Das Wichtigste aus 1997 – Tony Blair, Harry Potter und Prinzessin Diana’s Tod – Radiohead bis Roni Size

Nach zwölf Jahren kommt in England die Labour Party mit Tony Blair an der Spitze an die Macht. In Europa scheinen die Sozialdemokraten einen Run zu haben, aber vor den internationalen Konzernen und der Globalisierung werden sie allesamt einknicken bzw. ihre Prinzipien verkaufen.

Hongkong wird nach 99 Jahren an China „zurück gegeben“. In Ägypten kommt es bei diversen Terroranschlägen islamistischer Fundamentalisten zu etlichen Toten. Auch in Algerien herrschen Unruhen mit vielen Toten, die islamische Welt leidet am andauernden Widerstreit zwischen Fundamentalismus und säkularen Bestrebungen. In Kyoto treffen sich Vertreter der Industrieländer und beschliessen, ein bisschen was gegen den Klimakiller Kohlendioxid zu tun – noch aber nimmt das keine Regierung wirklich ernst, bei diesen „Beschlüssen“ handelt es sich um die beliebten leeren Worthülsen. Prinzessin Diana wird von Papparazzi zu Tode gefahren und die Klatschpresse hat für die nächsten Jahre ein Thema. Der erste Band von Harry Potter wird veröffentlicht. Rapper Notorious B.I.G. wird erschossen, Jeff Buckley ertrinkt im Mississippi und Townes Van Zandt stirbt am Suff. Mit OK Computer erscheint eine DER Platten der 90er, Bob Dylan meldet sich mit Macht zurück, in Techno, Breakbeat und IDM erscheinen diverse Klassiker, Big Beat mit den Chemical Brothers und The Prodigy hat seinen kurzen Höhepunkt, Post Rock ist ungemein fruchtbar und der Einsatz einiger Stilmittel des altehrwürdigen Kraut-Rock führt dabei zu erstaunlich guter Musik. In Black- und Death-Metal entstehen etliche Klassiker. Der immer noch so genannte Alternative Rock verlangsamt sich oder wendet sich dem Progressiven Rock zu – inklusive Gitarrensoli. Viele Bands und Musiker des „Indie-Rock“ sind inzwischen etabliert… und ihr Output vorhersehbar. Björk, Nick Cave, Portishead, Smog – sie alle machen gute Platten, aber nichts „Neues“ mehr. Das, was erscheint, ist oft zwar nicht innovativ, aber von hohem musikalischem Anspruch. Dazu passt, daß in diesem Jahr die Luxusversion der Pet Sounds von den Beach Boys veröffentlicht wird. Die Musikszene scheint sich auszuruhen, zurückzublicken und dabei aus Altem Neues zu machen – Postmoderne eben. Und dennoch: Irgendwo finde ich immer noch visionäre Klänge…. und den üblichen Müll wie etwa „Mmmm Bop“ von den singenden Teenagern Hanson (denen ich nicht ihre Jugend vorwerfe) oder Elton John’s über-kitschiges „Candle in the Wind“ für die tote Princess Diana, oder den Ersatz für Take That, die Backstreet Boys, oder „My Heart Will Go On“, Celine Dions Titelsong zum Schinken Titanic… die Single Charts sind so vermüllt wie der Ozean.

Radiohead
OK Computer

(Parlophone, 1997)

Artwork – Thom Yorke und vor Allem
Stanley Donwood. Der hat alle weiteren
Cover für Radiohead mitgemacht

