Das Wichtigste aus 1992 – Bosnienkrieg, Unruhen in L.A., Bill Clinton for President – R.E.M. bis Dr. Dre

Serbien und Kroatien schließen einen Waffenstillstandsabkommen, diverse Balkanstaaten werden von der Weltgemeinschaft anerkannt – und im August beschießt die serbische Armee die Nationalbibliothek in Sarajevo. Damit beginnt der Bosnienkrieg – ein „Teil“ des lange andauernden Konfliktes im ehemaligen Jugoslawien.

Am Niederrhein bebt die Erde, in Los Angeles kommt es nach den Freisprüchen für zwei Polizisten im sog. Rodney King Prozess zu 6 Tage andauernden Rassenunruhen bei denen 50 Menschen umkommen. In Deutschland kommt es in Rostock-Lichtenhagen und in Mölln zu massiven rechtsextremen Übergriffen gegen Ausländer. Die US-Wahlen gewinnt der Demokrat Bill Clinton, die erste SMS wird verschickt – und keiner ahnt, was das anstößt. Die beiden Willie’s Brand und Dixon sterben, ebenso Olivier Messiaen und Anthony Perkins. In der Musik haben sich Grunge und andere Spielarten des ehemaligen Indie-Sounds im Mainstream etabliert, leider werden von der Industrie inzwischen auch Marionetten, die nach Slacker aussehen, auf den übersättigten Markt geworfen, und daher geht in der unüberschaubaren Masse auch so manches an guter Musik unter. R.E.M. und Pavement sind die Erfolgsmodelle für die 90er, Grunge ist modisch geworden, die Fixer Alice In Chains haben ihren größten Erfolg (durchaus zu Recht…). Und im HipHop kommen diverse Acts von West- und Ostküste der USA mit Genre-definierenden Meisterwerken daher. Der Mix aus Rap und Hardrock – genannt Crossover – hat mit Rage Against the Machine und Faith No More seine kurze Blüte. Die Second Wave of Black Metal geht los, einige Bands aus der sogenannten Shoegaze-Szene schaffen ebenfalls große Alben, werden von der Presse aber ignoriert oder sogar abgestraft. Hardcore zersplittert in verschiedene Sub-Genres und Bands wie Neurosis mischen diesem Stil neue Bestandteile bei. die Auf-Fächerung in verschiedene „Szenen“ nimmt allgemein zu. 1992 ist musikalisch (wie ’67 oder ’77) ein wichtiges Jahr mit etlichen wegweisenden Alben, und viele vormalige Underground Acts etablieren sich nun endgültig im Mainstream. Eine neue Generation von Alternativen rückt nach, etliche aber schaffen den Sprung ins große Geld nicht und bleiben „Underground“. Und auf komische Weise schlimm ist dieses Jahr ein gewisser Billy Ray Cyrus (Vater von Miley…) mit seinem Hit „Achy Breaky Heart“ – oder auch Whitney Houston’s Film/Soundtrack The Bodyguard, oder der blöde Euro-Pop von Roxette…. leider bestimmt so was die Radiolandschaft…

R.E.M.
Automatic For The People

(Warner Bros., 1992)

Das Cover zeigt den Stern auf dem „Sindbad
Motel“ in Miami, nahe des Criteria Studios,
in dem das Album aufgenommen wurde

