Das Wichtigste aus 1993 – Der Bürgerkrieg in Jugoslawien und der Maastrichter Vertrag vor der EU – Nirvana bis Suede

Der Demokrat Bill Clinton wird als 42. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt, auf das World Trade Center in New York wird ein Sprengstoffanschlag verübt, bei dem 6 Tote und 1000 Verletzte zu beklagen sind. Der erste Versuch sozusagen.

Im ehemaligen Jugoslawien herrscht immer noch Bürgerkrieg, ebenso in Georgien, wo im Laufe von ethnischen Säuberungen 7.000 Menschen umgebracht werden. Im Maastrichter Vertrag wird die europäische Union vorbereitet und in Russland kommt es zu den ersten halbwegs demokratisch-freien Wahlen. Bei einem Erdbeben in Japan kommen ca. 250 Menschen um, in Indien sterben bei einem Erdbeben ca. 3000 Menschen. Der Schauspieler River Phoenix, Regisseur Frederico Fellini, Frank Zappa, Bowies Gitarrist und Freund Mick Ronson und Jazzvisionär Sun Ra sterben. In diesem Jahr etabliert sich der sogenannte Independent-Rock endgültig und wird zum Mainstream. Was bedeutet, dass die Majors jeden Nerd unter Vertrag nehmen, der eine Gitarre halten kann, was dann zu einem fatalen Überangebot führt, welches dem Hybrid aus eigentlich sehr diversen musikalischen Richtungen sehr schaden wird. Nirvana – die angeblichen Auslöser des Indie Hypes – veröffentlichen derweil den Nachfolger zu Nevermind.. 1993 ist ein Jahr, in dem Rock von Frauen wie PJ Harvey, Liz Phair, den Breeders etc einen kleinen Hype auslöst – seltsam, denn die Qualität von Musik hatte nie mit dem Geschlecht zu tun. ’93 ist auch das Jahr, in dem Brit-Pop zum Massenphänomen wird, es ist ein Jahr in dem wieder viele Alben mit toller „elektronischer Musik“ von Acts wie Seefeel oder Autechre herauskommt… Kurz, es ist ein weiteres Jahr mit vielen bis heute bekannten guten Alben, aber auch wieder ein Jahr, in dem etliche tolle, aber unbekannte Alben erscheinen. Ob Hardcore, Shoegaze, HipHop oder Black Metal (…lies in den entsprehenden Artikeln) – überall eine regelrechte Inflation an tollen Albenl. Earth erfinden Drone Doom Metal, und auch Bob Dylan macht wieder gute Musik. Derweil verkaufen Hochleitungssängerinnen wie Whitney Houston und Mariah Carey ihre seelenlose Konfektionsware wie… Konfektionsware, und Menschen, denen Alternative zu alternativ klingt, bekommen mit Bands wie den Candlebox ihren Schmuse-Grunge, wie gesagt, Indie wird Mainstream und/oder der Mainstream gibt sich alternativ…. Das soll denen reichen, denen Musik nur als Tapete dient. ICH empfehle…

Nirvana
In Utero

(Geffen, 1993)

