Das Wichtigste aus 1998 – Das Ende der Ära Kohl und Bill Clinton’s Praktikantin – Mark Hollis bis OutKast

In den USA sorgt die sogenannte Lewinsky-Affäre für Aufsehen, in der Präsident Bill Clinton sein Verhältnis zu einer Praktikantin samt pikanter Details zugeben muß und damit die heimliche Begeisterung aller Moralwächter erregt.

In Kenia und Tansania werden Anschläge auf amerikanische Botschaften verübt, bei denen 200 Menschen sterben – die USA werden in Afrika immer unbeliebter. In Nigeria sterben bei der Explosion einer von amerikanischen Konzernen betrieben und nicht überwachten Pipeline 1200 Menschen (was weit weniger bekannt ist!). Die Organisation „Attac“, die sich für Umweltbelange und gegen politisches und gesellschaftliches Unrecht jeder Art einsetzt, wird gegründet. In Deutschland endet nach 16 Jahren die „Ära Kohl“ und damit auch erst einmal die politische Vorherrschaft der CDU. Mit Gerhard Schröder wird ein selbstherrlicher Salon-Linker neuer Bundeskanzler. In Kambodscha stirbt der alte Diktator Pol Pot – und am 18. Mai stirbt mit Frank Sinatra einer der größten Gesangsstilisten des Jahrhunderts. Auch schon tot: Carl Wilson von den Beach Boys, Tammy Wynette und Carl Perkins. Musikalisch ist ’98 ein Jahr des Umbruchs. Brit Pop kollabiert, der amerikanisch Alternative Rock ist auch nicht mehr neu. Obwohl große Acts wie R.E.M und Pearl Jam ganz gute Platten machen, sind sie künstlerisch weniger spannend als noch vor ein paar Jahren – denn sie sind nun der neue Mainstream. Dafür gibt es dieses Jahr eine Menge interessanter Alben mit mehr oder weniger avantgardistischer, „elektronischer“ Musik: Bands wie Massive Attack, Air, Boards of Canada machen die wirklich spannende Musik. Und der Post-Rock etabliert sich: Ein „Genre“, das sehr verschiedene Bands mit sehr verschiedenen Stilen unter einem Begriff vereint, den diese Bands vermutlich nicht verwenden würden. Auch „alternativer“ Country schenkt uns ein paar wunderbare Alben. Und aus dem noch alternativeren Underground (der Alternative zu Alternative sozusagen) kommen ein paar Alben, die demnächst zu Klassikern werden, die seltsam neben allen Trends zu liegen scheinen – wie z.B. Neutral Milk Hotel’s Opus Magnum. Metal und diverse Sub-Genres wie Noise-Rock sind sowieso schon länger fruchtbar. Ganz uninteressant, höchstens als Negativ-Entwicklung kulturhistorisch bedeutend ist IMO der Country-Pop von Shania Twain, die Soundtrack-Overkills zu Filmen wie Titanic (der begann schon im Vorjahr) oder Armageddon (Aerosmith) und – Ooops, das Disney-Sternchen Britney Spears beginnt seine musikalische Karriere!

Mark Hollis
s/t

(Polydor, 1998)

