jazz Messengers Clifford Brown an der Trompete ersetzt. Er nahm mit vielen unterschiedlichen Größen seit ’55 Alben für diverse Labels auf, lernte den weissen (!!) Saxophonisten Pepper Adams kennen und nahm mit ihm und anderen üblichen Blue Note Könnern ab ’58 einige sehr gelungene Alben für Blue Note auf. Das im Mai ’61 aufgenommene The Cat Walk gehört wohl zu seinen besten Sessions – wobei Byrd ab ’59 einen Lauf hatte (wie so viele Blue Note Künstler, wenn man mal ganau hinschaut.). Dieser Trompeter formte den HardBop ebenso, wie Dexter Gordon oder Hank Mobley. Auf The Cat Walk allerdings muss man auch auf den Beitrag des Pianisten Duke Pearson hinweisen. Der übernahm den Löwenanteil an der Komposition und trug mit „Say You’re Mine“ und dem Album-Closer „Hello Bright Sunflower“ gleich zwei echte Highlights zu den Sessions bei. Die Kombonation aus Byrd’s lyrischer Trompete, Adams‘ heiserem Saxophon und Pearson’s perlendem Piano ist kaum zu schlagen. Natürlich ist das Zusammenspiel dieser Könner sowieso über alle Zweifel erhaben. Dass der baldige Coltrane-Drummer Philly Joe Jones auch einer der besten (und meist-beschäftigten) Drummer das Blue Note Stalls ist, muss man eigentlich hier nicht mehr erwähnen. Mit dem Titeltrack gab es auch eine sehr cool dahinschleichende gemeinsame Komposition von Pearson und Byrd und das folgende „Cute“ mag als Leistungsschau ein bisschen zu sehr die Virtuosität der Musiker zur Schau stellen… aber was soll’s. The Cat Walk ist ein weiteres feines HardBop Album…

Donald Byrd
Royal Flush

(Blue Note, Rec 09/’61, Rel. 1962)

…das gefolg wurde von der ersten Session, bei der Herbie Hancock mitspielen durfte. Wie bei Takin‘ Off beschrieben hatte der gerade mal 22-jährige bei einem Konzert den ausgefallenen Duke Pearson ersetzt – und Donald Byrd so beeindruckt, dass der ihn mitnahm nach New York und in die Van Gelder Studios in Englewood Cliffs. Somit ist Royal Flush das erste Album, bei dem Hancock mitspielte. Zugleich beendete Byrd nach Royal Flush seine Partnerschaft mit Pepper Adams. Er versuchte tatsächlich erstmals, die Grenzen des HardBop zu überschreiten. Mag sein, dass Hancock und sein komplexeres Spiel – seine offensichtliche Neigung zum modalen Jazz – Byrd dazu veranlasste, die üblichen Blues-Schemata eine Spur aufzuweiten. Nicht missverstehen: Royal Flush swingt so, wie man das bei den „normalen“, eben nicht sonderlich experimentellen HardBop-Alben des Blue Note Labels um die 50er/60er Wende kennt. Aber manche Dinge wurden hier erweitert. Byrd schwebt beim von Billie Holiday bekannten „I’m a Fool to Want You“ fast so über den Rhythmen, wie Miles Davis. Butch Warren (b) und Bill Higgins (dr) sind ein so erprobtes Rhythmusgespann, wie man es sich nur wünschen kann. Und beim abschließenden „Requiem“ wird der Kontrabass auch mal gestrichen. Royal Flush ist – wie viele Alben von Donald Byrd – in gewisser Weise Blue Note Standard. Das Niveau ist hoch – das ist bei allen elf hier ausgewählten/beschriebenen Blue Note Alben der Fall. Eine gewisse Gleichförmigkeit kann man aber nicht leugnen. Das sollte nicht verwundern: Die Musiker – insbesondere die Rhythmus-Sektionen – sind oft die gleichen. Und der Sound im Van Gelder Studio war immer gleicher, hoher Standard. Hier ist alles HardBop. Mal führt das Saxophon, mal die Trompete, Exzentrik von Ausserhalb gibt es kaum. So ist Jazz auf Blue Note in dieser Zeit. Es darf nicht verwundern, dass John Coltrane nur ein Album bei Blue Note veröffentlichte. Die Bilderstürmer waren meist bei anderen Labels (Ausnahme hier: Jackie McLean). Dies ist ein Themenartikel über ein Label, das seinen eigenen Sound hatte, das (meist und noch) nicht ganz so viel wagte, wie…