R.E.M. hatten in den letzten Jahre kontinuierlich ihre Karriere vorangetrieben, hatten mit ihrer Musik den Brückenschlag zwischen Independent-Credibility und kommerziellem Erfolg hinbekommen – das zumindest sah die Mehrheit des Publikums so… Dass etliche Fans aus den „Independent Tagen“ der ersten vier Alben da bis heute anderer Ansicht sind, ist eine andere Sache… Der poppige Vorgänger Out Of Time jedenfalls war zwar künstlerisch nicht ganz befriedigend, kommerziell aber immens erfolgreich gewesen. Jetzt kündigten die vier Musiker einen härteren Kurs an, – und veröffentlichten mit Automatic for the People ihre ruhigste, zurückhaltendste, aber vor allem ihre meiner Meinung nach zeitloseste und beste LP. Automatic.. ist im Grunde eine Kollektion von Folk-Songs – emotional so direkt wie selten zuvor bei dieser Band, mit einer deutlich melancholischen Grundstimmung. Die Songs sind in die feinen Streicher-Arrangemets des ehemaligen Led Zeppelin Bassisten John Paul Jones und in die akustische Instrumentierung von Peter Buck gebettet und die Dichte an wunderbar geschriebenen Songs ist immens. „Everybody Hurts“, und „Man on the Moon“ wurden echte Hits, aber auch unbekanntere – weil nicht als Single veröffentlichte – Songs, wie „Sweetness Follows“ oder „Nightswimming“ fallen um keinen Deut ab und lassen das Album wie aus einem Guß erscheinen. Mit Recht ist dies für viele die beste Platte von R.E.M – für mich steht es immerhin gleich neben ihren ersten vier Alben auf I.R.S. und neben dem kommenden Großwerk Adventures in HiFi.

Tom Waits
Bone Machine

(Island, 1992)

Cover – Tom Waits und Jesse Dylan

Bone Machine ist nach den Vorgängern Swordfishtrombones und Rain Dogs der Höhepunkt einer Trilogie. Tom Waits hatte den Sound, den er auf Bone Machine einsetzte, auf den vorherigen Platten entwickelt. Und hier trieb er ihn auf die Spitze. Auf die Knochen reduziert, mit Junkyard Percussion und anderer ungewöhnlicher Instrumentierung, mit teils extrem übersteuerten Vocals, ist Bone Machine soundmäßig ziemlich schwere Kost. Und es ist passenderweise voller Songs, die Tod und Zerstörung thematisieren, Apokalypse und düstere Schicksale. Die dazu passenden Bilder in den Texten sind auf’s Feinste modelliert (…was immer Waits‘ größte Kunst war). Und dann ist daneben und darunter dieser melodische Reichtum, sind da Waits‘ Songwriter-Fähigkeiten, die wieder einmal glänzen und alles Schräge erträglich machen, ja sogar in ein schillerndes Licht tauchten. „Earth Died Screaming“ oder „Murder in the Red Barn“sind finstere Moritaten, in düsteres Licht getauchte Poesie, „Black Wings“ ist trotz seines endzeitlichen Textes wunderbar melodisch und mit regelrecht cinematografischen Textbildern ausgestattet, und „I Don’t Wanna Grow Up“ – der „Hit dieser Platte – ist auf herrlich absurde Art albern. Es ist mindestens Waits‘ bestes Album der 90er, für mich sogar sein bestes überhaupt.

Red House Painters
Down Colorful Hill

(4AD, 1992)

Cover – „Bed“ vom walisischen Fotografen Simon Larbalestier

Die Red House Painters waren das Projekt des Songwriters Mark Kozelek, sein Vehikel für Songs über Schmerz, Verzweiflung und Verlust. Er hatte in den Jahren zuvor das Interesse des musikalisch gleichgesinnten Mark Eitzel von American Music Club erregt, und dieser hatte ihm den Kontakt zum 4AD Label vermittelt. Down Colourful Hill ist eigentlich eine Kollektion von Demos aus den Jahren von 1989 bis 92, danach nur noch mit ein paar zusätzlichen Overdubs ausgestattet. So zeigt das Album Musiker, die ihren Sound schon lange gefunden haben. Kozeleks Stimme ist freundlicher als es seine extrem persönlichen Texte eigentlich zulassen, er spielt mit der fein abgestimmten Band einen Slowcore, der die Ruhe nach dem Zusammenbruch vertont. Keiner der sechs Songs hier ist zu lang, und das obwohl der Titelsong die 10-Minuten Marke überschreitet, Riffs und Melodieführung sind angenehm, aber unter all der Schönheit liegt eine unendliche Trauer. Die Musik klingt zwar zunächst trügerisch leicht und schwebend, aber hier tritt jemand das Erbe von Joy Division an. So begannen die Red House Painters – übrigens gemeinsam mit anderen Bands wie Low oder dem American Music Club etwa – ihre eigene musikalische Reaktion auf den lauten Grunge-Sound zu entwickeln.