Art Direction – Kurt Cobain & Robert Fisher

Bei wenigen Platten waren vor der Veröffentlichung die Erwartungen so hoch gesteckt, wie vor dem dritten regulären Studioalbum von Nirvana. Der Veröffentlichungs-Termin von In Utero wurde etliche Male verschoben, Gerüchte über Streitereien zwischen der Plattenfirma und den Musikern wahlweise wegen eines Mangels bzw. eines Übermaßes an Kommerzialität, Cobains Unwohlsein wegen seines Status‘ als Vorbild einer ganzen Generation, die Skandal-Ehe mit Hole Sängerin und Drogentante Courtney Love, seine eigenen zunehmenden Drogen-Probleme, der psychische Druck – all das ließ Schlimmes befürchten. Aber dann kam In Utero und sowohl Befürchtungen als auch Hoffnungen konnten auf das Normalmaß zurückgefahren werden. Wobei man bedenken sollte, dass zur damaligen Zeit der Heiligenschein der (toten) Rock-Ikone eben noch nicht über Kurt Cobain schwebte, und so mancher Dogmatiker der Band ihren Wunsch nach Authentizität als verdrehten Wunsch nach Kommerzialität auslegte. Produzent Steve Albini jedenfalls hatte einen guten Job gemacht, seine reduzierte, klare Produktionsweise stand den Songs gut zu Gesicht, bei zwei Songs wurde – wohl zwecks kommerzieller Anpassung – R.E.M. Intimus Scott Litt zum Re-Mix hinzugezogen. Und Kurt Cobain konnte bei aller Liebe zum Krach in seinen Songs wieder den Beatles-Fan nicht verleugnen. „Dumb“ und „Heart Shaped Box“ oder „All Apologies“ sind wunderbarer, lärmender Pop, „Tourtettes“ hingegen blies jede Befürchtung davon, die Band möge „brav“ geworden sein. Im Rückblick ist In Utero das Nirvana-Album, dem die seither vergangene Zeit am wenigsten geschadet hat. Man kann seine Zerrissenheit zwischen Pop und gewollter Unkommerzialität inzwischen vielleicht sogar als Qualität (an)erkennen.

Tindersticks
s/t

(This Way Up, 1993)

Cover – Francisco Clemente (1893-1968) – The Red Skirt

Die Tindersticks machen bis heute beunruhigende Musik – aber am Besten waren sie damit auf ihrem gleichnamigen Debüt. Zum Teil mag es an Stuart Staples‘ manchmal an Vincent Price oder Nick Cave erinnernder Stimme liegen. Aber ohne die Songs und die Lyrics in all ihrer dekadenten Düsternis wäre die einzigartige Atmosphäre auf diesem Debüt nicht zustande gekommen. Dieses Erste ist gewiß das purste, das archetypische Tindersticks Album, an das sie nur auf veränderte Weise – ausformulierter sozusagen – mit ihrem zweiten Album (’95) herankommen würden. Vieles was danach kam, war gut, mancher Song sogar exzellent, aber die Tindersticks waren offenbar Frühvollendete:. Sie hatten unter dem Namen Asphalt Ribbons begonnen, den Namen in Tindersticks geändert, schnell eine Art Musik formuliert, die die Dekadenz, aber nicht die Theatralik oder Androgynität von Roxy Music hatte – und die durch den innovativen Umgang mit Orchester- und Bläser-Sounds einzigartig wurde. Und dazu kamen natürlich diese Songs! Einen besseren als „City Sickness“ würden sie nicht mehr schreiben (Außer vielleicht „Travelling Light“ vom folgenden Album), da ist die brennende Intensität von „Whiskey & Water“, die seltsame Gothic Story „Marbles“, der Mariachi von „Her“, die Getriebenheit in „Jism“. Nicht alles auf Tindersticks ist weißglühend, aber das komplette Doppelalbum (Und es MUSS Vinyl sein) ist ein barockes Kunstwerk. Ein reicher, blut- und wein-getränkter Gobelin, der die Dekadenz wie einen intensiven Geruch ausströmt. Man konnte glauben, dass diese Attitüde zur Falle werden würde, aber zunächst – vor wie gesagt auch beim folgenden Album – führte dieses Konzept zu wunderbaren Ergebnissen. Und auch hier: Es gibt keine Band, die so klingt wie diese – die ständigen Vergleiche mit Cave und Cohen sind hilflose Beschreibungen und führen auf die falsche Fährte.