So wie Nirvana mit Nevermind den Punk – oder meinetwegen auch „Indie Rock“ – neu definierten und popularisierten, so modernisierten und popularisierten Radiohead mit OK Computer die experimentelle Rockmusik, hauchten ihr neues Leben ein und schafften es sogar, diesem bis dahin so akademisch erscheinenden Bereich der Populärmusik Massenappeal zu verleihen. Seltsame Tempoverschiebungen, dynamische Schwankungen, fremdartige Texturen und unbekannte Sounds in einer brilliant übereinander geschichteten Produktion wurden zu etwas Neuem und Überraschendem zusammengesetzt – und dass sie sich dabei auch an Bands wie Marillion orientierten, das wusste keiner. Die Musik auf ihrem dritten Album OK Computer ist zweifellos düster und befremdlich – aber auch voller bezaubernder Melodiefragmente. Sie ist elitär, mit ihrer Tendenz zur Avantgarde, und diejenigen, die radio-freundliche Musik hören wollen, sind hier falsch. Auch ihre Plattenfirma rechnete vermutlich mit einem Flop. Es war nicht der geringste Verdienst der Band, dass sie sich ihrer Vision so vollkommen unterwarfen und keinerlei Kompromisse eingingen. OK Computer klingt als hätten Radiohead ihre Sicht der Geschichte von Pop und Underground verinnerlicht und daraus etwas persönliches geschaffen. Dieses Album schimmert in tausenden, immer wieder überraschenden Facetten, und es kann höchstens noch im Vergleich mit dem Nachfolger – dessen Glanz aber ein anderer ist – verblassen. Wenn ich den üblichen Gepflogenheiten genüge tun will, muss ich nun Songs wie „Paranoid Android“ oder „Karma Police“ hervorheben – aber um der Wahrheit gerecht zu werden: Das sind nur die bekannten Singles, das Album selber funktioniert als Einheit noch besser als es die Singles im Einzelnen tun.

Bob Dylan
Time Out Of Mind

(Columbia, 1997)

Art Direction – Geoff Gans, Designer für etliche
Bands und Cover

Bob Dylan galt – ähnlich wie Neil Young – lange als Musiker, der die 60er und 70er geprägt hatte, der aber in den 80ern und 90ern nur noch selten an seine Leistungen anknüpfen konnte (auch wenn seine beiden Cover-LP’s World Gone Wrong und Good As I Been to You ganz große Kunst waren, – aber da waren keine eigenen Songs drauf…) und ab den 80ern hatte Dylan an Popularität und Bedeutung bei den heranwachsenden Generationen verloren – oder war zumindest im Bewusstsein der Pop-Öffentlichkeit in den Hintergrund getreten und hatte mit seiner Never-Ending Tour meist nur noch ergebene Fans (davon gab es ja reichlich) bedient. Als September ’97 Time Out of Mind veröffentlicht wurde, erwartete wohl niemand mehr ein solch definitives Album. Es waren zwar die ersten eigenen Songs nach sieben Jahren Schweigen und man hatte hoffen dürfen, er habe wieder etwas zu sagen. Aber Produzent war wieder – wie beim 89er Album Oh Mercy – Daniel Lanois, und Dylan ging schon stramm auf die Sechzig zu. Immerhin hatte er dem Tod ins Auge gesehen, als er wegen einer Pilzerkrankung der Lunge im Krankenhaus gelandet war. Dadurch schienen Songs über das Altern, über Verlust und über das Licht, das immer verführerischer wird, je weiter man sich von ihm entfernt, mit einer Bedeutung befrachtet, die grabesschwer lastete. Dylan hatte die Songs und Texte zwar schon vor seiner Erkrankung aufgenommen, aber die finstere Stimmung des Künstlers schien dennoch den Gedanken ans Ende geschuldet. Dass mit Lanois einer an den Reglern saß, der seine Aufnahmen gerne mit einer kräftigen eigenen Handschrift versieht, merkt man Time Out of Mind kaum an. Lanois soll wenig begeistert gewesen sein, dass seine Aufgabe nur darin bestand, die Bänder laufen zu lassen. Aber ich vermute, es wäre gleichgültig gewesen, wer auf dem Produktionsstuhl saß. Die Songs nämlich hatten endlich wieder die Kraft, die man so lange bei Dylan vermisst hatte. Auch wenn es das stoische Weitermachen eines Mannes ist, der das Ende des Weges vor sich sieht: „It doesn’t matter where i go anymore, I just go“ Die Stimmung des Sich-Abfindens mit dem Ende aller Dinge beherrscht das Album – und insofern mag man das Musik für alte Leute nennen. Aber Songs wie „Not Dark Yet“ und vor allem das 16 minütige „Highlands“ sind für jeden, der Ohren hat, erkennbar große Kunst.