The Terminals
Touch

(Raffmond, 1992)

Cover – Kim Pieters. Toningenieur bei diesem
Album, selber Musiker. U.a. Dadamah

Die hier empfohlenen Alben (…es sind natürlich Empfehlungen…) sind ja meist nicht ganz unbekannt. Das ’92er Album Touch der Neuseeländer The Terminals aber dürften aus verschiedenen Gründen eher obskur geblieben sein (Herkunft, geringe Kommerzialität) – und das würde ich gerne ändern. The Terminals sind die neuseeländische Entsprechung zu… na ja, eigentlich zu Niemandem. Man kann sie vielleicht mit den Worten „Velvet Underground in den 90ern“ oder als „Shoegaze-Band mit Post-Rock Anlehnung“ bezeichnen. Man kann ihren für Neuseeland’s Flying Nun-Bands typischen stoischen Beat erwähnen – und ist mit all den Hinweisen doch immer noch ungenau. Die Band aus Christchurch hatte schon ’86 zusammengefunden und bestand aus Veteranen der neuseeländischen Indie-Szene. Die Pin Group und die Victor Dimisich Band seien hiermit erwähnt… Mit den Terminals fanden insbesondere Gitarrist/Sänger Stephen Cogle und Drummer/Texter Peter Stapleton ein Vehikel, um alles in einen Topf zu werfen, was es an Gutem, Schönem und Spannendem auf der Unterseite der Pop-Welt gab. Die vorherigen Terminals-Alben waren noch verdrehter Pop, auf Touch fügten sich ihre Ideen und ein großartiger Sound zu einem fiebrigen und dunklen Sog zusammen. Mit John Christoffels hatten sie einen Bassisten, der mit seinem Cello Drones a la VU erzeugen konnte. Dazu kam der Keyboader Mick Elborado, der noch eine zusätzliche Soundschicht unterlegen durfte, dann Cogles wunderbarer Gesang, der die emotionale Distanz überbrückte, die man bei VU durch Lou Reed hatte. Und dann war Cogle auch noch ein einfallsreicher Gitarrist – noch eine Schicht also, die bei vergleichbaren Bands nicht zu finden war. Und zuletzt war da noch die Fähigkeit der Terminals, kleine Garage-Rock Perlen zu schreiben: „Mr. Clean“ und der Opener „Basketcase“ versetzen wahrhaftig Velvet Underground in die Neunziger – und das, ohne jede Peinlichkeit. Oder der melancholische Titelsong, dem jede Rührseligkeit durch seltsame Sounds und unterschwelliges Fieber genommen wird. Oder der leidenschaftliche, etwas verdrehte Quasi-Pop von „Janetta“. Letztlich findet man mit Touch einen Diamaten, von dem man ncht geahnt hat, dass es ihn geben könnte.Ich will nicht unerwähnt lassen, dass die Terminals ’92 ihre erste EP Disconnect (’88) und ihr erstes Album Uncoffined (’90) auf einer CD mit dem Titel Cul-de-Sac wiederveröffentlichen. Auch da findet sich wunderbare Musik.

Sonic Youth
Dirty

(Geffen, 1992)

Foto der Strickpuppe (und anderer solcher Dinger auf dem Back-Cover) Mike Kelley, Freund von Kim Gordon.