Björk
Debut

(One Little Indian, 1993)

Cover-Foto – Jean-Baptiste Mondino. Auch Video Regisseur

Man wusste seinerzeit nicht genau was kommen würde, nachdem die Isländerin Björk Gudmundsdottir sich von ihrer Band, den Sugarcubes befreit hatte. Man hatte sie noch als nordische Eisfee mit der Hitsingle „Birthday“ im Gedächtnis und jetzt hörte man, dass sie mit Nellee Hooper von Soul II Soul zusammenarbeitete, dass sie Dance-Einflüsse und Elektronik einsetzen wollte – aber man erwartete nicht wirklich, dass sie schon eine veritable Songwriterin war, die gänzlich individuelle Musik machen könnte. Erst im Laufe der kommenden Jahre wurde klar, dass bei der Isländerin das Unerwartete zu erwarten war. Tatsächlich ist Björks erstes Album Debut sowohl tanzbar, verspielt und poppig als auch experimentell und avantgardistisch – und vor allem ist es Eines: Es ist vollkommen Björk. Das heißt: Ihr Umgang mit Musik ist zum mindesten eigenartig und höchst individuell. Björks Stimme mag manchmal das einzige organische Element in ihren Songs sein, die Musik klingt dennoch auf diesem Album kaum wie der elektronische Pop, den man bis dato kannte. Und Alles auf Debut ist definitiv als Popmusik gedacht. Das fiebrige „One Day“, das bittersüße „Violently Happy“, „Human Behaviour“ mit seinen dramatischen Percussion, in dem Björk die ganze Bandbreite ihrer Stimme auslotet. Natürlich macht neben ihrer Stimme der putzige isländischen Akzent alles sehr unverwechselbar, ob bei den Dance Tracks oder in romantischen Momenten wie bei „Venus As a Boy“. Aber sie setzte ihren Gesang in Songs ein, die man sich von anderen Musikern kaum vorzustellen vermochte. Auf den folgenden Alben würde sie ihr Spektrum noch erweitern, Debut bewies auf jeden Fall schon mal ihr immenses Talent – und es mag wegen seines weniger überbordenden Eklektizismus und einer gewissen erfrischenden Naivität den nachfolgenden Alben sogar überlegen sein.

Palace Brothers
There Is No-One what Will Take Care of You

(Drag City, 1993)

Artwork – Paul Greenlaw. Spielt auch Banjo auf diesem Album

Das erste eigene Album von Will Oldham kam mit seinem ungewöhnlichen Sound zu einem Zeitpunkt, als Rockmusik entweder elektronisch oder bombastisch oder bewusst Lo-Fi wurde. There Is No OneWhat Will Take Care Of You klingt wie die alten Aufnahme von Folk-Forscher Alan Lomax, oder wie etwas, das Harry Smith vergessen hat, in seine Anthology of American Folk Music aufzunehmen. Nicht nur Lo-Fi, sondern “alt”. Will Oldham, der Kopf hinter Palace Brothers, hatte als Musiker in Kreisen um Bands wie Slint gearbeitet und als Schauspieler u.a. einen jungen Prediger aus den Apallachen gespielt, ehe er irgendwann Hollywood den Rücken kehrte. Und wenn man sich eine Vermischung aus Apallachian Folk Music mit dem Geist des Punk vorstellt, kommt man dem Charakter dieser Musik, und damit den Intentionen des Musikers Oldham wohl nahe. Mit Songtiteln wie „Idle Hands Are The Devil’s Plaything”, “I Tried To Stay Healthy For You”, oder “O Lord Are You In Need?” schöpft Oldham aus biblischen Quellen, die er dann in alttestamentarischen Texten über Schuld und Sühne anzapft. Sein seltsam verwaschener Gesang und die Instrumentierung mit Banjo und Steel neben polternden Drums und verzerrten Gitarren ohne Virtuositätsanspruch bedient eine Ästhetik, die am ehesten an Punk erinnert – oder eben auch an die amerikanische Folk-Musik der 20er bis 30er Jahre. There Is No One… ist Gothic Country, bevor es Gothic Country gibt, und Oldham’s Ruf, der ihn mit den Jahren in eine Reihe mit Musikern wie Cash und Cave stellte, gründet auf diesem Debüt – hier noch unter dem Namen Palace Brothers – nur eines der Pseudonyme, hinter denen er sich gerne verbarg. Eigentlich ist hier schon all das enthalten, was Alben wie I See a Darkness zu Klassikern der alternativen (Country)-Musik machen sollte. Die Songs „I Tried To Stay Healthy For You“ und der Gospel “I Was Drunk At The Pulpit” klingen, als wären sie hundert Jahre alt – dabei war Oldham zu dieser Zeit gerade Mal 22. Manchem ist There Is No-One... noch zu unfertig, Andere werfen ihm vorgespielte Authentizität vor.. Beides “könnte” sein, aber was schert mich der Konjunktiv? Die Qualität der Songs lässt Kritik letztlich verstummen.