Nick Cave & The Bad Seeds
The Boatman’s Call

(Mute, 1997)

Cover-Foto – Anton Corbijn. Siehe Depeche Mode etc…

Im Vorjahr war Nick Cave zu so etwas wie einem Popstar geworden – seine Single „Where the Wild Roses Grow“ mit Kylie Minogue ist ja auch eines der verrücktesten und zugleich schönsten Beispiele dafür, wie die Schöne und das Biest sich gegenseitig erheben können – zumal das dazugehörige Album alle Banalität geschickt vermieden hatte – Murder Ballads eben – Da war es umso spannender, was der bisher so wilde Mann nach diesem definitiven Statement zu sagen hatte. Keine Mordgeschichten mehr, sondern Stories über verlorene Liebe und religiöse Zweifel, dazu Songs, die getragen dahinschaukeln, ohne unnötigen Ballast von den Bad Seeds zelebriert. Und was bei Anderen langweilig/altväterlich daherkommen könnte, war dank der – wie bei Cave üblich – tiefgründigen Texte weder zu schwermütig noch zu belehrend. Hier sang Einer, der seine Erfahrung mit Zweifeln jeder Art hatte und der dazu eine zerbrochene Liebe zu verarbeiten hatte. Die Enttäuschung über seine kurze Beziehung zu PJ Harvey durchzieht das Album ebenso wie seine immerwährenden religiösen Zweifel. „Into My Arms“ lässt sich genauso auf die scheinbar doch so seelenverwandte Musikerin beziehen wie „Black Hair“ und „Green Eyes“. Wobei man die Tatsache, dass es eine konkrete Person hinter diesen Songs gab, nicht unbedingt wissen muss. Diese Songs funktionieren sogar besser – und behalten ihre Allgemeingültigkeit – ohne persönliche Zuordnungen. Und zum Thema Religion: Die wunderbar sparsame Kommunion „Brompton Oratory“, nur von einem Kirchen-Casio getragen, zeigt welche Fortschritte Nick Cave als Sänger und als Songwriter gemacht hatte. The Boatman’s Call wurde – vielleicht weil es so balladenlastig ist – nicht so erfolgreich, wie sein Vorgänger. Aber es ist die Basis für kommende Alben und man kann es als das Album ansehen, das Cave zum Leonard Cohen für die Independent-Generation macht. Womit man freilich beiden Meistern ihre Faches ein böses Unrecht antut.

Elliott Smith
Either/Or

(Kill Rock Stars, 1997)

Cover-Foto – Debbie Pastor

Was mit Elliott Smith in den Monaten nach Veröffentlichung seines dritten Albums Either/Or geschehen sollte, war für einen Menschen mit seiner zynischen und depressiven Weltsicht gewiss der Gipfel an Absurdität: Ganze Drei (3)! – Songs dieses Album, schafften es auf den Soundtrack für den recht erfolgreichen Hollywood-Streifen „Good Will Hunting“ – und Smith wurde für den Oscar nominiert…. mit Musik, die völlig persönlich ist, die nur deswegen nicht nach Lo-Fi klingt, weil Smith dazu neigt, bei den Aufnahmen seine Stimme zu doppeln. Elliott Smith war sicherlich kein Ian Curtis, seine Texte klangen immer so, als wäre auf gewisse Weise mit seinem traurigen Schicksal im Einklang, als würde er sich selbst von Außen beobachten, und wäre vom eigenen Unglück nicht sonderlich beeindruckt. So klingen die Songs wie Eintragungen in ein Tagebuch – leicht dahingeschrieben – eine Kunst an sich wohlgemerkt – denn simpel sind weder Songs noch Stories. Aufgenommen hatte er diese Kollektion über eine lange Zeit an diversen Orten, und zu guter Letzt hatte er so viele Songs beisammen, dass er sich kaum entscheiden mochte, was auf das Album sollte. Zu diesem Zeitpunkt spielte Smith noch in seiner Band Heatmiser (deren Mic City Sons vom Vorjahr ein tolles und ziemlich unbekanntes Album ist). Auf Either/Or, dessen Titel vom Philosophen Søren Kierkegaard beeinflusst ist, sind etliche Songs, die man dann als „typisch Elliot Smith“ erkannt hat. Die in all ihrer instrumentalen Einfachheit melodisch wunderbar reich sind, die für mich ein bisschen so klingen als würde Nick Drake mit Simon & Garfunkel Musik machen. Und so wenig ihm die Popularität letztlich geschmeckt haben mag, das Geld, das nun floss, gewährte Smith zumindest zeitweise eine Unabhängigkeit, die man einem solch begabten Künstler wünschen will. Either/Or ist eines der besten Folk-Alben der 90er.