Nachdem das Phänomen Nirvana die Musikwelt auf den Kopf gestellt hatte, und alternative Rockmusik auf einmal Mainstream war, wurden Wetten darauf abgeschlossen, welche Band aus diesem Umfeld als nächste den kommerziellen Durchbruch schaffen könnte – und manchen galten Sonic Youth als die hoffnungsvollsten Kandidaten. Nirvana – Mit-Entdecker, auf dem selben Label mit Ihnen, Vorbilder und Inspiration für Kurt Cobain und dessen moralischer Support, glaubwürdig, cool und sehr alternativ – aber da haben wir schon eines der Probleme – dem breiten Publikum ZU alternativ und dann auch noch wenig kompromissbereit. Sogar der Vorgänger Goo – ihr „Pop-Album“, wenn es überhaupt eines von ihnen gibt – zeigte, dass die Band ihre Ursprünge eben doch nicht in Pop oder Punk hatte, sondern der intellektuellen New Yorker Noise-Tradition entstammte. Jetzt bekamen sie den Nevermind-Produzenten Butch Vig an die Seite gestellt – ich denke, das war ihnen nicht einmal unangenehm – aber auch der konnte ihnen das Lärmen und das lose Improvisieren einfach nicht austreiben – zumal ich mir denken kann, dass der das auch nicht vorhatte. Tatsächlich klingt Dirty so, als hätten die vier Musiker versucht, die Wellen ein kleines bisschen zu glätten, den Sturm, den sie entfesseln können irgendwie zu lenken – aber andererseits waren sie eindeutig zu roh, zu noisy, auch noch zu juvenil, ihr Sound zu charakteristisch und die Band zu sehr in ihre verbogenen Harmonien und das Prinzip der Improvisation verliebt – kurz: zu cool, um sich irgendwo anzubiedern… Was – ganz nebenbei – Nirvana auch nicht gemacht hatten – die waren nur mit anderer Musik zur rechten Zeit am rechten Ort… So spuckten Sonic Youth mit dem durchaus passend betitelten Dirty ein Album aus – komplett mit politischer Message, mit feministischen Statements, durchaus mit ein paar produktionstechnischen Gadgets, die ihnen auch gut standen – aber eben auch mit Noise-Passagen, die auf Sonic Youth-Art energetisch schwingen, mit Songs, die sich durchaus bemühen, ein bisschen Pop mitzuführen („Sugar Kane“) die aber dann doch wieder unter dem wunderbaren Lärm verschwinden, den Sonic Youth so perfekt zu erzeugen wissen. Statt Grunge zu imitieren verschlangen sie den Trend und spuckten ihn dann halbverdaut aus. Natürlich wurde auch hier von etlichen Moralwächtern reflexhaft „Ausverkauf“ geschrien, aber natürlich verkaufte sich Dirty weit schlechter, als die Executives der Plattenfirma es sich erhofften. Tatsächlich ist es ein wunderbares Album – eines, das Sonic Youth in der Zeit zeigt, in der sie die aktuellen Trends zwar hörten, aber daraus ihr eigenes Ding machten.

Pavement
Slanted and Enchanted

(Matador, 1992)

Das Cover zitiert Keyboard Kapers von Ferrante & Teichert. Lounge Music aus den frühen 60ern…

Aber da gab es 1992 ja auch Bands, die den zum Mainstream gewordenen „Alternative“ oder „Indie-Rock“ scheinbar wieder veränderten, verdrehten, in eine weitere Alternative schoben: Die Kalifornier Pavement hatten in den Jahren seit ihrer Gründung 1989 mit diversen Singles und EP’s den Underground tüchtig aufgewühlt, waren bei Musikern und Radio-DJ’s schon ungemein angesagt und die Erwartungen an ihr Debütalbum waren nach all den Indie Hypes der letzten Jahre so hoch, dass man automatisch befürchtete, enttäuscht zu werden. Aber zum Glück machte die Band um Steven Malkmus und Scott Kannberg weiterhin alles richtig. Ihr Stil, diese Musik, die zu gleiche Teilen aus Noise und Lo-Fi zusammengesetzt war, hatte noch immer keinen Platz für plumpe Kommerzialität, und insbesondere der inzwischen unangefochtene Bandchef Steven Malkmus hatte schon im Voraus auf diversen Singles bewiesen, dass er ein veritabler Songwriter war. (Singles, die im folgenden Jahr auf der trefflichen Compilation Westing (By Musket and Sextant) versammelt wurden). Und so zeigten Pavement auf ihrem Debüt Facetten des Indie Rock, die irgendwie tatsächlich neu und aufregend waren. Auf Slanted and Enchanted wurde Popmusik auf links gedreht, Songs bekamen seltsam verdrehte und spiralförmige Strukturen, das Ganze wirkte manchmal wie das bewusste Unterlaufen von Erwartungen, die man in Indie-Rock hatte. Die Songs klangen wie eine weit entfernte College Radio Station, die immer wieder von Störungen unterbrochen wird. Und all das war auch tatsächlich so gewollt. Wieder einmal definierte hier eine Band mit einem höchst individuellen Ansatz einen Stil, den letztlich so niemand nachahmen konnte, Ein Klassiker des Indie Rock von einer Band, die bis zu ihrem Ende 1999 nicht aufhörte gute Platten zu machen.