..Jazz ist in dieser Zeit ein hippes Ding. Auch ein kommerziell so viel versprechender Faktor, dass im Dezember 1960 Die altehrwürdige American Broadcasting Company bzw. ihr Schallplatten-Zweig Paramount (1955 entstanden) ein auf Jazz spezialisiertes Unter-Label gründete. Impulse! war auf Betreiben des Jazz Fans und Produzenten Creed Taylor entstanden. Der hatte ein Motto, das dieses Label eine ganze Weile lang voll erfüllte: Impulse! stand auch dank seiner sehr unkommerziell-idealistischen Haltung, die den Musikern quasi die künstlerische Freiheit überließ, tatsächlich für die „New Wave In Jazz“. Man leistete es sich, Künstlern wie John Coltrane, Charles Mingus, Sonny Rollins, Ornette Coleman (der auch bei Blue Note Alben veröffentlichen würde…), Archie Shepp, Yusef Lateef, Max Roach etc.. die Freiheit zu lassen, IHRE Visionen vom Jazz zu realisieren. Creed Taylor ging noch ’61 zu Verve, aber als John Coltrane bei Impulse! unterschrieben hatte, holte Paramount mit Bob Thiele einen Könner als Produzenten an Bord – und ließ seine Alben auch mit Rudy Van Gelder (siehe Blue Note) als Toningenieur in dessen Studios aufnehmen. Und diese beiden prägten einen Sound, der sich in seiner Freiheit sogar ein bisschen von Blue Note unterschied. Der gesamte Katalog von Coltrane ab ’62 war ein Impulse!-Ding, Der war das Zugpferd, seine Mitstreiter und Schüler würden auf Impulse! auch nach seinem Tod noch auf hohem künstlerischem Niveau veröffentlichen. Somit sind die Impulse! Alben in diesem Artikel hier frühe Beispiele für die Musik eines Jazz-Labels, das sich sehr weit in die Gefilde des Avantgarde-, Free- und Spiritual Jazz bewegen würde. Nach Coltrane’s Tod machte seine Frau Alice Coltrane, sein Mitspieler Pharoah Sanders, sein Freund Albert Ayler, sein Schüler Archie Shepp, seine Bandkollegen und noch etliche andere Koryphäen großartige Alben. Coltrane’s Einfluss auf das Label (er nahm in den sechs Jahren bis zu seinem Tod 16 (!) Alben auf, darunter den Über-Klassiker A Love Supreme!!) – und natürlich seinen Einfluss auf den Jazz im Allgemeinen – kann man nicht überschätzen. 1970 ging Bob Thiele, aber es gab noch etliche tolle Alben bis Mitte der 70er, aber wie das im Jazz so ist: Diese Musik war nur noch für ein kleiner werdendes Sparten-Publikum von Interesse. Keith Jarrett etwa hat bei Impulse! seine ersten Alben gemacht, ehe er zu den Europäern von ECM Records wanderte und dort deren John Coltrane wurde. 1995 wurde Impulse! wiederbelebt und heute (2020) gibt es wieder gewagten Jazz von den Sons of Kemet etwa. Ich will es aber auch nicht verschweigen: Es GAB durchaus auch weniger experimentelle Musik auf Impulse! Das erste Impulse! Album ist von Ray Charles – Big Band Music. Aber Kai Winding und Gil Evans dürfen ’61 schon mit ihren Big Bands experimentieren. Impulse! ist bis ca. ’75 ein Hort des abenteuerlichen Jazz.

Roy Haynes Quartet
Out of the Afternoon

(Impulse!, 1962)