Cover-Foto – Steven Lowell-Davis

Wie banal: Das Album Mark Hollis ist das Ergebnis schlichter Vertragserfüllung gegenüber der Plattenfirma des früheren Mastermind’s von Talk Talk. In den Jahren seit ’91 hatte Mark Hollis zwar komponiert und Klavier gespielt, aber Nichts aufgenommen. Sein Unwille sich in Kategorien pressen zu lassen und seine Unzufriedenheit mit den Zwängen der Musikindustrie – und sicher auch die Tatsache, dass er von den Tantiemen aus Talk Talk-Tagen ein unabhängiges Dasein führen konnte – ließ ihn wohl einfach ganz in Ruhe arbeiten. Nun führte er auf seinem ersten und einzigen Solo-Album ein wenig widerwillig das weiter, was seine Band zuletzt auf so hohem Niveau angestoßen hatte – und ließ dabei sein Interesse an rein akustischer Musik in das Konzept von Stille und Dynamik einfließen. So destillierte er Klänge, erzeugt von kaum tätigen Instrumentalisten, zu einem leisen, meditativen, akustischen Minimalismus, mit gänzlich lose erscheinenden Tracks, oft ohne jede strukturgebende Percussion. Aber Hollis kam vom Pop, und die dabei entstandenen „Songs“ sind immer noch von großer melodischer Schönheit. Hollis‘ seufzender Gesang wurde regelrecht „umrahmt„ von den scheinbar improvisierten Klängen der Holzbläser und von gestreichelten Akustikgitarren. Ohne die sonischen Ausbrüche der letzten beiden Talk Talk Alben entstanden Bilder und Stimmungen, die einen Menschen zeigen, der über sein Leben reflektierte. Hollis‘ resonante Stimme war in den letzten Jahren ruhiger und rauer geworden, was dieses Album zusammen mit der minimalistischen Schönheit solcher Songs wie „The Colour of Spring“ und „Watershed“ zu einem erstaunlichen Erlebnis macht. Mark Hollis zeigt einen Musiker, der „Stille“ zum Leitfaden seiner Musik gemacht hat – und der damit ein in der populären Musik einzigartiges Album schuf…. und dann bis zu seinem Tode 2019 konsequent verstummte.

Mercury Rev
Deserter’s Songs

(V2, 1998)

Cover-Foto – Kevin Salem

Einst waren Mercury Rev als Band gestartet, die wilde Noise Ausbrüche und freie Psychedelik zu teils unglaublich lautem und unglaublich tollem Krach vermischten (Bei der ’94er Lollapalooza Tour wurden sie wegen zu großer Lautstärke ‚rausgeschmissen und man höre sich nur mal ihr Debüt Yerself Is Steam und den Nachfolger Boces an!!). Nachdem der exzentrischen David Baker – und mit ihm die Düsternis – aber nicht der latente Wahnsinn aus dem Bandgefüge entfernt worden war und nach einem weiteren sehr guten Album (See You on the Other Side von 1995) hatten sie nun bei Deserter’s Songs mit Flaming Lips Kollaborateur und Bandmitglied David Fridman den perfekten Produzenten an Bord. Einen, der die immer knapp unter der Oberfläche lauernde Schönheit in den Songs der Band herausstellte, indem er ihnen zunächst einmal einen wunderbaren orchestralen Soundteppich webte. Dazu ließ er „The Hudson Line“ mit Grasshopper’s ekstatischer Gitarre veredeln, „Delta Sun Bottleneck Stomp“ auf eine Promenade in Outer Space führen, und fixte bei „Endlessly“ und „Holes“ Generationen von Hipstern auf den Sound von Bassoon und singender Säge an. Und bei „Opus 40“, dem zentralen Stück der Platte, führte Jonathan Donahue uns mit seiner Chorknabenstimme in eine lupenreine Technicolor-Explosion. Deserter’s Songs ist zu gleichen Teilen narkotisch und überirdisch – Es ist Schlaflied, Trip und Triumph in Einem. Und dieses Meisterstück gelang ihnen, obwohl – oder gerade weil – sie fast ihr ganzes Equipment gegen Drogen eingetauscht hatten! Die Frage, ob die Band während der Aufnahmen stoned war, ist somit obsolet. Die Frage ob man die wilderen, explosiveren ersten beiden Alben der Band diesem und dem nachfolgenden vorzieht ebenso – man muß beide Versionen von Mercury Rev kennen.

Massive Attack
Mezzanine

(Virgin, 1998)