Rage Against The Machine
s/t

(Epic, 1992)

Art Direction – Nicky Lindeman. U.a. auch
verantwortlich für Grace von Jeff Buckley

Im Vergleich zu Bands wie Faith No More und den Red Hot Chillie Peppers waren Rage Against the Machine von vornherein extrem politisch, mit ihrem Crossover Sound näher am Rap als die „Konkurrenz“, und mit dieser Mixtur trotzdem kommerziell äußerst erfolgreich. Auf ihrem Debüt gibt es keine verhübschte Poesie, sondern glasklare politische Agitation (Auf dem Cover ist der vietnamesische Mönch Thích Quảng Đức zu sehen, der sich 1963 in Saigon aus Protest gegen die Politik der Regierung verbrannte). Sänger/Rapper Zack De La Rocha war mit seinen politischen Botschaften Seele der Band und zugleich tragische Figur, da sein politisches Engagement von der Rasanz der Musik immer wieder erstickt wurde. Und viele der jungen Fans der Band hatten ganz einfach mehr Interesse an der Musik und an dem rasanten Groove als an den Aussagen der Texte. Eigentlich auch kein Wunder: Der Sound von RATM ist auf ihrem Debütalbum ein hochexplosiver Mix aus knochentrockenem Funk , krachendem Metal mit den innovativen Gitarrensounds von Tom Morello, einprägsamen Riffs und enorm mitreissenden Rhythmen. Das Album hat eine bis heute faszinierende Dynamik, die weder die Konkurrenz, noch die Band selber jemals wieder erreichen sollte. Tracks wie „Killing in the Name“ oder „Bombtrack“ wurden zu Klassikern des Crossover – und sind – insbesondere für diese Musik, die doch so unschön gealtert ist – erstaunlich zeitlos geblieben. Und so wenig mancher Fan auf die Texte geachtet haben mag – Die Vocals von De La Rocha transportierten eine klar erkennbare Wut und Empörung. Die Tatsache, dass Sony – ihre Plattenfirma – Bestandteil der Großkonzerne war, deren Allmacht sie hier anprangerten, sollte man höflicherweise übersehen.

Neurosis
Souls At Zero

(Alternative Tentacles, 1992)