Yo La Tengo
I Can Hear the Heart Beating as One

(Matador, 1997)

Artwork vom Kollegen Jad Fair

Die beiden besten Alben von Yo La Tengo haben auch die längsten Titel: And The Nothing Turned Itself Inside-Out würde 2000 folgen, I Can Hear the Heart Beating as One ist 1997 – in dem Jahr, das für den „Indie-Rock“ das ist, was 1968 für Psychedelic Rock war – das herausragende Album in einem Genre, das sich vor Allem dadurch auszeichnet, dass es unendlich viele verschiedenen Facetten der Rockmusik unter sich vereint. Die Erklärung, WAS genau denn Alternative- oder Independent Rock ist, kann nur in langen Elogen erfolgen, dies hier, zusammen mit dem weiter unten reviewte Album Perfect From Now On zeigt zwei der glänzendsten Facetten der intelligenten Rockmusik der Mitt-Neunziger. Yo La Tengo hatten sich 1997 schon längst vom „Sonic Youth Light“ Image verabschiedet. Sie spielten in einer ganz eigene Kategorie, die einzigen Faktoren, die mit den New Yorkern vergleichbar waren, ist ihre Kenntnis im Umgang mit „Noise“ und die Tatsache, dass sie sich auch ihren eigenen Klang-Kosmos geschaffen hatten, der viele Variationsmöglichkeiten bot – und dass sie eine Institution geworden waren. I Can Hear Your Heart… wurde ihre bislang freundlichste, am wenigsten noisige Platte. Selten klangen sie so entspannt, nie war die Stimmung so sommerlich – sie coverten sogar „Little Honda“ von den Beach Boys – und sie waren natürlich gut darin, die ungewöhnlichsten Quellen in ihren Sound zu übertragen. Gerade in den ruhigen Passagen strahlt das Album, „Autumn Sweater“ ist sparsam, ruhig und der beste Song hier, aufgebaut um eine Organ-Melodie und einen Hip Hop Beat. „Moby Octopad“ klingt, als hätten sie Velvet Underground’s „European Son“ zu einem Dance Track umgebaut. Auf dem 10-minütigen „Spec Bebop“ kehren sie noch einmal zu den langen Noise-Ausbrüchen früherer Alben zurück, aber selbst dabei schien das Ziel nicht Ekstase sondern Hypnose. Ein großes Album einer großen, kleinen Band.

Built To Spill
Perfect From Now On

(City Slang, 1997)

Art Direction – Tae Won Yu

Mitte der Neunziger war J. Mascis von Dinosaur Jr. – der ausgewiesene Gitarrenvirtuose des Indie-Rock – kreativ ein bisschen ausgepumpt. Da kam so jemand wie Doug Martsch mit seinem Trio und seiner Version von „Indie meets Prog auf die bestmögliche Weise“ ganz richtig. Schon der Vorgänger There’s Nothing Wrong With Love war toll, Perfect From Now On ist… perfekt – DAS Indie Album ’97 neben dem oben reviewten Werk von Yo La Tengo (… und zeigt ganz nebenbei, was für eine Bandbreite der Begriff „Indie“ hat). Built to Spill hatten im Zuge des Indie Cash-In nun auch einen Major Vertrag und Doug Martsch gab das Geld für einen größeren Sound und größere Ambitionen aus. Mit den ersten fließenden Noten von „Randy Described Eternity“ verschiebt er den Sound seiner Band von Crazy Horse immer mehr in Richtung Pink Floyd/Slint/Post Rock oder Sonic Youth/Radiohead . Zuvor hatten sie LoFi Perlen abgeliefert, nun dehnten Built To Spill sich in alle Richtungen. Das Album dauert fast eine Stunde, hat aber nur 8 Songs – die dann auch mal über 8 Minuten dauern können. Man hört das robuste Trio kraftvoll die Grundstrukturen legen, Scott Plouf (dr) und Brett Nelson (b) sind in dieser Band nicht nur Erfüllungsgehilfen, ohne Sie würde so ein Album nicht gelingen, Und Doug Martsch hat nicht nur seine Songideen, er ist auch ein immens kreativer Gitarrist, spielt mit Sounds, Tempi, Effekten – holt damit das, was in den frühen Siebzigern so mancher Gitarrenheroe geschafft hatte, in die Neunziger. Und seine Songs hier haben – ähnlich wie die von Radiohead – mitunter drei bis vier Teile, werden durch den Klang von Moog und Cello angereichert, haben in jeder Phase wieder eine neue Facette, einen nächsten überraschenden Moment und sind auch noch von melodischer Finesse. Man kann’s auch einfach sagen: Doug Martsch war ganz groß in Form. Es muss an der Masse von Veröffentlichungen in dieser Zeit liegen, dass Perfect From Now On nicht so bekannt wie – sagen wir mal – OK Computer ist.