The Wu-Tang Clan
Enter the Wu-Tang Clan (36 Chambers)

(Loud, 1993)

Art Direction – Jackie Murphy

Raw as fuck“ – so haben damals Fans und Kritiker das erste Album des Wu-Tang Clan beschreiben. Hört sich toll an, aber was das heisst…? Immerhin aber war und ist bis heute eine der herausragenden Eigenschaften dieses enorm produktiven Kollektives, dass jedes Mitglied des Clan seine eigene, unverkennbare Stimme hat. Ob Produzent RZA, der spirituelle Leader GZA, ob Method Man, Raekwon, Ghostface, oder der wahnsinnige Ol‘ Dirty Bastard (RIP), diese Rapper sind allesamt einzigartig und höchst kreativ. Der originäre Stil, in dem jeder seine Rhymes abliefert, würde bald auch Basis einer Flut von höchst erquicklichen Solo-Projekten sein. Und auf dem Debüt des Clan tragen all diese Facetten zu einer wohlkalkulierten, düsteren und surrealen Atmosphäre bei. Enter the Wu-Tang Clan (36 Chambers) ist in textlicher Hinsicht härter als so manches Heavy Metal Album, aber erst die Produktion ist der Schlüssel zum Erfolg: Die Samples aus alten Kung Fu-Filmen sind kalkulierter Stil, denn seinen Namen führt der Clan auf den Kung-Fu Streifen Shaolin and Wu Tang zurück, dem sie auch etliche Audiosamples entnahmen. Sparsamkeit und Subtilität der Beats und des Sounds sind äußerst geschmackvoll und nur vergleichbar mit den Tracks auf Nas‘ Meisterwerk Illmatic. Schon „Bring the Ruckus“ lässt erahnen, dass hier etwas ganz Neues beginnt. Stücke wie „Da Mystery of Chessboxin“, „Wu-Tang: 7th Chamber“ mit unheimlichen Piano-Passagen oder „Protect Ya Neck“ sind auch für heutige Verhältnisse außergewöhnlich abwechslungsreich – und wer die Tatsache, dass dieser Stil inzwischen von manchen Mode-Geeks als „Old School“ bezeichnet wird, mit Langeweile gleichsetzt, der hat HipHop grundlegend nicht begriffen. 36 Chambers wurde vollkommen zu Recht eines der einflussreichsten HipHop Alben der 90er, und es ist bis heute wichtig – und vor Allem spannend – geblieben.

Slowdive
Souvlaki

(Creation, 1993)

Cover-Foto – Steve Double. Hat etliche Cover gemacht… Elvis Costello, Curve, Shamen etc