Artwork – Mark Tippin. Selber Musiker

Die kalifornische Hardcore Band Neurosis hatte 1989 mit ihrem zweiten Album The Word As Law bewiesen, dass sie anspruchsvollen, schnellen Hardcore konnten – aber als kluge Köpfe wollten sie stilistisch nicht stehen bleiben und der Stagnation anheimfallen, die viele Kollegen der „Szene“ lähmte. Also suchten sie sich Inspiration bei anderen Musikern und Stilistiken, holten mit Simon McIlroy einen Sample-Spezialisten und Keyboarder dazu, der bislang mit Harcore nichts am Hut gehabt hatte, luden sich zu den Aufnahmen ein paar Bläser und Streicher ein – und kreierten mit dem Album Souls At Zero mal eben ein neues Genre. Ja – vor diesem Album gab es noch keinen Sludge-Metal. Souls At Zero ist ein Album, das Hardcore in eine neue Dimension verschiebt, indem es die Tempi verlangsamt, die Atmosphäre auf den Nullpunkt abkühlen lässt, dem klaren, reinen Hass psychotische und psychedelische Facetten hinzufügt. Neurosis klingen wie eine Hardcore Band, die ganz schlechte Drogen genommen hat. Dem Album ist eine Atmosphäre unterlegt, die bislang eher bei Bands wie Joy Division oder Coil zu finden war – was sicher dem Einfluss McIlRoys zu verdanken ist. Und im Gegensatz zu etlichen Adepten, die da kommen sollten, machten Neurosis sich die Mühe, Songs zu schreiben – das hatten sie wohl noch aus der Anfangsphase behalten – und verließen sich nicht nur auf ihren mächtigen Sound. So würden Songs wie „To Crawl Under One’s Skin“ oder „Takeahnase“ wohl auch als Akustik-Demo’s funktionieren. Tatsächlich hat Gitarrist Steve Van Till später einige feine Akustik-Alben sowie ein Townes Van Zandt Cover-Album gemacht…. Songs wie „Stripped“ etwa erinnern an die Arbeit der Swans – sie sind einfach, effektiv, und durch ihren brutalen Sound überwältigend. Dazu ein paar kluge Samples – etwa aus dem Nazi-Propagandafilm „Triumph des Willens“ – ein Schlagzeuger, der Tribal-Rhythmen beherrscht, zerdehnte Songs und gequälte Chorgesänge… und die Apokalypse naht. Souls At Zero ist Beginn und zugleich Höhepunkt einer musikalischen Richtung, die den Hörer Zu Boden drücken will. Dieses Album schafft das (Genau wie der Nachfolger Enemy of the Sun).

Darkthrone
A Blaze in the Northern Sky

(Peaceville, 1992)

Cover – Darkthrone

Ich behaupte: Mit diesem Album wurde die Ästhetik und der Sound des Black Metal für die kommende Dekade zementiert. Es gab natürlich schon in den 80ern (Black) Metal Bands wie Bathory, Hellhammer, Celtic Frost, Venom oder die Brasilianer Sarcófago, die in der sog. „First Wave“ den Black Metal begründet hatten – aber diese Acts waren musikalisch dem Thrash-Metal verpflichtet. Die Norweger Mayhem wiederum – in deren Umfeld der „True“ Norwegian Black Metal entstand – hatten in den Achtzigern nur zwei gewollt unkommerzielle EP’s hervorgebracht, von denen nur die EP Deathcrush (’87) als musikalisches BM-Dokument herhalten kann. Aber ’92 machte die vormalige norwegische Death Metal Band Dark Throne eine gewagte stilistische Kehrtwende: ’91 hatten sie auf Soulside Journey noch komplexen Death Metal gespielt – nun drehten sie Stil und Ästhetik in eine Richtung, die ’92 mindestens als tiefster Underground – oder sogar als sinnloser Lärm – betrachtet wurde. Sie zogen ihren Namen zu einem Wort zusammen, bemalten sich mit Corpse Paint und gaben sich – nachdem zwei Mitglieder die Band wegen des Stilwechsels verlassen hatten – Aliasse wie Fenriz, Zephyrous und Nocturno Culto – und definierten mal eben das öffentliche Erscheinungsbild eines anständigen Black Metal Albums. Die schwarz-weiss Cover-Gestaltung, ein roher, minimalistischer Sound aus Drums, die nach Nähmaschine klingen (ganz erstaunlich, wenn man hört, zu welchen technischen Kabinettstücken Gylve Fenris Nagell aka Fenriz auf dem ersten Album in der Lage war), das weisse Rauschen von Gitarren und nicht mehr gegrowlte, sondern gekreischte Vocals. Damit waren sie im Jahr ’92 – dem Jahr, in dem diverse Stabkirchen in Norwegen vom „Inner Circle“ des Black Metal abgebrannt wurden – nicht die Einzigen, deren Auftreten und musikalische Ergüsse Aufmerksamkeit erregten – und man müsste richtigerweise mindestens Burzum’s gleichnamiges Debütalbum mit auf den Thron der Pioniere setzen – aber A Blaze in the Northern Sky wurde wirklich wahrgenommen. Großes Label, Reviews, Interviews… Echte“ BM-Verfechter schrien „Ausverkauf“ – und ich finde A Blaze in the Northern Sky großartig und empfehle es jedem, der wissen will, warum Black Metal eine kostbare Errungenschaft ist. Die eiskalte Atmosphäre, die Theatralik, die den Technik-Fricklern des Death Metal inzwischen abging. „Kathaarian Life Code“ z.B. beginnt mit Trommeln aus der Hölle und dunklen Mönchs-Gesängen, die durch ork-haftes Knurren und Krächzen untermalt werden, ehe die Band für 9 Minuten in hyper-schnelle Raserei verfällt. Dass die Band selber A Blaze… als „unfertig“ bezeichnete und den Umstand anführte, dass nur drei der sechs Tracks „wirklich“ Black Metal waren, mag interessant sein, mindert aber nicht meine Begeisterung für dieses Album. Und wer mehr und „echteren“ BM sucht, dem empfehle ich die folgenden drei Alben der Band – und einen ganzen Haufen anderer Alben bis weit ins nächste Jahrtausend. Für mich begann Black Metal genau hier.

