Das Wichtigste aus 1999 – Clinton und Lewinsky, Putin und Tschetschenien – Flaming Lips bis Gas

Gegen den Präsidenten der Vereinigten Staaten wird nun in der Lewinsky Sex-Affäre wegen Meineides ermittelt, aber letztlich wird er – trotz aller durchaus geheuchelten Empörung – nicht aus dem Amt gejagt.

Der Panamakanal wird an den Staat Panama übergeben und die US-Truppen ziehen ab. An der Columbine High School in Littleton in den USA laufen zwei Schüler Amok und töten erst 12 Menschen und dann sich selbst – Vorreiter der School Shootings der kommenden Jahre. In Venezuela kommt mit Hugo Chavez ein scheinbar überzeugter Sozialist an die Macht, sehr zum Ärger der USA und vieler europäischer Konzerne, denn Venezuela ist eines der erdölreichsten Länder Südamerikas. In Russland übernimmt Ex-KGB-Kontrollfreak Vladimir Putin den Stab vom Säufer Boris Jelzin. In der ehemaligen Sowjetrepublik Tschetschenien beginnt ein grausamer Krieg, als russische Truppen dort einmarschieren und in der EU wird der Euro als „Buchgeld“ eingeführt. Das Bargeld kommt drei Jahre später. Derweil läuft der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien aus. Die Zahl der Menschen weltweit überschreitet die 6 Milliarden-Marke … der kommende Milleniums-Wechsel ist ein Riesenhype, aber weder geht die Welt unter, noch brechen die weltweiten Computersysteme zusammen. Die britische Soul-Sängerin Dusty Springfield und der Soul-Sänger Curtis Mayfield sterben. ’99 ist ein unspektakuläres Jahr für populäre Musik. Nichts wirklich besonderes, keine revolutionären Neuheiten, aber einige tolle Alben. Das zweite Album der Isländer Sigur Ros und die Neo-Psychedeliker Flaming Lips werden zum berechtigten Hype – Neo Psychedelik ist insgesamt ein kleiner Trend. Die Band Opeth geht – wie so manche Band dieses Genres – aus dem Black Metal in Richtung Progressive Rock. Fiona Apples When the Pawn… ist in allen Belangen ein Highlight, ebenso wie das Indie-Album von Dismemberment Plan, von der Ben Folds Five etc etc… Die Neunziger enden damit, dass sich Szenen und Stile immer mehr aufsplitten und Grenzen verschwimmen. Politische Relevanz hat Pop-Musik allerdings in dieser Zeit kaum noch. Im doofen Teil der Musikwelt ringen Boy- und Girl-Bands um den Thron der krassesten Tanz-Choreografie und Disneypuppe Britney Spears veröffentlicht ihr erstes komplettes Album – mit Pop, der ganz offen schreit: KAUF MICH!!. Da finde ich Pearl Jam Klone wie Creed oder den Erfolg des Rock-Rentners Santana mit schwülem Gitarrensound zu Kaffeehaus-Samba im Duett mit Ricky Martin tatsächlich schlimmer. Ich wollte es nur mal erwähnen…

Playlist 1999 – Manches geht wieder nicht… folge den Links zu Youtube

The Flaming Lips
The Soft Bulletin

(Warner Bros., 1999)

Design – Georeg Salisbury. Hat etliche Cover für die Flaming Lips gemacht

Den Platz um das wichtigste Album des Jahres streiten sich bei mir immer mehrere Bands. Aber 1999 sind die großartigen Flaming Lips mit ihrem ersten nicht ganz so chaotischen und dadurch sofort erfolgreichen Album seit Beginn ihrer Karriere ohne Konkurrenz. ’98 hatten ihre Kumpels von Mercury Rev schon ein Meisterstück in moderner Psychedelik abgeliefert, Die Lpis hatten zuvor unter dem Titel Zaireeka vier CD’s gleichzeitig veröffentlicht, die man am besten zugleich abspielen sollte. Tolle Idee, nur wer macht das? Für The Soft Bulletin aber gingen sie im Vergleich regelrecht auf ihre Konsumenten zu: Mit ihrem Produzenten und Bandmitglied David Fridman beschlossen sie eine Platte zu machen, die bewusst harmonisch, freundlich, und für ihre Verhältnisse massentauglich war – und trafen damit – in Verbindung mit ihrem hier nur noch unterschwelligen aggressiven Wahnsinn – den Puls der Zeit. The Soft Bulletin hat Alles, was vor der Jahrtausendwende gebraucht wurde: Prachtvolle Melodien, symphonische, schwer psychedelische Arrangements, spinnerte Texte, einen übersteuerten Sound, der aber gerade noch an der Grenze zur Hörbarkeit bleibt, das Gefühl, lachend in den Abgrund zu stürzen… Und die Lips blieben bezüglich des Songwritings – im Gegensatz zu den vorherigen, keinesfalls schlechteren Alben – mit The Soft Bulletin gerade soweit im Rahmen von „Pop“, dass sie endgültig den Schritt in eine breite Indie-Community schafften… Und das, ohne ein Jota Glaubwürdigkeit zu verlieren. Dazu musste man nur das fast herzzerreißend emotionale „A Spoonful Weighs A Ton“ hören. Oder „Waiting for Superman“ mit all den Schichten aus Sounds und Bedeutung. Und in all ihrer Spinnerei erkannte man: Radioheads OK Computer (1997) und das oben erwähnte Deserter’s Song von Mercury Rev hatten einen gleichwertigen Nachfolger gefunden.