Cover – Nick Knight. Fashion Photographer

In irgendeiner Kritik habe ich mal gelesen, Mezzanine absorbiere Licht. Und tatsächlich finde ich kaum einbesseres Bild für die Musik auf Massive Attack’s drittem Album. Im sowieso schon dämmrigen Genre TripHop wurden weder zuvor noch danach so tiefe Abgründe ausgeleuchtet, wie beim bedrohliche pulsierenden „Angel“, Vocals so herausgehustet und -gekeucht wie auf „Risingson“. Und dennoch: Was das Album zum Glück davon abhält ein reiner, unmenschlich finsterer Drogen-Trip zu werden, sind die immer wieder aufblitzenden melodischen – sogar poppigen Momente, die subtilen Hooks in wirklich „schönen“ Songs. Da gibt es die Stimme von Elizabeth Fraser von den Cocteau Twins, deren außerweltliches Wispern auf einem Track wie dem Über-Klassiker „Teardrop“ und besonders bei „Group Four“ einen märchenhaften Kontrast zur Finsternis in der Musik herstellt: Eine Stimme die klingt wie das Licht über einem gewaltigen Agrund – was wiederum eine Spannung erzeugt, die ohne diese kluge Kombination nie erreicht werden könnte. Da ist natürlich auch „Inertia Creeps“, damals nur ein moderater Erfolg, inzwischen ein Klassiker, aufgeführt vom Kern-Trio der Band als Song über eine kaputte Beziehung. Da ist das Titelstück, da sind 11 Songs die zusammen eines der größten Alben der 90er bilden, auch wenn nach den ersten vier Stücken/der ersten Seite der Doppel-LP der hohe Standard etwas sinkt. Mezzanine mag das letzte große Album des Genres TripHop sein (auch weil der Nachfolger 100th Window bei aller Klasse keinen „Hit“ mehr enthält), es gehört aber weit über seine Genre-Grenze hinaus zu den besten Alben, die die 90er hervorbrachten. Übrigens: Ein Mezzanine-Board ist ein Hardware-Element aus der Computertechnik, ein Adapter, der dazu dient, die Hardware zu erweitern.

Boards Of Canada
Music Has the Right to Children

(Warp, 1998)

Design – Boards of Canada

Ich weiss nicht, wie oft ich dieses Album und diese „Band“ als die wichtigste ihrer Art, wie oft ich Music has the Right to Children als das wichtigste IDM/Ambient Techno Album aller Zeiten bezeichnet gesehen habe. Aber irgendwas muss ja dran sein, wenn ein Album so über den Klee gelobt wird. Zumal, wenn diese Lobpreisung auch noch 20 Jahre später stattfindet. Die Brüder Michael Sandison und Marcus Eoin Sandison hatten schon Ende der 80er Musik mit Synthesizern, aus Samples und gefundenen Sounds zusammengebaut, sie hatten ’95 und ’96 zwei EP’s veröffentlicht, die auf ihr Meisterstück vorbereitet hatten (Twoism und Hi Scores), mit Music Has the Right to Children zementierten die beiden ihren guten Ruf und bewiesen (dem, der’s nicht glauben wollte…), dass „elektronische“ Musik genauso emotional und tiefgründig sein kann, wie jede „analoge“ Form der Populärmusik. Sie setzten auf klug-minimalistische Weise Melodiefragmente, Sprachschnipsel und dubiose Alltagssounds zu einer Musik zusammen, die Erinnerungen hochschwemmt, Spannung und Ruhe zugleich erzeugt, eine erfreuliche Wärme generiert. Sie waren (..auch auf den folgenden Alben) im Gegensatz zu vielen anderen Acts der elektronischen Musik nicht kalt oder düster, sondern warm und einladend, ohne je banal zu werden. Der Namen ihres Projektes bezieht sich auf das National Film Board of Canada, deren Naturdokumentationen wohl einen großen Einfluß auf die Musik der Brüder hatte. Das wissend, fällt es mir leicht, entsprechende Bilder im Kopf entstehen zu lassen. Um es anders auszudrücken: Boards of Canada klingen, als hätte Brian Eno seine intellektuellen Überbauten mal vergessen, und würde Musik machen, die angenehme Erinnerungen wecken soll. So entstand eine Art pastoraler Folktronica voller delikater Texturen (höre „Turquoise Hexagon Sun“) und fragile Schönheiten wie „Roygbiv“. Natürlich sind die Sandison’s jünger, mit den Sounds und Beats der 80er und 90er aufgewachsen und ihre Musik trägt die Moden ihrer Zeit – aber sie bekommt durch ihre Stilsicherheit und das übergreifende Konzept eine wunderbare Zeitlosigkeit. Das hier ist I(ntelligent) D(ream) M(usic)

Godspeed You Black Emperor!
F♯ A♯ ∞

(Kranky, 1998)