Blur
s/t

(EMI, 1997)

Cover – Yacht Associates, aka Chris Thomson
und Richard Bull

Der Brit-Pop Hype ist ’97 (gottseidank) zuende, seine Protagonisten dürfen beweisen, dass sie mehr sind, als eine Mode. Blur’s Gitarrist Graham Coxon hatte das ’95er Album The Great Escape ob seiner „britishness“ ein „Rinder-Wahnsinn’s“ Album genannt und machte inzwischen keinen Hehl aus seiner Bewunderung für den derzeitigen US Indie Rock und solche Bands wie Pavement. Für ihr neues Album gingen Blur nach Island und setzten auf Weiterentwicklung statt Zementierung. Das neue, selbstbetitelte Album verzichtete auf polierte Keyboard-Sounds und Bläserarrangements und setzte dafür auf Rückkopplung und Lärm. Aber natürlich konnten Blur ihre Herkunft dennoch nicht verleugnen. Schon Damon Albarn’s Stimme wäre in den USA undenkbar, und Blur hatten nun mal 30 Jahre britische Pop-Historie in den Knochen. Aber die Kinks und Beatles-Einflüsse wurden nun unter rauen Gitarren, seltsamen Sounds, klappernden Percussion, oftmals nur noch gemurmeltem Gesang und einem rumpelnden Bass vergraben. Man nehme allein schon „Beetlebum“, die erste Single und den Opener der LP. Eine herzergreifende Beatles-Melodie mit schmelzenden Harmonien wird gegen eine krachende Rhythmus-Gitarre und eine mäandernde Basslinie gesetzt. Unter der Schönheit der Melodie wächst der Noise, Soundeffekte häufen sich an und Damon Albarn verfällt ins Falsett. Und dann der 2-minüter „Song 2“ – mit dem bekanntesten „Woo-Hoo“ der Neunziger, mit ultra-verzerrtem Bass und mehr Punk-Attitüde, als man es dieser immer so intellektuell wirkenden Band je zugetraut hätte. Ein perfekter Adrenalin-Rausch. Und das sind nur die bekannten Songs. Blur hat die Eigenschaft aller Blur-Alben: Die Non-Single Tracks fallen nicht ab. „Death of a Party“ paart Glam mit elektronischen Störgeräuschen, „Chinese Bombs“ ist wieder purer (Post)Punk „I’m Just a Killer for Your Love“ ein Beispiel dafür, dass Blur auch den lyrischen und musikalischen Freak-Out beherrschen – und „Look Inside America“ passenderweise der einzige Song, der an die älteren Blur erinnert. Sie hatten sich eine Zukunft erobert.

Spiritualized
Ladies And Gentlemen, We Are Floating In Space

(Dedicated, 1997)