Wie beschrieben – Impulse! war ein neues Label, sein Main Act war John Coltrane, aber Bob Thiele war nicht nur Idealist, sondern auch Kenner der Szene. Und er holte sich neben Coltrane’s Mitspielern auch andere Innovatoren und Könner, die gerne mal Grenzen überschritten. Dass Charles Mingus auf Impulse! Seine Meisterwerke veröffentlichen würde, mag man als Hinweis ansehen. Auch der Drummer Roy Haynes und sein Quartet machten einen Jazz, der mit dem Etikett Hard Bop nur unzureichend ausgezeichnet ist. Haynes hatte mit Oliver Nelson im Gründungsjahr von Impulse! auf dessen The Blues and the Abstract Truth getrommelt. Jetzt nahm er für das leider kurzlebige Quartet drei Typen ins Beiboot, die gerne an und über Grenzen gingen: Bassist Henry Grimes – bald im Free Jazz Umfeld um Don Cherry, Albert Ayler und Archie Shepp unterwegs, der wahnsinnige blinde Saxophonist Roland Kirk (…man beachte dessen zwei 1962 auf Mercury veröffentlichte Alben…!) und Pianist Tommy Flanagan. Einer dieser ausserhalb der Jazz-Nerd Community nicht ganz so bekannten Könner, dessen Disografie als Sideman aber beeindruckend ist (Er spielte auf Sonny Rollins‘ Saxophon Colossus und auf Coltrane’s Giant Steps…). Am auffälligsten ist auf Out of the Afternoon natürlich das Lead-Instrument…en Arsenal von Roland Kirk. Der spielte hier Tenor Saxophon, Flöte, Manzello und Stritch (zwei Saxophon-Unterarten…). Und diese Teile spielte er gerne mal gleichzeitig! Dass dieses Album nicht bloß der pure Hard Bop ist, wird schon bei den ersten Tönen des Openers „Moon Ray“ klar, wenn Henry Grimes den Bass mit dem Bogen streicht. Wenn dann eine feine Melodie im Laufe der sechseinhalb Minuten verfremdet wird, der Swing immer komplexer wird. Haynes Drumming ist genauso beeindruckend variabel wie Grimes Bass-Passagen. Flanagan macht Verwirrendes am Piano, na ja – und Kirk spielt zwei Saxes unisono. Guter Trick. Mindestens. Bei „Raoul“ improvisiert man in Überschall, Kirk überbläst sein Instrument, dass es nur so eine Lust ist, spielt immer wieder exzentrische Spitzen („Fly Me to the Moon“), ist zwar derjenige, der auf den ersten Hör‘ auffällt… aber diese Vier waren ein beeindruckendes Quartett, dem man höchstens vorwerfen konnte, dass die Virtuosität etwas ZU deutlich zu Tage tritt. Aber bei vier solchen Spinnern.. Könnern…? Kein Wunder, dass das Albumcover mit den im Wald posierenden Musikern mich an diverse Black Metal-Cover erinnert. Ein sehr tolles Album, das nur ein bisschen Hard Bop und viel Avantgarde bietet.

Max Roach His Chorus and Orchestra
It’s Time

(Impulse!, 1962)

Dass dieser Drummer einen hohen Anspruch an seine Kunst hatte, konnte man gerade in dieser Zeit hören – als er ’61 das politische Manifest We Insist! veröffentlicht hatte, im selben Jahr noch mit Eric Dolphy Percussion Bittersweet gemacht hatte (beides siehe Hauptartikel ’61) und als er ’62 mit It’s Time das nächste Album machte, das schwer zu fassen ist. Die Sache mit dem Chor allein ist ja schon ungewöhnlich – hier machte ein 16-köpfiger Chor mit und seine Frau Abbey Lincoln sang auf dem wunderbaren „Lonesome Lover“. Dazu arbeitete er wieder mit ein paar sehr guten Musikern: Nerds kennen Richard Williams (t), Clifford Jordan (sax), den Trombonisten Julian Priester, Pianisten Mal Waldron und den Bassist Art Davis, die einen (von Bob Thiele produzierten) Hard Bop/Avantgarde-Jazz Teppich auslegten, auf dem der von Coleridge Perkinson geleitete Chor weit mehr machen musste als bloß Ooooh und Aaaaah… Der Chor ist das siebente Instrument – Eines, das den Sound auf erstaunliche Art prägte. Da klingt Nichts nach Gospel, Nichts wie Choräle, die Stimmen werden zur Erweiterung des Klangbildes eingesetzt. Wenn sie Julian Priester’s Trombone bei „Another Valley“ und „Living Room“ antworten, oder wenn sie bei der Einleitung zu „Sunday Afternoon“sogar an Ligeti erinnern, dann ist diese Musik weit mehr als Jazz. Natürlich wurzelt It’s Time im Hard Bop und Post Bop – allein die Soli von Musikern wie Mal Waldron oder Julian Priester sind purer Jazz. Aber diese Stimmen!! Diese Dynamik, die sie erzeugen!! Mag sein, dass Roach’s Experimentierlust für damalige (oder auch für heutige…) Verhältnisse ZU viel war. Aber wer mal sehen will, WAS möglich ist, der muss Max Roach lauschen. Der Mann ist sträflich unterbewertet. Nicht als Drummer – da ist sein Ruf untadelig – sondern als Visionär des Jazz. Nur EIN Beweis: It’s Time