Artwork vom Bandkopf Efrim Menuck

…und um jetzt mal über majestätische Musik zu sprechen, über die Neuentdeckung des Progressive Rock in den 90ern: Wenn der Sprecher beim ersten Stück, dem Intro des „Dead Letter Blues“ das erste Mal von den Müttern spricht, die verzweifelt ihre Kinder halten, und dazu Violinen im Hintergrund aufschreien wie eine Schar Verdammter, bekommt doch ein jeder eine Gänsehaut. F♯ A♯ ∞ ist ein wilder, majestätischer Tribut an das Ende aller Tage, eine Anklage wider die Macht der Märkte, ein verzweifelter Aufschrei ob der Leere des postmodernen Lebens – und ein Triumph dessen, was man Anfang der 70er im Progressiven Rock gesucht, aber nicht gefunden hat, weil die Realität die Fantasie noch nicht überholt hatte. Trotz moderner Herangehensweise wirkt die Musik des neun-köpfigen Musiker-Kollektives aus Kanada altehrwürdig, als hätten wir sie schon lange im Hintergrund gehört, aber nie bewusst wahrgenommen. Samples aus dem Alltag, Straßenprediger, statisches Rauschen aus dem Radio, all das in Kombination mit Streichern und kraftvollen Gitarren überträgt eine Botschaft, wie sie tatsächlich konkreter und politischer nicht sein kann – und das vollkommen ohne „normalen“ Gesang. Die drei ellenlangen Instrumentalstücke auf F♯ A♯ ∞ waren Ende der Neunziger die Neudefinition des Progressive Rock im positiven Sinne und sie sagten vor allem eines: Die Apokalypse wird wunderschön. Passenderweise wurde das Intro zu „East Hastings“ für den epochalen Zombie-Film 28 Days Later benutzt. Dass die Musik von Godspeed You Black Emperor! in das Genre Post Rock eingeordnet wird, ist etwas hilflos – denn mit den anderen Bands des Genres teilen sie nur ihre ausgeprägten Kenntnis für musikalische Dynamik und das fehlen eines Sängers. Aber andererseits: Als was soll man ihr musikalische Inferno sonst bezeichnen? Dies ist Rock nach dem Ende der Rockmusik – also Post Rock und die Schubladen ist geöffnet. Zuletzt etwas Banales als PS: Das Album erschien tatsächlich schon ’97 in Kanada, die weltweite Öffentlichkeit wurde ’98 auf dieses Meisterwerk gestoßen.

Manic Street Preachers
This Is My Truth, Tell Me Yours

(Virgin, 1998)

cover-Foto – Andy Earl

Everything Must Go, das 96er Album der Manic Street Preachers, hatte das rätselhafte Verschwinden ihres Texters und Enfant Terribles‚ Richey James behandelt, und war voller Emphase, Wut und Trauer gewesen. Aber irgendwie mußte es ja auch weitergehen – und von diesem Weitermachen handelt der Nachfolger This Is My Truth, Tell Me Yours. Und die Manic Street Preachers machten das – nun als Trio – auf die für sie vermutlich einzig mögliche Weise. Sie bauten auf dem üppigen Sound des Vorgängers auf, die Songs wurden wieder in Strings getaucht, und klingen dadurch auch in heutigen Ohren regelrecht überwältigend, sind aber eben auch ganz Manic-like brutal ehrlich und voller überbordender Energie. Dass sie sich damit dem Vorwurf aussetzten, sich zu einer Art Stadion-Rock Band für Sozialisten zu entwickeln, ist sogar berechtigt – aber ein Wiederholen der alten Formeln vor Edwards Verschwinden wäre einfach falsch und unehrlich gewesen. Jedenfalls ging es offensichtlich wieder einmal um Alles. Das war natürlich prätentiös, aber eben auch überzeugend in seiner Leidenschaft und Musikalität. Die erste Single hat keinen geringeren Titel, als „If You Tolerate This Then Your Children Will Be Next“ und hat ganz nebenbei den einzigen explizit politische Text. Die Songs sind teils sehr unterschiedlich, fließen aber so geschickt ineinander, dass ein regelrechter Flow entsteht, der den Pomp zwingend macht. Es gibt auf diesem Album schwächere Songs – manche Idee wird breiter ausgewalzt, als sie es verdient hätte – aber das Ganze ist wieder einmal mehr als die Summe der Einzelteile, zumal This Is My Truth, Tell Me Yours bei aller Kommerzialität als komplette Packung keine leichte Kost ist. Die Preachers bewiesen erneut, dass man Musik machen kann, die R.O.C.K. mit Intellekt und Emotion verbindet.