Artwork als Pillen-Packung von Jason Pierce und Mark Farrow

Schon mal grundsätzlich: Ein Album mit 70 Minuten Musik als Medikament zu verkaufen, wird ja was bedeuten: Spiritualized’s drittes Album kann man ohne weiteres als Inbegriff und Überhöhung all dessen sehen, was in der psychedelischen Musik der letzten Jahrzehnte gechaffen wurde. Sie fliegen höher als Jim Morrison, spielen kosmischere Musik als Pink Floyd und schreiben Songs die an Beatles und an Rave gemahnen mit Textzeilen wie: „Sun’s so bright that I’m nearly blind, cool ‚cause I’m wired and I’m out of my mind, warm as the dope running down my spine“. Und als Timothy Leary sein berühmtes „Turn On, Tune In, Drop Out“ postulierte, könnte er die Zeile „ladies and gentlemen, we’re floating in space“ – die ersten Worte, die man auf diesem Album zu hören bekommt – vorausgesehen haben. Jason Pierce, der Kopf von Spiritualized, hatte auf den beiden vorherigen Alben noch das Erbe seiner vorherigen Band Spaceman 3 bzw. von My Bloody Valentine fortgeführt. Auf Ladies And Gentlemen, We Are Floating In Space, dem Album, das tatsächlich als CD in einer Pillenbox samt Beipackzettel mit ausführlich beschriebenen Nebenwirkungen verkauft wurde, schuf er den eigenen Sound, indem er die Songs ins galaktische verlängerte und mit Bläsern und Streichern vergrößerte. Shoegaze, Pop und Rave so zu erweitern hätte auch ganz fies in die Hose gehen können, aber Pierce hatte Songs, die so elastisch waren, dass man sie wie Mr. Fantastic überdehnen kann – ja sogar muss… Irgendwann würde das vielleicht zur Masche werden, hier war es neu und aufregend. Natürlich ist das wunderbare „I Think I’m In Love“ ungeheuer ausladend, aber wie soll das auch anders gehen, schließlich geht es nicht wirklich um Liebe, sondern um Heroin: “love in the middle of the afternoon / Just me, my spike in my arm and my spoon” – zu dieser Zeit trennte sich Pierce von seiner Gitarristin Kate Radley und hatte mit der Drogensucht zu kämpfen. Entsprechend düster ist das Album, aber es ist auch eine Supernova der Kreativität und Musikalität. Am Schluß lässt das 17-minütige „Cop Shoot Cop“ mit seinen Anklängen an Talk Talk’s „The Rainbow“, seinem Nihilismus und den Zeilen „Hey man there’s a hole in my arm where all the money goes, Jesus Christ died for nothing, I suppose“ keinen Raum für Hoffnung. Es ist erhebend und erschreckend… man treibt zwischen den Sternen, umgeben von kalter Schönheit.

Emperor
Anthems to the Welkin at Dusk

(Century Media, 1997)

Cover – Gustave Dore’s Illustration zu Milton’s Paradise Lost

Black Metal ist ’97 ein etabliertes Genre. Zwar hat der Pop-Hörer Angst vor den Kriegsbemalungen der Musiker, hört nur den Lärm und die böse Aggression und sieht umgedrehte Kreuze – aber da gab es schon lange viel mehr, als die Klischees, die sich gerade hier ausdauernd gehalten haben. Dass einer der besten Musiker unter den BM-Heroen (Varg Vikersen aka Burzum) ein verurteilter Mörder war und später ein faschistoider Schwachkopf wurde, hat nicht geholfen das Image dieser Musik(er) zu verbessern – zumal manche darunter wiederum gerne damit kokettieren. Und trotzdem – was da mitunter herausbricht, ist Kunst. Die Musiker von Emperor etwa gehören zum ominösen „Inner Circle“ der norwegischen BM-Szene, ihre Mitglieder landen nach dem epochalen Debütalbum In The Nightside Eclipse fast alle im Gefängnis, Drummer Faust wegen Mordes, Gitarrist Samoth wegen Kirchenverbrennung… Alle Klischees wurden über-erfüllt. Nur Sänger/Gitarrist Vegars Tveitan aka Ihashn blieb draußen. Er ging nach Hause, komponierte neue Tracks, tauschte sich mit Samoth aus und als der aus dem Gefängnis entlassen wurde, begannen die beiden mit den Aufnahmen zu einem der fraglosen Meisterwerke des Black Metal. Dabei gilt Anthems to the Welkin at Dusk vielen „TRVE BM-Fans“ als Verrat, weil es in höchstem Maße auskomponiert, detailliert und orchestriert wurde. Die gewollte Primitivität vieler Bands ihrer Zunft wollten die beiden Köpfen von Emperor allerdings von Anfang an nicht zum Selbstzweck machen. Dem Nicht-Vorbereiteten mag dennoch nur das schrille Schreien, die Blastbeats und rasender Gitarren-Donner in Erinnerung bleiben – aber wie immer – man muss sich mit diesem Album beschäftigen – und die Details fallen ins Auge. Der Opener „Alsvartr“ ist mit akustischen Gitarren und ominösem Geraune untypisch. Bei „Ye Entarncempirium“ aber rasen die Gitarren und rattern die Drums ganz BM-like – aber die Melodie windet sich in Schönheit und Synthesizer unterlegen Alles mit majestätischen Orchesterklängen. Und wenn dann klare Stimmen erklingen, glaube ich, Pink Floyd im Hyperspeed-Tempo zu hören. Immer wieder fallen Emperor in alte Black Metal-Muster: Die gekreischten Vocals von „Thus Spoke the Nightspirit“ sind herrlich bösartig. Aber die Melodien sind enorm komplex und melodisch und Synthesizer-Schwaden durchziehen das gesamte Album. Nicht als atmosphärische Zugabe wie bei Burzum, sondern als tragendes Gerüst unter der Musik. Anthems… ist genau an der Schwelle zwischen Black – und Progressive Metal. Emperor würden in dieser Richtung weitergehen, aber hier wurden sie im Momentum zwischen primitiver Kraft und Komplexität eingefangen. Das Album steht auf der selben Stufe mit Dissection’s Storm of the Light’s Bane, Satyricon’s Nemesis Divina, Darkthrone’s Under a Funeral Moon, und Burzum’s Filosofem.