Im Jahr 2013 ist – nach einer Ewigkeit = 21 Jahren – das dritte Album von My Bloody Valentine erschienen und hat die Aufmerksamkeit einer neuen Generation auf eine seltsame Art von Noise gerichtet. Im Gefolge dieser neuen Aufmerksamkeit haben etliche junge Bands diese Klänge neu erforscht – und auch die hiermit von mir gelobten Slowdive fanden wieder zusammen und fabrizierten 2017 ein gelungenes Reunion-Album. Als „Erfinder“ des „Shoegaze“ genannten Lärms gelten zwar MBV – die hatten zu Beginn der Neunziger mit ihrem feedback-getränkten Sound, bestehend aus Rückkopplungen ohne den Klang der Saiten selber – eine ganze Musikrichtung definiert: „Shoegaze“ heißt so, weil die Gitarristen live meist auf die Effekt-Pedale vor sich auf der Bühne starren. Dieses Etikett war zu Beginn der 90er in England DER mediale Hype und wurde dann nach kürzester Zeit vor Allem wegen zu geringer Publikumsbegeisterung in Grund und Boden geschmäht. Beides zu Unrecht. Slowdive waren eine der wirklich guten Bands im Kielwasser von MBV und ihr zweites Album Souvlaki könnte man als den schönsten Lärm zwischen den Beatles ca. Revolver– und eben MBV’s Loveless beschreiben… Wenn man, wie ich es gerne mache – Vergleiche ziehen will. Dabei waren die Vorzeichen für dieses zweite Album der Band doch so negativ: Creation-Boss Alan McGee wollte endlich ein Hit-Album, Bandkopf Neil Halstead wollte mehr Experiment und Brian Eno als Produzenten – und bekam ihn auch – aber der ließ ihn nur endlose Gitarrenspuren aufnehmen, so dass Halstead frustriert das Studio verließ, und die restliche Band ein paar Klischee-Tracks aufnahm. Halstead kam zurück, nachdem Eno weg war und fügte ein paar simplere Tracks hinzu – und fertig war ein (unfreiwilliges) Meisterwerk. Am besten also „Machine Gun“ und „When the Sun Hits“ anhören und bemerken, wie sich die Melodien langsam ins Unterbewusstsein schleichen. Die Gitarren schwirren umeinander, Vocal Harmonies verschmelzen und der seltsam vertäumte White Noise von MBV bekommt Kinder, die nicht einfach geklont sind, sondern ein eigenes Gesicht und einen eigenen Charakter haben. Tatsächlich ist Souvlaki trotz seiner fatalen Entstehungsgeschichte zugänglicher als Loveless – das Album, mit dem Alles aus dieser Ecke verglichen wird. Der Gesang und Melodien ertrinken hier nicht im weissen Rauschen, man muß sie nicht suchen, sie sind da und funktionieren. Aber kommerziellen Erfolg hatte die Band trotzdem weiterhin nicht. Es ist der seltene Fall, in dem das “schwierigere” Album das bekanntere blieb – was nichts an der Klasse von Souvlaki ändert.

Smashing Pumpkins
Siamese Dream

(Hut, 1993)

Cover-Foto – Melodie McDaniel. Rechts: Ali Laenger, Links: LySandra Roberts. Und sie sind natürlich keine siamesischen Zwillinge

Wo Nirvana sich mit ihrer Spielart des Grunge in Richtung Pop und Punk wandten, drehten die Smashing Pumpkins sich auf ihrem Meisterwerk Siamese Dreams in Richtung Prog und Pomp. Dabei waren auch hier die Bedingungen zunächst denkbar ungünstig gewesen. Mastermind Billy Corgan hatte eine veritable Schreibblockade, Drummer Jimmy Chamberlin versank immer tiefer in seiner Drogensucht und Bassistin D’Arcy und Gitarrist James Iha beendeten gerade ihre Beziehung. Aber schlechte Zeiten bringen bekanntlich mitunter die besten Platten hervor. Corgan spielte zunächst einmal alle Instrumente (außer Percussion) selber ein, ließ seine Songs von Butch Vig in Soundschichten ertränken um sie dann mit Gitarrensoli Galore aufzublähen. Und all das führte zu wundervollen Songs. „Cherub Rock“, „Today“, „Rocket“ und die symphonische Ballade „Disarm“ wurden zu Hymnen des Alternative Rock der 90er – und das Beste dabei: Die gesamte Dopple-LP funktioniert bis heute wie ein Uhrwerk. Eigentlich ist Siamese Dreams ein Klassiker, der genauso wichtig und gut ist wie etwa Radioheads OK Computer, aber danach machte Billy Corgan ein paar fatale Fehler: Die Smashing Pumpkins blähten sich für den erfolgreicheren und bekannteren Nachfolger noch mehr auf – um sich dann langsam selbst zu demontieren. Insbesondere der Egomane Corgan machte sich danach immer mehr zur Witzfigur, zum Urbild des sich selbst überschätzenden Rockstars und setzte damit seine eigenen Leistungen in ein schlechtes Licht. ’93 allerdings hatte er noch seine Würde – und das zu vergessen, wäre sträflich.