Aphex Twin
Selected Ambient Work 85-92

(R&S Rec., 1992)

Logo von Richard D. James

Selected Ambient Works 85-92 ist ein seltsam asketisches Album mit Songs aus simplen Percussion und geisterhafte Synthesizer-Melodien als einzigen Komponenten. Sein Erschaffer – Richard D. James alias Aphex Twin – ließ nur ein einziges mal ein Vocal Sample erklingen: „We are the music makers, and we are the dreamers of dreams“. Wie wahr. Diese Zusammenstellung von Tracks aus sieben Jahren mag heute, wie so manche elektronische Musik, für Mode-Geeks überholt klingen. 1992 jedoch waren diese Klänge – neben der Musik von Autechre oder Squarepusher – revolutionär – und man kann ihren Reiz auch heute noch nachempfinden, so man sich darauf einlässt. Aphex Twin entwickelte auf Selected Ambient… das, was I(ntelligent) D(ance) M(usic) und/oder auch Ambient genannt werden würde. All die seltsamen Sounds, Melodien und sich langsam verdrehenden Rhythmen waren hausgemacht und trügerisch simpel, aber das Album bot, wie es bei Alben die das Attribut „klassisch“ erhalten auch sein sollte, eine weit in die Zukunft weisende Vision davon, was – in diesem Falle – elektronische Musik sein könnte. In eine Zukunft übrigens, die Richard D. James auch noch weiter mit formen würde. Auf den Selected Ambient Works 85-92 lieferte das kleine Genie tatsächlich dem Titel entsprechend Tracks, die er zwischen seinem 14. (!) und 21. Lebensjahr zusammengebastelt hatte. Und wer auch immer die „Soundästhetik“ solcher Songs wie „Xtal“ oder „Pulsewidth“ arrogant bemängelt, dem entgeht dann wohl ihre schier Musikalität, ihre Schönheit, die sich über die Mode erhebt. Denn das zeigt dieses Album: Die bloßgelegten Wurzeln des IDM – Krautrock, Berlin School, Ambient, Minimal Synth – und in Töne gefassten klassischen Impressionismus, der in Rhythmen, Klicks und Melodien gemalt ist. Und wie so oft ist dieses Album, das über den Stil „IBM“ hinausweist, zugleich sein Referenzwerk (…allerdings gemeinsam mit Boards of Canada’s Music Has the Right to Children…).