Esoteric
The Pernicious Enigma

(Aesthetic Death, 1997

Artwork von der Band selber gestaltet

Zugegeben: Es ist eine sehr „subjektive“ Entscheidung, das zweite Album der – meiner Meinung nach – besten Band aus dem Sub-Genre „Funeral Doom Metal“ in eine Reihe mit Dylan und Radiohead zu stellen. Da rauft sich der distinguierte Checker die Haare. Aber ich bin ja auch einer aus dieser erlesenen Schar und ich werde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass Metal weit mehr zu bieten hat als Nietenhosen und Twin-Gitarren-Soli. Und neben Black Metal’s Triumph durch Emperor sind Esoteric mit ihrem zweiten Album The Pernicious Enigma regelrecht abenteuerlustig. Wobei dieser tonnenschwere Brocken Doom das Attribut „lustig“ zu Staub zermahlt. Es ist ein 2 CD/3 LP-Berg, der sich in seiner Härte und konsequenten Langsamkeit mit kaum etwas anderem vergleichen ließe. Es GAB Bands wie Thergothon und Skepticism, die Metal schon vorher auf glaziales Tempo verlangsamt hatten, aber soviel psychedelisches Schillern, soviel träge Schönheit neben knochenbrechender Härte gab es bis dato nirgendwo. Als Nächstes würden sie noch ohrenbetäubender werden, hier klingen sie noch vergeichsweise „dünn“. Noch ist das beim Debüt Epistemological Despondency so erstaunliche Alleinstellungsmerkmal „Psychedelic“ prägend – aber die Düsternis hat zugenommen. Auf der ersten Hälfte des Albums gibt es noch seltsame Sounds aus dem Nirgendwo, tatsächlich so etwas wie „Gitarren-Soli“ (nicht im Sinne von Eddie Van Halen), aber auch die Gitarren- und Bass-Drones, die vom Noise-Rock in den Funeral Doom geholt wurden. Die Atmosphäre ist traum-gleich, schizophren. Aber auf der zweiten Hälfte des 2-stündigen Albums wird es dunkel, wenn die beiden 13-Minüter „Stygian Narcosis“ und „A Worthless Dream“ alle Hoffnung unter Noise begraben. Und in den letzten 20 Minuten von „Passing Through Matter“ verfällt man in Katatonie und wird vom Strom aus Gitarren, Bass, Drums und knirschenden Growls davongetragen. Esoteric sind sicher anstrengend, ihre Musik ist nah am Noise, sehr „physisch“ – und zwei Stunden sind dann fast zuviel. Aber ihrer Musik wohnt eine Schönheit inne, die mich sehr berührt hat. Und mit diesem Album haben sie Funeral Doom vielleicht nicht erfunden – aber sie haben diesem Stil ihren einzigartgen Stempel aufgeprägt.

Portishead
s/t

(Go Records, 1997)