Boredoms
Vision Creation Newsun

(Warner Music Japan, 1999)

Cover – ?

Ja. Psychedelik. Am Ende des Milleniums sind viele Musiker wohl zu dem Schluss gekommen, dass eine neue Zeit anbrach – und dieser Gedanke hatte schon Mitte der Sechziger musikalisch bunte Täume entstehen lassen. Und wie so oft sind Musiker in Japan einfach ein bisschen extremer als ihre westlichen Kollegen. Die Band um den Sänger/Drummer/ Sound-Terroristen Yamantsuka Eye machte schon seit Ende der Achtziger experimentelle Noise, Punk und Psychedelik-Exzesse auf diversen Labels und Tonträgern. Dass Eye für John Zorn bei dessen Extrem-Noise Jazz Projekt Naked City ‚rumgeschrien hatte, zeigt, wie gerne er Grenzen auslotete. Schon im Vorjahr hatte er auf dem Boredoms-Album Super æ seine Spielereien aus Punk und Noise mit Turntables und Synthesizern in Psychedelik getaucht. Für Vision Creation Newsun kam noch ein freundlicher Beach Boys-Vibe und eine ganzer Bong Krautrock dazu. Dieses Album ist komplett ungewöhnlich. Ein durchgehender Track – bestehend aus diversen „Movements, die ineinander übergehen und Titel haben wie „◎ (two circles)“, Ҩ“ (spiral) oder „☆ (star)“. Da bekommt man über eine Stunde lang die wilden Trommel-Orgien von gleich drei Drummern zu hören, die Eye mit spacigen Sounds aus Synthesizern, Gitarren, Schellen und verfremdeten, rituellen Gesängen durchzieht. Diese Musik bildet eine Einheit, hier ist kein „Solist“ im Vordergrund, stattdessen steht man in einem warmer Regen, es klingt, als würden Can, die Flaming Lips und Acid Mothers Temple gemeinsam jammen. Natürlich ist Yamatsuka Eye’s Umgang mit seinen „Electronics“ einzigartig – aber er stellt sich nicht in den Vordergrund. Er arbeitet auf diesem Album weniger mit seiner Stimme – der einzige Punkt, den ich bedaure – aber der Stimmung dieser CD (…und die CD muss es sein, um den Flow nicht zu unterbrechen…) schadet das nicht. Dieser psychedelische Trommelkreis mit seltsamen Sounds und warmen Melodiebögen ist einzig- und eigenartig… und so extrem in seiner Andersartigkeit, dass ich mich nicht wundere, dass Boredoms eine Sache für diejenigen geblieben sind, die sich WIRKLICH für Musik interessieren.

XTC
Apple Venus Vol.1

(Cooking Vinyl, 1999)