The Posies
Frosting on the Beater

(Geffen, 1993)

Cover-Design – Kevin Reagan. Auch Guns’n’Roses Use Your Illusion…

Und hier eine Band, die von Beginn an aus dem Pop kam… Frosting on the Beater beginnt zwar auch mit einer Wand aus verzerrten Gitarren und donnernden Drums, aber die saccharin-süße Melodie wird von Ken Stringfellow’s und Jonathan Auer’s cremigen Harmony-Vocals untermalt. Das psychedelische „Dream All Day“ eröffnete das zweite Album der Posies mit der Erkenntnis, daß sie alles anders machen wollten, als noch auf dem 1990er Major Label Debüt Dear 23. Noise Rock Spezialist Don Fleming saß nun auf dem Produzentenstuhl, und mit ihm war klar, daß Frosting on the Beater weit direkter sein würde als das introspektive Dear 23. Aber Fleming wußte, daß er die Songs der beiden Köpfe der Posies nicht unter Lärm begraben durfte, und so ließ er die Hooks und Melodien und den feinen Harmoniegesang, der das Debüt ausgezeichnet hatte, im Vordergrund stehen. So fließen auf diesem perfekten Power-Pop/Grunge Hybrid fuzzy Gitarrenchords wie Himbeersoße über einen großen Becher Vanille-Eiscreme. Man könnte den Posies vorwerfen, dass sie sich an den Trend der Stunde anbiederten, aber dazu sind all die Songs zu gut und für Kritik ist dieses Album einfach zu perfekt, es hätte schlichtweg in jedem Gewand toll geklungen – und sollte man den Posies beziehungsweise den beiden Köpfen Jon Auer und Ken Stringfellow kommerzielle Anbiederung vorwerfen, so muß man bedenken, wie wenig bekannt dieses Meisterwerk letztlich geworden bzw. geblieben ist. Dass die beiden Songwriter später mit Alex Chilton (künstlerisch – und wieder NICHT kommerziell) erfolgreich die legendären Big Star wieder aufleben ließen, macht sowohl deutlich, dass es sich hier um Idealisten handelt, und weist zugleich auf ihren hervorragenden Geschmack hin.

Motorpsycho
Demon Box

(Stickman, 1993)

Cover Konzept – Wizz Art

Vielleicht ist es ja bezeichnend, wenn eine Band sich Motor-irgendwas nennt. Die ersten beiden Silben scheinen für eine fast trotzige Art von Beständigkeit zu stehen. Die norwegische Band Motorpsycho jedenfalls gibt es schon seit 1989, und sie hat seither (Stand 2021) in uhrwerkhafter Regelmäßigkeit ca 22 Studio-Alben, 5 Live-Alben und 20 EP’s veröffentlicht, die sich allesamt in einem bestimmten stilistischen Koordinatensystem bewegen. Und das wäre uninteressant, wäre diese Band nicht bis heute in der Lage, das beste aus diesem System zu holen, wären sie nicht trotzdem immer wieder in der Lage, zu überraschen und würden sie nicht einfach immer klingen, wie keine andere Band. Ihr zweites Album Demon Box steckt somit schon den Bereich ab, in dem sie sich seither bewegt haben: Was man hier zu hören bekam, war enorm schwerer, psychedelischer Rock, der nicht Metal ist, der Noise und Folk organisch integriert, der lange Instrumental-Passagen hat und mit überwältigender Wucht feine Songs verarbeitet. Da passt es, dass sie sogar mit Free-Jazzern oder auch einem klassischen Orchester zusammenarbeiten konnten, ohne dass das peinlich wurde. Opener „Waiting for the One“ führt mit skandinavischem Wald- und Wiesen Folk erst einmal auf die falsche Fährte, ehe Songs wie „Nothing to Say“ und „Feedtime“ explodieren. Die beiden Bandköpfe Bent Sæther (b, voc) und Hans Magnus Ryan (g, voc) hatten neben ihrem Ideenreichtum aber auch immer ein Händchen für die richtigen Kollaborateure. Vor Allem Produzent und Keyboarder Helge Sten aka Deathprod blieb seither bis heute ein Faktor, der in ihren massiven psychedelischen Folk Störgeräusche und Soundexperimente einbaute, die der Band jede Altertümlichkeit und jede Anbiederung an Trends verboten hat. Demon Box hat – wie alle folgenden Alben – ein paar Songperlen wie etwa „Come on in“ oder den harten Punk von „Babylon“. Sie verneigen sich mit „Junior“ vor ihren Kollegen von Dinosaur Jr. und überwältigen beim 17-minütigen Titeltrack mit Metal, Noise, elektronischem Lärm und Psychedelik. Auf Demon Box kann alles passieren – die Musik dieser Band ist höchst eklektizistisch und klingt zugleich immer nach Motorpsycho. 1992 war das noch überraschend. Inzwischen hat man sich an ihr hohes Niveau gewöhnt.