Come
Gently, Down The Stream

(Matador, 1998)

Foto – David Prifti

Es sollte das finale Album der Band aus Boston sein. Come hatten in den Jahren zuvor als eine der wenigen Bands ihrer Generation Blues perfekt mit Indie-Rock verbunden. Es gab natürlich noch ein paar andere, wie etwa die Jon Spencer Blues Explosion, aber deren Ansatz war es, Blues durch Punk zu filtern, Come allerdings kamen vom Noise-Rock, hatten sich dem Blues sozusagen von einer anderen Seite genähert, Sie hatten zunächst insbesondere textlich und inhaltlich mehr mit Blues zu tun als die meisten anderen Bands ihrer Generation, was wohl auch damit zusammenhing, dass sie mit Thalia Zedek eine der besten und am besten geeigneten Sängerinnen für diese Art Musik hatten. Zedek’s rauer Gesang ist für desperate Geschichten geschaffen, und auf Gently, Down the Stream singt noch sie besser, als auf den vorherigen, beachtlichen Alben. Ein weiterer Reiz sind die sich umschlingenden Gitarren von Zedek und ihrem Partner Chris Brokaw, der hier auch noch Drums spielte. Das einzige, was man dem Album vielleicht vorwerfen kann, ist seine allzu große Lust am Lärm – immer wieder brechen wahre Gitarrenstürme los und zerren die Songs aus dem Blues Konzept. Aber wie gesagt: Come waren eine nicht einmal verkappte Noise-Band. Der Song „Saints Around My Neck“ etwa gerät zu Post-Rock Mogwai’scher Prägung, aber am Ende kommt Thalia Zedek mit ihrer besten Vocal-Performance, um den Song zu erden – und mit „Middle of Nowhere“ werden Come dann regelrecht zärtlich. Chris Brokaws „Recidivist“ zeigt, dass er als Songwriter gewachsen war, dass seine Songs auch ohne den speziellen Sound dieser kleinen Band funktionieren würden. Come waren mit ihrem letzten Album tatsächlich nicht mehr nur grimmig, sondern auch ein bisschen fatalistisch geworden. Man stelle sich einfach vor, Sonic Youth wären mit entsprechender Sängerin beim Blues gelandet. Die Kraft dieser Musik ist im Cover-Shot jedenfalls perfekt abgebildet. Thalia Zedek machte hiernach einige beachtliche Solo-Alben, die Intensität dieses Albums erreichte sie aber nicht.

Gorguts
Obscura

(Olympic, 1998)

Artwork – Luc Lemay

Wie weit sich extremer Metal seit Mitte der Achtziger entwickelt hatte, kann man exemplarisch an diesem Album festmachen: Gorguts hatten als typische US.Death Metal Formation begonnen (ok, die Musiker stammen aus Vancouver, aber egal…), ihr ’91er Debüt Considered Dead war weder besonders toll, noch besonders schlecht, sie hatten die dem Genre eigene instrumentale Virtuosität und gingen – vielleicht zu Unrecht – in der Masse an Alben einer gerade explodierenden Szene unter. Wahrscheinlich teilten sie mit dem zweiten – noch besseren – Album das Schicksal etlicher DM-Bands, die nur ein paar Monate zu spät auf der Szene erschienen waren. Erosion of Sanity gehört zu den vergessenen Diamanten des Death Metal. Es kann neben Death’s Individual Thought Patterns, Morbid Angels Covenant und Cynic’s Focus bestehen, wurde damals aber neben den Alben der Pioniere und dem Black Metal-Hype verdrängt. Die Plattenfirma ließ die Band fallen und Gorguts-Kopf Luc Lemay brauchte fünf Jahre, um ein Label für seinen inzwischen von allen Klischees befreiten Death Metal zu finden. So blieb auch das phänomenale Obscura erst einmal obskur. Und für den Nicht-an Technical-DM-Angefixten mag das auch so bleiben. Schon die ersten Minuten des titelgebenden Openers sind wahrhaft harte Kost: Seltsame rhythmische Sprünge, stolpernde Bässe, absolut verrückte Gitarrenspuren zwischen Quäken und Jazz… da sind Luc Lemay’s Growls noch erholsam. Und Lemay blieb konsequent: Der Viola-Part beim folgenden „Earthly Love“ liegt völlig quer zu Allem, was man im Death Metal kannte, die „Melodien“ sind Free Jazz/Noise/Avantgarde und Brutalität. Aber dass bei all der Komplexität eine enorme Intensität erhalten bleibt, dass die Atmosphäre dieses Albums eine Welt eröffnet, die komplett im Chaos versinkt, DAS macht Obscura so einmalig. Dabei ist diese Band nicht einmal ein Haufen von Virtuosen, wie Cynic etaw. Lemay ist kein virtuoser Gitarrist, dafür hatte er mit dem jungen Steeve Hurdle einen recht fähigen Kollegen an Bord. Aber dieses Album ist in allen Teilen enorm hart und bleibt konsequent ausserhalb der Normen der Death-Metal Melodieführung. Nicht nur die völlig bekloppten Rhythmen sind hörenswert. Die Songs bleiben meist ökonomisch kurz, beim sechs-minütigen „Nostalgia“ nähern Gorguts sich einem fast erholsamen „Groove“, der neun-Minüter „Clouded“ ist fast so etwas wie „Death Doom“. Jeder Track scheint aus zuckenden Einzelteilen zusammengesetzt, die sich erst beim dritten Hören im Ohr festhaken wollen. Obscura braucht dringend mehrmaliges Hören, um dann als einmalig atmosphärisches Album im Gedächtnis zu bleiben. Gorguts machten weiter und bleiben interessant, Obscura wurde in seiner Eigenart nie übertroffen.