Artwork – Andrew Swainson

Zwischen Nonesuch,, dem letzten Album der New Wave Urgesteine, und dem neuen Werk Apple Venus Vol. 1 lagen volle sieben Jahre. Ein Zeitraum, in dem viel passieren kann. XTC hatten sich nach einem regelrechten Streik gegen die Repressalien des Labels bezüglich erwünschter Verkäuflichkeit zuletzt von Virgin getrennt und ein eigenes Label gegründet. Aber dann verlief Bandkopf Andy Partridge sich im Studio wie ein Kind im Süßwarenladen und schichtete in seinen Songs immer neue Soundschichten über Effekt-Layer und machte aus dem geplanten Album sein persönliches Smile. Keyboarder Dave Gregory verließ die Band im Laufe der Aufnahmen und Bassist und Co-Songwriter Colin Moulding gab auch langsam auf – auf Apple Venus Vol. 1 ist er nur noch mit zwei Songs vertreten. So wurde das Album, das zunächst als Doppel-LP geplant war zu einer Art Andy Partridge Solo-Album. Eines mithin, das zeigt, was für ein Genie und Exzentriker der Mann ist. Viele der Songs waren schon im Anschluss an Nonesuch geschrieben worden, aber Partridge erweiterte jeden Song um immer neue Einfälle und Spielereien. Das fängt schon beim Opener „River of Orchids“ an. Da fallen Wassertropfen, ein Double-Bass setzt ein, dann erklingen Hörner, eine wunderbare Melodie ertönt, und Partridge formuliert erz-britischen Eskapismus: „I heard the dandelions roar in Piccadilly Circus, take a packet of seeds, take yourself out to play I want to see a river of orchids where we had a motorway. Push your car from the road, just like a mad dog, you’re chasing your tail in a circle“. Das Album ist melodisch so reichhaltig, wie man es von XTC gewohnt war, aber die Ausführung war nun so delikat, wie Partridge es sich immer gewünscht hatte. „Easter Theatre“ klingt trügerisch einfach, hat psychedelische Anklänge, die an XTC’s Skylarking erinnert. Colin Moulding’s „Frivolous Tonight“ leugnet das Vorbild Beatles nicht im geringsten, könnte gar zu deren besten Songs zählen, ist aber ein Fremdkörper neben Partridge’s Kunstwerken. Die Einflüsse beim von Mike Batt arrangierten „Greenman“ kann man kaum aufzählen: Arabische Musik, Psychedelik, Gartenbaukunst… Und am Ende startet Partridge den „Last Balloon“ in eine freundliche Zukunft: „The last balloon is leaving, the last balloon from fear. The last balloon is leaving, form that line right here. Climb aboard, climb aboard you men folk you won’t need any bombs or knives. Climb aboard, climb aboard you men folk leave all that to your former lives.“ – Banal ist hier jedenfalls nichts. Der geplante zweite Teil Wasp Star (Apple Venus Vol. 2) konnte diese Klasse schwerlich erreichen, aber dieses Album ist ein aus der Zeit gefallenes Meisterstück britischer Songkunst. PK

Sigur Ros
Ágætis byrjun

(Fat Cat, 1999)

Cover – ?

Das nächste Highlight des endenden Jahrtausends waren zweifellos die Isländer Sigur Ros (Siegesrose). Deren Art „Rockmusik“ hat auch wieder diese Eigenschaften, die gute Musik – wirklich gute Musik – besonders auszeichnen: Da ist szum Einen die Tatsache, dass keine Band so klingen kann wie Sigur Ros – wofür mehrere Faktoren verantwortlich sind: Ihre Herkunft aus Island, die sich in der Sprache ebenso niederschlägt, wie in der Eigenständigkeit der Entwicklung – man ist in Island Ende des Jahrtausends scheinbar doch immer noch zu weit weg von den Metropolen, um sich an andere Vorbilder anzugleichen – siehe auch Björk… Dann ist da die Seltsamkeit des Bandkopfes/Sängers/Visionärs Jón Þór Birgisson – ab hier immer Jonsi genannt, der mit seiner unirdischen Stimme (die ich bis zum Live-Konzert tatsächlich für eine Frauenstimme hielt) niemandem gleicht. Und dann ist da ihre Fähigkeit, majestätische Songs zu schreiben, die wirken wie verlangsamte symphonische Musik, die mit Post-Rock nur unbeholfen kategorisiert sind, die meiner Meinung nach Island in all seiner Großartigkeit widerspiegeln. Undenkbar, dass solche Klänge in einem anderen Land oder gar in einer Großstadt entstünde. Man kann zu ihrer Musik auch Prog Rock sagen – oder experimentelle Elektronik – letztlich ist Ágætis byrjun ganz einfach Sigur Ros. Hier sind 72 Minuten voller klanglichem Reichtum, voller Dynamik in emotional mitreissender Musik,. Das U-Boot Sonar beim unfassbaren „Svefn-g-englar“, die mit dem Bogen gestrichene E-Gitarre, der orchestrale Schimmer von „Starálfur“, das transzendierte Sehnen in „Ný batterí“, – man wollte gar nicht wissen, dass die Band zwei Jahre zuvor schon tätig gewesen war und ein im Vergleich schlich „banales“ Rock-Album gemacht hatte. Und auch wenn sie hier nach noch wunderbare Alben machen sollten: Ágætis byrjun bleibt (Gott sei Dank) unerreicht. PK