Earth
Earth 2: Special Low Frequency Version

(Sub Pop, 1993)

Cover-Foto – Arthur S Auby. Fotograf für
etliche Sub Pop Alben.

Und wieder die Gitarre: Die ist möglicherweise das Instrument, das man irgendwann Ende der Neunziger zu oft gehört hatte. Aber nach Nirvana’s Durchbruch war eine böse gespielte Gitarre (und nicht “rockiger” Gesang) noch sehr reizvoll, und wenn man sich von Vorurteilen frei macht, kann man sie auch heute noch gut anhören. Kurt Cobains Freund und WG-Zimmergenosse Dylan Carlson jedenfalls liebt bis heute den Klang von Gitarren – und insbesondere den Krach und die seltsamen subsonischen Drones die man mit ihnen erzeugen kann. Nur dass er nicht wie MBV oder deren Epigonen vordringlich versucht, Melodien damit zu erzeugen, ihm geht es um das Experiment, um physische Erlebnisse, um Krach, Soundtexturen, Ohrenkaputt. Drone (was irgendwie passender- und zugleich unpassenderweise an den Begriff Dröhnen erinnert) ist Geräusch, Klanginstallation, Lärm. Und somit natürlich nicht jedermanns Sache. Für manche mag das langweilig sein, ich liebe den Sound und lasse mich davon durch den Schlamm ziehen. Auf Earth 2 sind es drei Tracks, jeder über eine Viertelstunde lang, bestehend aus einem meist komplett durchgehaltenen Basston, über dem monolithisch ein bis zwei Riffs stehen. Es gibt Bewegung, aber die kann man nur als tektonische Verschiebungen beschreiben. Carlson wird von den Melvins beeinflusst worden sein, die so etwas in kleiner Form auch schon mal gemacht hatten – und von Black Sabbath und insbesondere Electric Wizard, deren Doom auf ihrem definitiven Meisterwerk Dopesmoker genauso auf ein durchgehendes Riff reduziert ist. Aber seine Musik war härter, schwerer, minimalistischer und konsequenter als Alles andere zuvor. Und wie man es bei solcher Kunst oft erlebt – sich wirklich damit auseinandersetzen ist anstrengend, aber lohnend.

Cynic
Focus

(Roadrunner. 1993)

Cover – Robert Venosa. Student von Mati Klarwein (Siehe Miles Davis‘ Bitches Brew) Siehe venosa.com