Neutral Milk Hotel
In The Aeroplane Over The Sea

(Merge, 1998)

Cover vom Multi-Media Künstler Brian Dewan

Man stelle sich Neutral Milk Hotel als Marschkapelle auf Acid vor, die den Don-Quichotte-haften Versuch startet, Musik für eine Parade von Desorientierten zu machen. Das Album, das bei diesem Versuch entstand, wurde herbei-fantasiert von dem damals noch unbekannten Jeff Mangum. Der Kopf dieser Band schien zunächst viel zu introvertiert, um solch überbordende Musik überhaupt aufzuführen. Er arbeitete innerhalb (s)eines Kokons aus Freunden vom sog. Elefant 6 Kollektiv – einer Gruppe von Musikern, die ihm die Möglichkeit und vor allem die hermetische Atmosphäre boten, seine Ideen zu verwirklichen – vermutlich in der Erwartung, dass so etwas sowieso kaum jemand hören würde…. waren Neutral Milk Hotel doch eigentlich viel zu „Lo-Fi“ um mit einem dermaßen größenwahnsinnigen Konzept erfolgreich zu werden. Aber zum Glück waren sie größenwahnsinnig genug für die Aufnahme der akribisch geplanten Musik. Und sie hatten wohl schlicht die erforderliche unschuldige Genialität, waren zugänglich, poppig und zugleich rätselhaft und schufen – unfreiwillig und sicher zu dieser Zeit für sie selber unerwartet – ein Meisterwerk, das seither einen erstaunlichen Hype erlebt hat. Wie schon auf dem Debüt On Avery Island produzierte der Schulfreund und Apples in Stereo – Gründer Robert Schneider und das erratische Genie Jeff Mangum hatte für sein zweites Album Material angesammelt, das „erwachsener“ war, das dem Debüt in seiner Dynamik überlegen war, das Struktur und Textur hatte und In the Aeroplane over the Sea zu mehr machte, als nur einem weiteren guten Indie-Album. So wuchs das Album im Laufe der kommenden Jahre vom Geheimtip zu einem DER Klassiker des Indie Rocks der 90er. Songs wie die spirituelle Epiphanie „The King of Carrot Flowers Pts. Two and Three“ oder „Two-Headed Boy“ werden mit überbordender Emotion gesungen, fast in Ekstase. Was all das zu bedeuten hatte schien kaum zu entschlüsseln, aber die Technik, sich z.B. auf verschlüsselte Weise mit dem Leben der Anne Frank auseinander zu setzen, den Hörer in textliche Bedeutungsebenen hinein zu locken, ist nicht nur Dylan vorbehalten und wenn Songwriting, Lyrics und Arrangement sich so perfekt zusammenfügen wie hier, dann muß Kritik verstummen. Ein Album das man oft hören muß um es trotzdem nie ganz zu begreifen.