Fiona Apple
When The Pawn Hits The Conflicts He Thinks Like A King What He Knows Throws The Blows When He Goes To The Fight And He’ll Win The Whole Thing ‚Fore He Enters The Ring There’s No Body To Batter When Your Mind Is Your Might So When You Go Solo, You Hold You

(Epic, 1999)

Cover – Michael „Jocco“ Phillips und Fioa Apple

Dies nun ist KEIN Fall von persönlicher Vorliebe, die dieses Album über andere ebenfalls hervorragende Alben des Jahres ’99 – wie etwa California von Mr. Bungle oder 69 Songs von Magnetic Fields erhebt. Fiona Apple – bei erscheinen ihres zweiten Albums gerade mal 22 Jahre alt – ist eine offenbar frühvollendete Künstlerin, und When the Pawn... (der Titel ist verzeihlicherweise ein bisschen prätentiös – ein komplettes Gedicht, das ich schon aus Platzgründen nicht immer ausschreibe) ist ihr schönstes Album. Sie hatte zwei Jahre zuvor den Trend „Musik von jungen, mehr oder weniger verstörten Frauen, die ihr Leben reflektieren“ mit ihrem Debüt Tidal gekrönt, ihre Biographie mit einem entsetzlichen Missbrauchs-Erlebnis und darauf folgender Psychotherapie seit dem zwölften Lebensjahr hatte vordergründig zum Boom dieser Musik von komplizierten Frauen gepasst, aber ihre Musik hatte außerhalb aller modischen Sperenzchen die größere Klasse, ihre Stimme war von Beginn an besser, variabler und sicherer als die der anderen jungen Musikerinnen ihrer Generation (Morrissette, Amos) und ihre Songs waren klüger und tiefgründiger, als man es von einer so jungen Frau erwartet hätte. Und dann kam When the Pawn… und man hatte die Bestätigung, dass diese junge Frau mehr wollte und konnte als nur eine kurze Karriere im Gefolge eines Trends. Die Singles „Fast As You Can“ und „Paper Bag“ haben zu viel Tiefe, zu viel Musikalität für reines Chartsfutter, „To Your Love“ ist eher PJ Harvey als Alanis, ein verfremdeter Jazz-Blues, in dem sie fleht: „Please forgive me for my distance“ und „Limp“ beginnt mit einem delikaten Piano-Motiv, bevor sie ihren Partner beschuldigt: „You wanna make me sick / You wanna lick my wounds / Don’t you, baby?“. Sie hatte in den zwei Jahren an Reife gewonnen und das in intelligente, stilsichere und sehr eigenständige Musik übertragen. Und ihre Stimme – ich liebe sie einfach – sie ist tiefer als die der meisten US-Sängerinnen, nicht süßlich oder kokett. Schade – und bezeichnend – dass sie trotz kommerziellen Erfolges mit diesem Album für den Nachfolger sechs Jahre brauchte – vor Allem weil der Plattenfirma ihre Musik zu wenig charts-tauglich wurde – aber dazu mehr in 2005…

Ben Folds Five
The Unauthorized Biographie of Reinhold Messner

(550 Rec., 1999)

design – Josh Cheuse. Art Director bei Sony

Und Nun: Pop. – Meiner Meinung nach eines der besten Pop-Alben aller Zeiten und somit eines der Highlights des Jahres ’99. Dieser bebrillte Piano Nerd, der es lustig findet, sein Trio Ben Folds Five zu nennen, der mit Musik und Lyrics spielt, indem er die Schlafkrankheit Nakrolepsie im ersten Song des Albums besingt, der zu diesem Albumtitel kommt, weil der Drummer den Namen Reinhold Messner zu Schulzeiten für gefälschte Schulausweise benutzte, dieser Typ ist eben auch ein begnadeter Komponist für wunderbar traurige, eingängige, mitreißende Mini-Opern, für Pop für Arschlöcher. Die ersten vier Songs auf The Unauthorized Biographie of Reinhold Messner sind Pop in Perfektion – mit rasanten Orchester-Arrangements, mit dem übersteuerten Bass von Robert Sledge und den muskulösen Drums von Darren Jessee klingt die Ben Folds Five nie „nur“ nach Trio – oder wenn doch, dann wie ein Power-Trio a la The Jam – nur amerikanisch und mit Piano statt Gitarre. Dass Ben Folds ein begnadeter Pianist ist, versteht sich sowieso. Tragisch nur, dass die Plattenfirma es an Unterstützung mangeln ließ und die drei Musiker nach diesem Album zunächst desillusioniert das Handtuch warfen. Schön dass Ben Folds dann Solo mit wiederum zwei Mitstreitern an Bass und Drums – somit quasi unverändert – weitermachen würde, und gut dass man ... Reinhold Messner ja immer noch entdecken kann. Unmodern ist das Album – wie alle gute Popmusik – nicht geworden und Songs wie „Army“, in dem eine komplette Musikerkarriere incl. Scheitern als muskulöser, ironischer Pop dargeboten wird, werden immer gültig bleiben.