New Jazz – das war ganz zu Anang der Name des dann Prestige genannten Labels, das im Jahr 1949 von John Weinstock, einem Jazz-begeisterten New Yorker Juden, gegründet worden war. Der hatte es sich zum Ziel gemacht, schnell möglichst viele spontan aufgenommene Alben mit dem von ihm geliebten Jazz auf den Markt zu werfen und fand etliche Musiker, die seine effektive Art Musik aufzunehmen und zu vermarkten gut fanden. Weinstock hatte bald spätere Legenden wie Thelonius Monk, Stan Getz, Sonny Stitt, Sonny Rollins und auch Miles Davis im Stall. Legendär ist die Vereinbarung, die er mit Miles Davis traf, als dieser 1955 zu Columbia wechselte. Davis schuldete Prestige noch vier Alben, die er bei Sessions an zwei Tagen im One-Take Verfahren aufnahm. Ganz im Sinne Weinstock’s der der Meinung war, dass nur der erste Take spontan genug war, um Klasse zu haben. Aus diesen Sessions entstanden mit Workin’…, Steamin…, Cookin’…, und Relaxin‘ With the Miles Davis Quintet vier veritable Klassiker in Miles‘ Diskografie (…mit John Coltrane am Saxophon…), die später nacheinander zu unterschiedlichen Zeiten veröffentlicht wurden. 1962 war Eric Dolphy wohl DER aufsteigende Star im Prestige-Stall. Weinstock hatte ’59 den ersten Namen seines Labels – eben New Jazz – wiederbelebt, um Jazz Musikern, die bis dahin nicht als Leader hervorgetreten waren, eine spezielle Plattform zu bieten. Da er sein Label inzwischen in verschiedene Richtungen ausgeweitet hatte – auf Unter-Labels mit Namen wie Swingville, Moodsville oder Bluesville Folk, Blues oder Weltmusik veröffentlichte – war der alte Name New Jazz ganz passend. Das Sub-Label blieb bis ’64 bestehen, dann ging es wieder in Prestige Records auf. In den 1950er und ’60er Jahren arbeitete der Ich-will-überall-dabei sein-Toningenieur Rudy Van Gelder natürlich auch mit Weinstock/Prestige und New Jazz zusammen. Im Gegensatz zu Blue Note Records konnte bzw. wollte Weinstock den Musikern auch hier keine Zeit für Proben vor den Aufnahmen bezahlen. Das wird als Grund dafür genannt, warum manche Alben sehr fähiger Musiker nicht das Niveau und den Erfolg von Blue Note hatten – aber man beachte: Alle drei hier unten beschriebenen New Jazz Alben wurden zu den Bedingungen Weinstock’s in den Van Gelder Studios in Englewood Cliffs mit teils deckungsgleichem Personal aufgenommen… und sie reichen qualitativ locker an ihre Blue Note Konkurrenten heran. Ganz Unrecht hatte Weinstock mit seiner One-Take Philosophie also vielleicht auch nicht… Ganz nebenbei ist der einheitlich-schlichte Stil der Cover-Gestaltung womöglich auch einer gewissen Sparsamkeit geschuldet. Prestige blieb bis ’71 in Weinstock’s Besitz, wurde dann an Fantasy Rec. verkauft, die einige der tatsächlich knapp 1.000 Alben (!) immer wieder neu auflegten. Weinstock starb 2006 mit 77 Jahren. Er war, wie Alfred Lion oder Bob Thiele, einer von diesen Jazz-Fan-Plattenfirmen-Bossen, die das Gesicht des Jazz von den 40ern bis in die 60er geprägt haben. Hier also drei exzeptionelle ’62er Alben auf dem New Jazz-Seitenzweig von Prestige Records.