Elliott Smith
XO

(Dreamworks, 1998)

Artwork – Johnson And Wolverton

Ein Singer/Songwriter mit einem Major Label recording budget ist ein bisschen wie ein Esel mit einem Spinnrad, – man weiss nicht wie er daran kam und er weiss nicht was er damit tun soll. Aber das Dreamworks Label-Debüt von Elliott Smith ist der Beweis, dass es Esel gibt, die spinnen können. Auf XO, seinem ersten Album für eine große Plattenfirma, wurde nicht der Fehler gemacht, alles mit Strings und Background-Gesang zuzukleistern. Smith doppelt einzig die eigene Stimme, gab dem Album leicht beatleske String-Arrangements und setzte den Fokus auf die emotionale Kraft seiner Musik. Melancholie und „Prunk“ mögen unvereinbar scheinen, Smith jedoch gelang es auf XO, Beides wunderbar zu verbinden. Jeder aufeinander geschichtete Klang von Gitarre oder Piano fungiert als Ergänzung zu seinem emotionalen Gesang. Natürlich war es nach der Oscar-Nominierung für seinen Beitrag zum Soundtrack von Good Will Hunting deutlich erkennbar, dass Smith nicht in die Welt des Showbiz passte – man stelle ihn sich bei einer der folgenden Oscar-Parties vor – quälend entsetzlich – aber er stand zu dieser Zeit auf seltsame Weise auf der Schwelle zum stardom, – und kehrte diesem Zustand schnellstmöglich den Rücken. Das Beeindruckende an XO ist die Eleganz und Ökonomie, mit der er seine Songs ausstattete – da gibt es keine Zügellosigkeit, Alles ist dem Charakter der Songs dienlich. Smith’s Songs klingen immer (noch) resigniert, aber zugleich tröstlich. Das liegt wohl an seiner Stimme und an der reichen Melodik. Beispiele sind etwa der Opening-Track „Adeline“ oder das Titelstück „Waltz # 2 (XO)“, eine Studie über die Fremdheit und Distanz zwischen Menschen. Dieses Thema scheint ihn zu dieser Zeit (nicht ganz unlogisch) stark beschäftigt zu haben, handeln doch die meisten Songs hier von den flüchtigen Momenten, in denen Menschen untereinander wirklich Kontakt haben – und diesen wieder verlieren.

Handsome Family
Through The Trees

(Loose Rec., 1998)

Cover-Foto – Patrick Monaghan, Design –
Rennie Sparks

Through the Trees mag ja eines der Alben sein, das aus persönlicher Vorliebe in der Riege der „besonderen Alben“ landet – aber diese Auswahl ist persönlich und ich denke, das dritte Album der Handsome Family kann problemlos neben jedem andere Album im Hauptartikel dieses musikalisch so reichhaltigen Jahres stehen. Immerhin sind Rennie und Brett Sparks inzwischen ein bisschen berühmter geworden, als sie es 1998 waren – haben sie doch mit „Far from Any Road“ vom 2003er Album Singing Bones den Titelsong zur enorm erfolgreichen Krimi-Serie True Detective gestellt. ’98 aber waren sie noch obskur… und hatten doch schon Alles, was T-Bone Burnette, den musiklischen Berater bei HBO, dazu veranlasste, ihren Song auszuwählen. Die Musik auf Through the Trees basiert vordergründig auf Country. Will man es genauer bezeichnen, dann ist die Musik der Family sparsam und perfekt inszinierter Gothic Country – und hört man die Texte und das Songwriting, dann wird die Musik der Handsome Family so tiefgründig, wie ein Dylan-Alben, so absurd wie Alice behind the Looking Glass und melodisch so reichhaltig wie das Beste aus dem Nick Cave Songbook. Da ist „The Giant of Illinoise“, die Geschichte über das kurze Leben und den tragischen Tod (an Hühneraugen…) eines jugendlichen Riesen, mit Wendungen und Sentenzen, die man nie mehr vergessen will. Da ist das wunderschön tragische „My Sisters Tiny Hands“, in dem der Zwillingsbruder den Tod seiner Schwester durch einen Schlangenbiss nicht verwinden kann und sich an der Natur rächt. Da ist die Zwei-Noten Banjo-Finsternis von „Down in the Ground“… Und doch wird all die Dunkelheit von herzerwärmender Romantik und melodischer Schönheit illuminiert. Die Kombination aus Brett Sparks‘ texanischer Johnny Cash- Stimme, Rennie’s assoziativen Lyrics und sparsamer Instrumentierung ist perfekt. Der Songwriter Andrew Bird widmete den beiden ein eigenes Cover-Album und Jeff Tweedy von Wilco lieh ihnen Instrumente und Stimme. Das sollte dem Interessierten zeigen, dass die beiden Sparks‘ schon zu dieser Zeit reichlich Bewunderer hatten. Die Diskografie der Handsome Family lohnt die Erforschung.