Piano Magic
Low Birth Weight

(Rocket Girl, 1999)

Cover – Simo Bogdanovic

Dem Londoner „Bedroom Studio Project“ Piano Magic kann man eine Karriere unterstellen, wie sie Talk Talk und Mark Hollis ab ’86 zuteil wurde. Sie machen scheinbar dahin-getuschte Musik, die für den Pop-Betrieb zu schön ist, die aber großen Einfluss auf Musiker kommender Generationen haben mag. Glen Johnson, Dominic Chennell und Dick Rance hatten Piano Magic ’96 in der Absicht entstehen lassen, mit wechselnden Kollaborateuren Musik zu machen, die sich an Disco Inferno, This Mortal Coil und Musique Concrete orientieren sollte. Nach zwei Jahren war nur noch Glen Johnson übrig, der für dieses zweite Album mit verschiedenen Zufalls-Bekanntschaften und Freunden an diversen Orten elf Songs aufnahm und zu einem Album zusammenstellte. Diese Zufälligkeit hört man Low Birth Weight durchaus an: Immer wieder erklingt eine neue Stimme, mal singt eine Frau, mal ein Mann – und Glen Johnson bleibt über das ganze Album stumm im Hintergrund und spielt nur rudimentär Gitarre. Es gibt zwei Klang-Collagen, die noch aus den frühen Tagen von Piano Magic stammen, als Johnson und Dominic Chenell noch die elektronische Musik via Sampler, Loops und Fader neu erfinden wollten, aber sogar diese Tracks, die eigentlich Fremdkörper sein sollten, passen sich in das Hörspiel ein. Denn so klingt Low Birth Weight für mich – wie ein Hörspiel, dem ich im Halbschlaf zu folgen versuche. Es gibt sehr schön geschriebene, atmosphärische Songs wie den von Caroline Potter gesungenen Opener „Snowfall Soon“ – einen Track, der genau zwischen den Vorbildern Disco Inferno und Dream-Pop geboren sein mag, der aber gerade durch seine aus der Not geborene Reduktion einen eigenen Charakter bekommt. Dass der zweite Song – „Crown Estate“ – mit der Stimme von Simon Rivers eine andere Art von Halbschlaf – weniger wohlig, fast albtraumhaft – darstellt – dass das darauf folgende „Bad Patient“ wieder die nächste Stimmung mit vergleichbar begrenzten Mitteln beschreibt – all das mag aus Zufall entstanden sein, aber ich unterstelle Glen Johnson ein Konzept, das er spätestens bei der Zusammenstellung des Albums gefunden hat -und das wunderbar funktioniert. Man muss dieser Musik zuhören und sie wirken lassen. Es lohnt sich. Und – das Cover ist niedlich.

Bonnie „Prince“ Billie
I See A Darkness

(Domino, 1999)