Design – Sarah Sherley-Price, Foto – Marc Bessant

Die dunklen Unterströmungen, die unter der Oberfläche des genre-definierenden Vorgängers Dummy lauerten, kommen auf dem selbstbetitelten zweiten Album der Band aus Bristol an die Oberfläche. Portishead sind deutlich düsterer, die Jazz- und Klassik-informierten Samples aggressiver, die Gitarren schneidender… Aber es ist vor Allem und besonders Beth Gibbons‘ Stimme, die nun noch stärker nach Wut, einer seltsamen Art von nihilistischem Hohn oder betäubter Verzweiflung klingt. Man spürt dabei eine dunkle Freude, eine gewisse Würde, die den desperaten Sound des Albums noch halbwegs erträglich macht. Dummy und Portishead sind zwei Alben, die sehr logisch aufeinander folgen. Es wäre somit dumm und eindimensional zu sagen, dieses zweite Album wäre schlicht Dummy 2.0. Damit würde man die künstlerische Entwicklung der Band in den letzten drei Jahren diskreditieren, und man würde vor Allem ihrer singulären Stellung nicht gerecht werden. Der Sound ist nicht verbessert, hat dafür andere, dunklere Dimensionen bekommen. Und insbesondere das Songwriting ist auf dem selben hohen Niveau, wie auf dem Vorgänger. Die Singles „ All Mine“, „Over“ und „Only You“ hatten zwar nicht den kommerziellen Erfolg wie „Sour Times“ vom Debüt, aber mich scheren ja auch Verkaufszahlen nicht – und erfolgreich war Portishead schon – nur eben zu düster und verstörend für den ganz großen Erfolg. Wäre aber auch irgendwie seltsam, wenn so etwas die Charts anführen würde. Es gibt die Kritik, dass sie sich mit diesem Album zu sehr auf ihren Sound und zu wenig auf Songs konzentriert hätten – eine Ansicht, die ich nicht teile, die Songs sind „schwerer“, man muss sich an sie gewöhnen und der Sound ist logischerweise besser ausgearbeitet. Dummy war zugänglicher, aber Portishead ist der dumpfe Knall, mit dem die Tür zum Trip Hop geschlossen wurde. Portishead selber brauchten geschlagene 11 Jahre bis zum nähsten Album, Beth Gibbons‘ 2002er Album Out of Season mit Rustin‘ Man zeigte dann, wie sehr man sie vermisste.

Roni Size Ft. Reprazent
New Forms

(Talkin‘ Loud, 1997)

Cover – Intro Design. Londoner Design Factory

Welches der vielen „elektronischen“ Alben des Jahres ’97 das beste sein soll, ist Geschmackssache und bei mir zusätzlich stimmungsabhängig. 1997 wurden wir gesegnet von Aphex Twin, Autechre, Photek, Daft Punk, Gas, etc pp (Dazu gibt es natürlich auch ein eigenes Kapitel). Dass hier nun New Forms exponiert wird, ist reine Willkür, ausgewürfelt… zumal die Unterschiede zwischen den oben genannten Acts und dem „Drum’n’Bass“ von Roni Size doch teilweise recht groß sind. Ich habe da einen un-nerdigen Ansatz – mir ist egal welchem mikroskopischen Sub-Genre Aphex Twin, Gas, Photek, Biosphere oder eben Roni Size angehören, sie alle haben ihren eigenen Weg, (Pop-)Musik mit „elektronischem“ Equipment zu abstrahieren – und somit das zu erreichen, was elektronische Musik zu dieser Zeit so hervorragend leistet. Roni Size – bürgerlich Ryan Williams und sein(e) Band/Projekt Reprazent (= Si John (b), Clive Deemer (dr), Sängerin Onnalle und diverse andere Freunde/Produzenten) bauten 1997 mit New Forms das definitive Jungle/ Drum’n’Bass Album zusammen. Hier ist Alles drauf, was für dieses Genre, für diese Musik wichtig ist – und es ist alles in größter Perfektion ausgeführt. Das einzige Album, das da heranreicht, wäre Timeless von Goldie, aber New Forms ist abwechslungsreicher und bleibt über seine fast 80 Minuten Dauer spannender. Hier gibt es den „Hit“ „Brown Paper Bag“ mit seinem wunderbar singenden Akustik-Basslauf, mit den rasanten Drum-Patterns, unterlegt von urbanen elektronischen Sounds und Effekten – das archetypische Drum’n’Bass Stück eben, das ewig so weitergehen könnte. Aber es gibt weitere Tracks, die die Spannung hochhalten: „Share the Fall“, mit Jazz Einsprengseln und massiven Rhythmussprüngen und den Soul-Vocals von Onnallee, das Titelstück, in dem Soul-Gesang und Rap sich vermischen, „Mad Cat“, ein „Instrumental“ das mit Recht „Drum und Bass“ genannt werden kann. Auf New Forms werden elektronische Musik, organische Bestandteile und eine düstere Atmosphäre durch Roni Size‘ Produktions-Skills zu einem kohärenten Album zusammengeführt. Das Album erschien in diversen Versionen – als Einzel- und Doppel-CD, als 4-fach und 5-fach 12“, als Deluxe Edition++ und es hat in seinen extended Versions Längen… aber das ist dann wohl normal. Ich empfehle das „normale“ Album als CD und behaupte: New Forms + Goldie’s Timeless und du weißt schon sehr viel über D’n’B…