Eric Dolphy
Far Cry

(New Jazz, Rec. Dec ’60, Rel. 1962)

Far Cry ist das dritte Album des Saxophonisten Eric Dolphy als Bandleader, sein drittes Album für Prestige/New Jazz nachdem er sich seit ’58 in den Bands von Chico Hamilton, Mingus und Coltrane (auf dessen Africa/Jazz vom Vorjahr) seine ersten Sporen verdient hatte. Der Mann war einer der besten und innovativsten Saxophonisten/ Flötisten/Klarinettisten seiner (und kommender) Zeiten. Dass er 1964 an nicht erkanntem Diabetes starb, ist eine echte Tragödie. Dolphy hätte die gleiche Bedeutung wie Coltrane bekommen müssen. Für Prestige nahm er von April ’60 bis September ’61 an dreizehn Sessions/Alben teil… der Mann war hyperaktiv. (Siehe das hier unten beschriebene Album The Quest.). Und er würde bald für Blue Note einen DER Klassiker der Jazz-Avantgarde Jazz aufnehmen (Out to Lunch – 1964 – kurz vor seinem Tod). Somit zeigte das im Dezember ’60 aufgenommene Far Cry einen Musiker, der noch nicht ganz da angekommen ist, wo ihn der Tod stoppen würde. Einen, dessen Fähigkeiten auch da schon erkennbar weit über die Grenzen das HardBop und Post Bop hinaus wiesen. Dabei ist Far Cry sogar ein Tribut-Album: Charlie Parker’s Einfluss ist allein schon an den Titeln der Kompositionen abzulesen: „Mrs. Parker of K.C.“ (über Bird’s Mutter) und die „Ode to Charlie Parker“ haben eindeutig die ruhelose Kreativität des Bebop Saxophon-Giganten. Komponiert wurden diese beiden Tracks übrigens vom Pianisten Jaki Byard – einem 40-jähriger Veteran, dessen Neugier ihn bald in Free-Jazz Gefilde wandern lassen würde. Dazu kam auf diesem Album der Bassist und Cellist Ron Carter, der oben schon gelobte Roy Haynes an den Drums und der schon ’61 verstorbene Trompeter Booker Little (er starb schon vor dem Release mit gerade mal 23 Jahren an einer Nieren-Erkrankung). WAS da verloren ging, mag man beweinen, wenn man Little’s wunderbare, virtuose Trompete bei der „Ode to Charlie Parker“ hört. Wie da die Musiker um ein Thema wirbeln, wie Dolphy die Flöte einsetzt, Byard’s hier fast klassisches Klavier… und dann noch die wunderbare Rhythmus-Sektion aus Ron Carter und Drummer Roy Haynes (siehe das Album von dessen Quartet). Mit dem Titeltrack blieb Dophy auf den Spuren von Charlie Parker, mit dem großartigen „Miss Ann“ kam ein baldiger Klassiker des Jazz, der bewies, was Dolphy auch kompsitorisch draufhatte.. Dieses Album zeigt, wie Dolphy bald Brücken schlagen würde zwischen klassischem Saxophon und freier Avantgarde a la Anthony Braxton. Ein weiteres großes Album des Jazz aus 1962.

Mal Waldron
The Quest

(New Jazz, Rec 06/’61. Rel. 1961)

Eric Dolphy ist einer dieser Jazz-Musiker, die zu Beginn der 60er den Jazz in stratosphärische Höhen blasen. Dass er sowohl als Leader, als auch als Mitspieler von allen wichtigen Kollegen gerne dazugeholt wird, zeigt, welche Fähigkeiten er auch in den Augen anderer, bekannterer Künstler (Coltrane z.B….) hatte. Auch in den Augen des Pianisten und Komponisten Mal Waldron war Dolphy eine Koryphäe und Bereicherung. Waldron selber mag nicht so bekannt sein wie Herbie Hacock, aber auch er hatte einen hohes Ansehen. Er war Haus-Pianist von Prestige und hatte Billie Holiday von ’57 bis zu ihrem Tod begleitet. Sein New Jazz Solo-Album The Quest ist das Album der Wahl – u.a. weil auch die anderen Kollegen, die hier mitmachen fantastisch sind. Da ist Booker Ervin, ein weiterer Saxophonist der Extra-Klasse – der mit Doplphy und Waldron zusammen in Mingus‘ Band gespielt hatte. Da ist Bassist/Cellist Ron Carter, dessen eine Woche zuvor mit denselben Leuten aufgenommenes Album Where genauso gut ist wie The Quest, aber schon ’61 veröffentlicht wurde. Und da ist natürlich Dolphy, der auch hier gerne mal zur Klarinette greift, der so schnell und einfallsreich spielt, wie kaum ein anderer. Da sind Tracks wie der Opener „Status Seeking“, die virtuos, leicht dissonant, aber nie atonal sind, die nur noch mit den Zehen im HardBop stehen. Immer wieder spielt Carter Cello, immer wieder gibt es wilde Soli von Dolphy (…höre „Warp and Woof“), die durch Ervin’s melodisches Spiel eingefangen werden, immer wieder setzt Waldron’s wundervoll rhythmisches Piano Akzente. Und da sind seine Kompositionen, die sich vor den Solisten ausbreiten wie abenteuerlich zerklüftete Landschaften. The Quest ist definitiv kein HardBop-Album im sicheren Blue Note-Style. Die Musiker hier sind über den HardBop hinaus. Aber seinen melodischen Reichtum kennen sie noch. Und wenn sie bei „Warm Canto“ eine sanfte Ballade spielen und dann Eric Dolphy die Klarinette erklingen lässt, dann versteht man, warum Charlie Mingus ihn mal einen „Heiligen“ genannt haben soll. So viel Schönheit!!! The Quest hat seine Obskurität nicht verdient. Feiert es zusammen mit Ron Carter’s Where und Dolphy’s Far Cry