Cover – Sammy Harkham. Hat danach etliche Cover für Will Oldham gemacht

Es gibt tatsächlich eine Verbindung zwischen When the Pawn… von Fiona Apple und I See a Darnkess: von Will Oldham aka Bonnie „Prince“ Billie. Beide Musiker haben bei Johnny Cash’s letzten Alben mitgewirkt. Apple duettierte auf American IV: The Man Comes Around, und Cash hat auf dem Vorgänger American III: Solitary Man das Titelstück von Oldhams ’99er Albums gecovert. Ein Ritterschlag, der zweifellos verdient ist. Ende der Neunziger ist Oldham vom obskuren Schauspieler, der auch Musik mit gewaltiger Schlagseite macht, zum anerkannten Großmeister der Singer/Songwriter-Zunft seiner Generation aufgestiegen. Und der endgültige Beweis für seine Größe ist dieses Album. Es hat damit natürlich etliche Eigenschaften, die es in den zu dieser Zeit entstandenen neuen „Mainstream“ schiebt – die es sozusagen zum Songs from a Room für die neue Generation der Rolling Stone Leserschaft macht. Aber was soll’s: Viele schöne Songs und kluge Arrangements und Texte machen eben ein tolles Album aus, und auf die unbekannteren Alben dieser Art werde ich auch noch zurückkommen… (Smog, Songs: Ohia, Simon Joyner…). I See A Darkness ist dunkler Country-Folk, die Songs klingen, als wären sie hundert Jahre alt, sie sind sparsam arrangiert, Klavierakkorde, ein dunkler, tragender Bass, mit dem Besen gespielte Drums, und dazu Will Oldham’s Stimme, die schwankt wie ein dürrer Ast im Wind, bei der man immer damit rechet, dass er gleich das Singen aufgibt. Aber genau das ist integraler Bestandteil seiner Musik – ob es Attitüde ist, spielt somit keine Rolle, denn ohne diese Art von Gesang wären Songs wie „Death to Eveyrone“ oder „A Minor Place“ vielleicht sogar ZU bedrückend. Man höre nur Johnny Cash’s Version von „I See A Darkness“ – und verzweifle… Aber durch den Kontrast zwischen Stimme und Inhalt gewinnen Oldham’s Songs natürlich auch an Kontur, manchmal scheint sogar ein grimmiges Lächeln durch die desperaten Lyrics. Dass sich die Themen seiner Songs nie um die eigene Person drehen, ist ebenso klug, wie der Schachzug, am Ende des Albums mit dem Lovesong „Rainig in Darling“ auch ein bisschen Licht ins Dunkel zu lassen. Ganz einfach: Hier hatte die Mainstream-Presse genauso Recht mit ihrer Begeisterung, wie damals bei den ersten drei Alben von Leonard Cohen.

Low
Secret Name

(Kranky, 1999)

Cover-Foto – ?

So langsam wie die Musik des Trios aus Duluth ist, so langsam und zugleich kontinuierlich haben sie sich im Verlaufe ihrer Karriere verändert. Low hatten in den letzten 5-6 Jahren ihr musikalisches Rezept immer mehr verfeinert – sparsame Stimmen und noch sparsamerer Instrumentation, gewickelt um sich langsam drehende Songs. Nun kam der Wechsel zum Kranky-Label und die Zusammenarbeit mit dem Hardcore-Produzenten Steve Albini. Dessen klarer, reduzierter Sound passte perfekt zu ihrer Musik und ließ sie den Schritt Richtung Kammermusik wagen. Dass sie ihren Slowcore“ als Trotzreaktion auf den harten, lauten Hardcore uch solcher Bands wie Albini’s Band Big Black begonnen hatten, ist da ein lustiges Detail am Rande. So wurde nun auf diversen Tracks ihres neuen Albums ein Hardcore-fernes Streichquartett zur Ergänzung hinzugezogen… Aber was Secret Name so besonders in der reichen Diskografie der Band macht, ist die Tatsache, dass sie erstmals (fast) durchgehend nicht nur kluge, sondern auch „schöne“ Songs im Programm hatten. Da zerreißen die Vocal-Harmonies vom Ehepaar Mimi Parker und Alan Sparhawk auf „Missouri“ einem fast das Herz, lassen an Emmylou & Gram denken, da kommt mit „Starfire“ ein Song daher, der ihre größte Annäherung an Pop sein dürfte. Da ist der Gesang von Mimi Parker beim fatalen „Two-Step“… oder dieser weiche und glühende Sound von „Weight of Water“ und „Soon“… Low hatten sich verändert – weiter entwickelt hatten sie sich schon ihre ganze Karriere – aber als neuer Faktor kam nun eine gewisse „Freundlichkeit und Wärme“ in ihren Soundkosmos, die ihren wunderschönen Kompositionen in den folgenden Jahren gut stehen würde. Secret Name ist zusammen mit der EP Songs for a Dead Pilot ein geeigneter Einstieg in ihren Klangkosmos und in ihre Diskografie – und in die Welt des sog. SlowCore.

Wilco
Summerteeth

(Nonesuch, 1999)