OutKast
Aquemini

(LaFace, 1999)

Illustration – Greg Hawkins

Die so hoch gehandelten Nachfolge- Alben Stankonia (2000) und Speakerboxxx/ The Love Below (2003) mögen wegen der Hit-Singles „Mrs Jackson, „Hey-Ya“ und „The Way You Move“ die größere Bekanntheit haben, die bessere Wahl aber ist OutKast’s drittes Album Aquemini (…der Titel ist eine Zusammensetzung aus den Bezeichnungen der Sternzeichen von Big Boi (Aquarius) und André 3000 (Gemini)…). Auch hier hat man auf gewisse Weise eine Kombination von zwei Solo-Alben – wie Kiss und die Melvins es vorgemacht haben – aber die Beats und Grooves von Aquemini würden die beiden Köpfe und Herzen hinter OutKast bei den erfolgreicheren Nachfolgern nicht mehr verbessern können (und müssen) Beide Musiker hatten nach dem Erfolg des Vorgängers ATliens von ihrer Plattenfirma größte künstlerische Freiheit zugestanden bekommen, und sie nutzten diese Freiheit, indem sie einen großen Teil des musikalischen Backings live von illustren Gästen einspielen liessen: Da sind George Clinton und Wu-Tang Clan Mitglied Raekwon und Sänger Cee-Lo Green, da gibt es epische Horn-Sections bei „SpottieOttieDopaliscious“, da trauen sie sich mit „Liberation“ einen Neun-minütigen Soul-Gospel-Rap, da ist der Hit „Rosa Parks“ mit den schlauen Choruszeilen „Ah ha, hush that fuss/ Everybody move to the back of the bus/ Do you wanna bump and slump with us?/ We the type of people make the club get crunk“ , der allerdings mit der Bürgerrechtlerin bis auf den Bus-Bezug nichts zu tun hatte, und ihnen einen Rechtsstreit mit der Namensgeberin einbrachte. Da gibt es unendlich coole Jams wie „Slump“ und dann wieder trägen Southern Rap wie „Da Art of Storytellin I & II“ – wieder mit Soul-Einsprengseln. Dass OutKast aus den Südstaaten (… genauer – Atlanta…) stammen – einer Ecke der USA, aus der bis dato wenige erfolgreiche Hip Hop Künstler kamen – war deutlich erkennbar. Ihre Musik und ihre Rhymes fließen wie der Mississippi, ihr HipHop ist in Soul und Funk gebadet, erzählt vom Leben in diesem Teil der Staaten und bereitet auf den aufkommenden Neo-Soul solcher Künstler wie D’Angelo und Erykah Badu vor (… die hier auch Backing-Vocals singt und mit der André 3000 zu dieser Zeit liiert war). Es gibt eine wunderbar saubere Produktion, da sind am Ende etlicher Tracks Gesprächsfetzen aus dem Studio zu hören – und das wird nicht peinlich. Hier zeigen sich beide Künstler noch in schönster Eintracht von ihren unterschiedlichen Seiten: Big Boi als der coole, etwas Witzige, Andre 3000 als der exaltierte Teil des Duos. Aquemini war zu dieser Zeit kein wirklicher Crossover Erfolg beschieden, noch waren OutKast Hip Hop Underground – da mag ihre Herkunft aus den Südstaaten eine Rolle gespielt haben. Aber es ist ein so kluges Album in seiner lockeren Thematik und in seinem breiten stilistischen und thematischen Spektrum, dass es mehr verdient hat, als nur einen Kult-Status. Aquemini ist ein echter HipHop-Klassiker – und wird als solcher inzwischen auch anerkannt – nicht nur von mir..