Und hier – Focus von Cynic: Death Metal auf einer höheren Entwicklungs-Stufe. Dass Death Metal mitunter enorme technische Fähigkeiten erfordert, dürfte ’93 auch dem blödesten Metal-Verächter klar geworden sein. Aber was die vier Cynic-Musiker hier hervorbrachten, war dann doch erstaunlich. Diese Band war schon seit ’87 in der florierenden Florida Death-Metal Szene aktiv gewesen. Sie hatten 4 Demo’s released – und mit diesen Aufnahmen die Begehrlichkeiten etlicher anderer Acts geweckt. Was dazu führte, dass alle vier Mitglieder von anderen Acts rekrutiert wurden: Death-Mastermind Chuck Schuldiner hatte sich Drummer Sean Reinert und Sänger/Gitarrist Paul Masvidal geliehen, Gitarrist Jason Gobel hatte mit Monstrosity einen Klassiker des DM aufgenommen, Bassist Tony Choy war von Pestilence und Atheist abgeworben worden. Ein neuer Bassist musste ihn hier ersetzen und konnte das natürlich auch… Aber all das Namedropping ist nicht so spannend, wie das Album, das diese Band dann endlich bei Roadrunner herausbrachte. Focus hat weit mehr mit Fusion-Jazz gemein, als mit Death Metal. Ich kann dieses Album mit King Crimson und – aus der „Verwandschaft“ – tatsächlich nur mit den großartigen Death vergleichen. Die Rhythmen sind halsbrecherisch-komplex, Gitarren gleiten und schimmern über zerküftete Melodie-Landschaften, Bass und Chapman-Stick blubbern und halten die seltsamen Strukturen zusammen, Sänger Masdival singt mit Vocoder-Stimme philosophische Texte, während Gast Vokalist Tony Teegarden die Death Metal Growl-Parts übernimmt (und dabei klingt wie Death’s Chuck Schuldiner). Das erstaunliche ist, dass aus diesem Wust von Technik immer wieder Riffs und „Songs“ hervorscheinen. Na ja, Cynic hatten sechs Jahre Zeit, Tracks wie „Uroboric Forms“ oder „Veil of Maya“ zu konstruieren. Bei „Textures“ etwa hört man sehr deutlich, dass diese „Metal“-Musiker King Crimson’s Discipline wohl häufiger gehört haben. Focus ist ein Album, das mit Death Metal nur noch am Rande zu tun hat. Dass es bei allem deutlich zur Schau gestellten Können der Beteiligten auch noch spannend und „schön“ ist, bring mich dazu, es hier zu empfehlen.

Suede
s/t

(Nude, 1993)

Cover-Foto – Tee Corinne. Motiv entnommen aus dem Buch Stolen Glances: Lesbians Take Photographs

Und wieder wähle ich als eines der interessantesten Alben des Jahres ein weiteres, das unverwechselbar ist: Suede erschufen auf ihrem Debüt einen eigenen, sehr verführerischen Sound. Sie machten die britische Musikszene glücklich mit einer Mischung aus der Musik von David Bowie und den Smiths. Die Band war schon vor der ersten Single von der britischen Musikpresse – wie man das kennt im United Kingdom – über den Klee gelobt worden. Die beiden Kreativen bei Suede – Texter und Sänger Brett Anderson und sein in Hass-Liebe mit ihm verbundener Kollege, der Songwriter und Gitarrist Bernard Butler – hatten die Fähigkeit bewiesen, catchy Glam-Hymnen zu schreiben – Stücke wie das schnelle „Metal Mickey“ oder das kriechende, sexy „The Drowners“ etwa. Sie konnten aber auch düster-romatische Songs wie das müde „Sleeping Pills“ oder das gequälte „Pantomime Horse“. Und all das funktionierte nur im Zusammenspiel von Butler’s Melodien und klugen Instrumentalparts mit Andersons kalkuliert-affektierter Stimme, die mal an Morrissey, mal an Bowie erinnerte, die mal Sex, mal Teenage-Angst, mal große Emotionen transportierte. Suede waren Working-Class Lads, die Glamour wollten – und ihn fanden, indem sie alte und neue Elemente zu ihrer eigenen, sehr postmodernen Musik zusammenbauten. Suede verbindet das Beste aus Punk, Glam mit Ideen des Independent Rock und setzte sich in seiner Verbindung dieser Elemente von aktuellen Hypes ab – und kann als eines der ersten Alben des Phänomens “Brit-Pop” bezeichnet werden. Das alles hätte nicht funktioniert, wenn beide Musiker auf ihrem phänomenalen Debüt nicht ständig versucht hätten sich gegenseitig zu übertrumpfen. Dass eine so sehr auf Konkurrenz beruhende Partnerschaft ein fragiles Gebilde darstellt, ist klar. Suede würden in diseser Form nur noch ein weiteres Album lang halten.