Artwork – Lawrence Azerrad

Jeff Tweedy hatte die wenigsten Probleme, sich von seiner vorherigen Band Uncle Tupelo zu emanzipieren. Summerteeth war sein drittes Album nach der Trennung vom Songwriter-Kollegen Jay Farrar, dessen Son Volt vergleichbar gute Musik machten, aber den etwas traditionelleren Ansatz hatten – und es zeigt, dass – und wie sehr – Wilco Tradition als Ausgangspunkt betrachten. Jeff Tweedy hatte eine schmerzhafte Trennung hinter sich, die ihn zu bitteren Texten, aber zugleich zu schwelgerisch schöner Musik inspirierte. Die Aufnahme-Sessions wurden zwischendurch unterbrochen, weil Woody Guthrie’s Witwe den britischen Polit-Barden Billy Bragg gebeten hatte, Texte ihres Mannes zu vertonen. Bragg hatte Wilco’s Being There gehört und war so begeistert von der Band, dass er sie darum bat, ihn für ein Album zu begleiten – aber davon woanders mehr… Im Anschluss gingen Wilco wieder ins Studio und nahmen ein Album auf, auf dem die Erinnerung an Country nur noch vage durchschimmert. Stattdessen gibt es elegante Vocal Harmonies a la Beach Boys, erklingen Bläser und Streicher, wird der große amerikanische Breitwand-Pop zelebriert. Im Kontrast dazu stehen düstere Geschichten über Entfremdung, Trennung, Missbrauch und Enttäuschung. Ein Kontrast, der dem Album Tiefe gibt. Da sind Songs wie der Opener „I Can’t Stand It“, der Song, der von der Band unwillig zur Single umgebaut wurde, der Psychedelik und R&B verbindet, da ist „Via Chicago“, das als Folk beginnt und über die Kirche in Neil Young-Noise abgleitet, da sind Mellotron- gestützte Beatles Anklänge bei „Nothingsevergonnastandinmyway (again)“, oder „ELT“ (= Every Little Thing“, das klingt, als wollte Tom Petty Grateful Dead Konkurrenz machen, oder das betäubende „My Darling“…. – es wird deutlich, was für ein famoser Songwriter Jeff Tweedy ist. Die Aufnahmen liefen allerdings nicht ganz so friedlich – das Album wurde mit den angesagten Pro-Tools immer sauberer und perfekter produziert, womit Teile der Band nicht ganz einverstanden waren und der Einsatz des Mellotrons wurde auch nicht ohne Disput hingenommen – die Richtung in die Wilco driftete, war eindeutig Tweedy’s alleiniges Ding. Trotz allem ist es ein wirklich „schönes“ und dunkles Album – das sich unverdient schlecht verkaufen sollte. Aber dann kam die Trennung vom Label und das noch experimentellere, dafür aber auch erfolgreichere Yankee Hotel Foxtrot

The Roots
Things Fall Apart

(MCA, 1999)

Cover – Pressefoto von den Civil Rights Movement Riots der frühen Sechziger

Erstmal: Dieses Album gehört zu denjenigen, die man zeitlose Kunst nennen kann. Ich weiß, dass HipHop insbesondere von Hörern „normaler“ Rockmusik – insbesondere von Metal-Fans – gerne aus verschiedenen Gründen abgelehnt wird. Einer davon beruht auf der Unterstellung, dass Rapper „Nichts Können müssen…“ = keine bzw. kaum instrumentale Fertigkeiten besitzen. Das ist schon vom Anfang her falsch gedacht – man muss kein Instrument „beherrschen“, um große Musik zu machen – siehe Punk, siehe Noise – siehe etliche Metal-Acts. Aber The Roots sind HipHop und zugleich extrem versierte Musiker, Bandkopf und Drummer ?uestlove ist einer der besten seiner Generation, die Roots waren die „Hausband“ von US Talker Jimmy Fallon – so was bedeutet Können – UND – es ist egal. Im HipHop geht’s natürlich ums Wort, und so ist Things Fall Apart auch ein Konzeptalbum, wenn auch ein freies, das der Interpretation des Hörers bedarf. Die Rhymes von Rapper Malik B und Black Thought sind meisterhaft, kein Satz fehl am Platz, reichen von Referenzen zu Coltrane bis zu Louis Stevenson und bringen Ghetto Attitude und Intellektualität in perfekte Balance. Und der musikalische Background ist – wie angedeutet – perfekt. Die Instrumentalisten können Jazz und Klassik, und mitunter muß man sich klar machen, dass hier nicht schnöde irgendein Jazz-Groove gesampelt wurde, sondern alles Live im Bandgefüge eingespielt wurde, was wiederum einen ziemlich coolen, zurückhaltend jazzigen Hintergrund schafft. Und natürlich trägt die Produktion, die Niemanden in den Vordergrund schiebt, dazu bei – was man vielleicht als einzigen Kritikpunkt benennen könnte. Das Album fließt dahin. Ihm unterliegt eine düstere Melancholie, eine stille Wut über die Ungerechtigkeiten und Schieflagen in der US-Gesellschaft – nicht umsonst wurde als Covershoot ein Photo gewählt, das zeigt, wie zwei schwarze Teenager zu Zeiten des Civil Rights Movements (Anfang der Sechziger) bei den damaligen „Riots“ von weißen Polizisten gejagt werden. Things Fall Apart ist kluger, individueller, virtuoser conscious HipHop – mit einer illustren Gästeschar (da sind D’Angelo, Erykah Badu, mit deren Gastbeitrag auf „You Got Me“ ein Charts-Hit gelang, Common, Mos Def, Ursula Rucker…). Das für dieses Album in New York versammelte Künstlerkollektiv – es nannte sich The Soulquarians – nahm im selben Zeitraum D’Angelo’s Neo-Soul Geniestreich Voodoo, Erykah Badu’s Mama’s Gun – die weibliche Entsprechung dazu – und Common’s Like Water for Chocolate auf. – die alle 2000 veröffentlicht werden. Da fand eine stille Explosion der Kreativität statt. Das merkt man auch hier. Am besten alle vier Alben haben…