Steve Lacy with Don Cherry
Evidence

(New Jazz, 1962)

Das letzte ’62er Album auf New Jazz kommt von einem Meister des Sopran Saxophon’s (das kleinere, höher klingende Sax…), dessen Bekanntheit auch nicht so groß ist. Steven Norman Lackritz aka Steve Lacy war weiss (wie man sieht eine seltene Erscheinung im Jazz), hatte als Teenager noch Dixieland Jazz gespielt, aber seit er ’56 mit dem Avantgardisten Cecil Taylor gespielt hatte, hatte er sich den freieren Seiten das Jazz zugewandt (…wobei auch Dixieland nicht „unfrei“ war… aber das ist eine ganz andere Geschichte…). Lacy hatte Monk schon mit seinem zweiten Album als Leader Tribut gezollt (Reflections von ’58), er war für dessen vertrackte, komplexe Kompositionen bestens geeignet, hatte ja allein schon durch sein Sopran Sax ein Alleinstellungsmerkmal (ehe Coltrane das Teil demnächst meistern würde) und er hatte bei seinem vierten Album wieder vier mal Monk im Repertoire. Dazu gab es zwei Ellington-Kompositionen – und all das wurde eingespielt mit zwei Musikern aus Ornette Coleman’s Quartet: Der allgegenwärtige Drummer Billy Higgins und Don Cherry, der Mann mit den Spielzeugtrompeten, sowie der Bassist Carl Brown. Dass mit solchen Freigeistern kein sklavisches Nachspielen zu erwarten war, weiss vielleicht erst mal nur der Kenner… aber dafür ist dieses Buch ja da. Was für ein spannender Trompeter Don Cherry war, mag man schon bei Ornette Coleman’s The Shape of Jazz to Come gehört haben – auch hier spielte er wieder Erstaunliches. Er improvisiert wunderbar melodisch, er scheint immer den Schalk im Nacken zu haben (was zu Monk’s Musik gut passt, weil dessen seltsame Harmonie-Sprünge nach Gewitztheit schreien). Dass Higgins mit Cherry harmoniert, sollte klar sein, aber da ist mit Carl Brown ein seltsamerweise völlig unbekannter Bassist dabei, der sich toll einfügte, der bei „Something to Live For“ ein sparsames Bass-Solo spielt, der den Rhythmus bei diesen Kompositionen wunderbar mitträgt. Der Titeltrack ist von Monk – eine seiner unbekannteren Kompositionene – und er wird so schön verzögert gespielt, so frei, dass man auch bei diesem Album nicht an Hard Bop denkt. Das Tempo des Closers „Who Knows“, der Unisono-Start, die abstrakten Improvisationen von Lacy, Cherry’s Antwort, die dann irgendwie den Doktorhut auszieht, das hastige Flüstern von Bass und Drums… Für mich macht allein schon dieser Track Evidence zu einem Album, das man anhören sollte. Zuletzt noch: Prestige und auch New Jazz haben ’62 noch einige andere Alben veröffentlicht. U.a. zwei Sessions mit Coltrane. Aber die sind nicht so großartig. Haltet euch an diese drei hier…