Gas
Oktember EP

(Mille Plateaux, 1999)

Cover Konzept – Wolfgang Voigt aka Gas

Gas ist eines von Vielen Projekte des vielbeschäftigten Kölner Produzenten/ Labeleigners und Musikers Wolfgang Voigt. Er hatte schon im Vorjahr mit dem Album Zauberberg den elektronischen Untergrund aufgewühlt, aber mit der im Februar 1999 veröffentlichten EP Oktember und dem einen Monat später folgenden Album Königsforst – und dann ein Jahr darauf mit dem womöglich noch um ein Haar besseren Nachfolger Pop – machte er definitive Statements in Sachen Minimal Techno. Es gibt etliche progressive Produzenten (und Hörer), die den simplen Rhythmus des Techno als zu primitiv diskreditieren – Voigt aber ist einer, der diese rhythmische und strukturelle Klarheit nicht aufgibt, sondern sie für seine Zwecke verändert und nutzt – und so insbesondere als Gas seinerzeit immens innovativ war. Im Ambient auf den logisch aufeinander aufbauenden Tracks von Oktember und Königsforst bleibt der Beat stetig in seinen Grenzen, wird dann aber unter den Loops und Sounds von Synth, Hörnern, gesampelten Sounds von Klassikalben der Deutschen Grammophon erstickt – incl. Knistern der Schallplatten übrigens… Dieses goldene Rauschen und Summen lässt tatsächlich die zum Titel des Albums passenden Bilder von dunklen Tannen, Mondlicht über stillen Seen, dem teutonischen Urbild des Waldes entstehen. Die EP beinhaltet hierbei zwei Tracks: Die erste LP Seite mit einer verlängerten Version von Track 1 von Königsforst, Track 2 ein Spaziergang durch den nächtlichen Schwarzwald mit rhythmischen Schüben wie Nebelschwaden – fast besser als die ganze folgende LP

Gas
Königsforst

(Mille Plateaux, 1999)

Cover Konzept – Wolfgnag Voigt

… Die entstehende Musik verdankt Wagner weit mehr als der Club Culture, was Voigt selber auch eindeutig beabsichtigte: „ Als ich an Königsforst arbeitete, hatte ich die Vision von einem Klangkörper, der irgendwo zwischen Schönberg und Kraftwerk steht, zwischen Horn und Bassdrum. Für mich ist Königsforst Galmrock als Wagner, Hänsel und Gretel auf Acid, eine Wanderung durchs Unterholz – in eine Disco in einem imaginativen, nebligen Wald. Im Rückblick ist das Erfreulichste und Überraschendste an dieser Musik, dass weltweit so viele Leute das Album genau so verstanden, wie ich es verstanden wissen wollte.“ Wie oben gesagt – der Nachfolger dieser beiden Alben – Pop aus dem Jahr 2000 – ist womöglich noch besser – so etwas wie die logische Fortsetzung von Königsforst, wie Königsforst die Fortsetzung der Ideen von Zauberberg ist – welches Album ich empfehlen würde? Ich meine, man muss beide kennen und beide sind unverzichtbar. Ihre zeitweise schlechte Erhältlichkeit (bei Discogs kosteten die LP’s zeitweise irgendwas ab 120,- € und regulär gab es die Alben weder als CD noch als LP, weil 2004 der Vertrieb pleite gegangen war…) ist ärgerlich und steht in keinem Verhältnis zur Bedeutung, aber 2017 hat Voigt dann den Projektnamen Gas wiederbelebt und mit Narkopop ein weiteres Kapitel Minimal Techno & Klassik & teutonischer Forst geschrieben… und die alten Gas-Alben wurden wiederveröffentlicht