Beastie Boys
Check Your Head

(Grand Royal, 1992)

Cover-Foto – Glen E. Friedman. Fotograf der Skater- und HipHop Szene:
burningflags.com,

Und nun zwei Alben mit der Musik, die die Neunziger in hohem Maße bestimmen wird. HipHop hatte sich von der reinen Underground-Musik der Afro-amerikanischen Bevölkerung in den Vorstädten New Yorks in den letzten 10 Jahren zu einem Massenphänomen gewandelt, das die Jugend quer über den Kontinent beeinflusste. Es gab inzwischen Rapper jeder Hautfarbe, die Musik wurde jetzt stilistisch komplex und divers, die Themen spiegelten nicht mehr nur das Leben in den Ghetto’s wieder (obwohl das immer noch Hauptthema war) und es gab einen ganzen Haufen von tollen Alben aus allen Ecken der USA. Die Beastie Boys – die drei jüdische Jungs aus New York, die mit dafür verantwortlich waren, dass HipHop jetzt auch Thema bei der „weissen“ Jugend Amerika’s war – hatten mit dem Vorgänger Paul’s Boutique nach ihrem Million-Seller – Debüt einen kommerziellen (…keinen künstlerischen…) Flop gelandet. Aber trotz des Rückschlages warteten anscheinend nach wie vor viele Fans auf ihre Mischung aus Party, Punk und Rap. Und jetzt lieferten sie ab: Sie durften ja nicht mehr samplen, was ihnen unter die Finger kam, und daher beschlossen sie, ihre Beats und den musikalischen Background selber herzustellen, gaben den Old School Rap als Haupteinfluss auf und brauten eine bunte Suppe aus Soul-Jazz, Hardcore Punk, White-Trash-Metal, Arena Rock, Bob Dylan, Bossa Nova, Pop und hartem dreckigem Funk. Durch die DIY Attitüde wurden die Songs simpler, die Atmosphäre wurde zum wichtigsten Element und der Spaß wurde für alle größer. Die Vielfalt der Stile macht Check Your Head zu einem dieser Alben, bei denen die einzelnen Elemente ein größeres Ganzes bilden. Ein Album, das Spaß und Anspruch miteinander verbindet, das nie verkopft klingt, das aber die bis dato intelligenteste Form des Hip Hop bot. Und dass das von vier weißen, jüdischen Jungs aus Brooklyn kam, war erst mal wirklich egal. Check Your Head wird somit zu Recht nicht als Klassiker eines bestimmten Genres angesehen, sondern ganz generell als Klassiker der Rockmusik.

Dr.Dre
The Chronic

(Death Row, 1992)

Art Direction – Kim Holt. Hat dann auch Snoop Dog’s erstes Album designed

Und jetzt zuletzt wirklich „purer“ HipHop: An der Westküste der USA tat sich natürlich – wenn auch mit ein wenig Verspätung – in diesem Jahr ebenfalls einiges. HipHop hatte eine stilistische Breite erlangt, die es für mich notwendig macht, eine Art „Gegenbeispiel“ zu den Beastie Boys hier hin zu stellen. Dabei darf man nicht glauben, dass The Chronic das einzige wirklich hervorragende Album mit West Coast HipHop in diesem Jahr wäre – die besten Alben und die Unterschiede zwischen East Coast und West Coast werde ich in einem eigenen Artikel/Eintrag darstellen. Aber The Chronic ist West Coast Rap at its finest von Einem, der die Westküste erst auf die Landkarte des hipHop gebracht hatte. Dr.Dre war natürlich Mitglied und vor allem Produzent von N.W.A. und hatte dadurch seinen Anteil an deren Klassiker Straight Outta Compton, aber sein erstes Solo-Album The Chronic wurde mindestens so gut. Dabei war Andre Romelle Young (so sein Geburtsname) kein besonders guter Rapper, seine Rhymes waren simpel und er hatte bei N.W.A. eher als Mann im Hintergrund mitgewirkt. Aber nachdem er sich aufgrund finanzieller Streitigkeiten mit der Crew überworfen hatte, verfolgte er seine Vision des Gangsta-Rap auf diesem Klassiker weiter. Er etablierte den sogenannten G-Funk Sound, basierend auf George Clinton-Beats, Soul-Background-Gesang und teilweiser Live-Instrumentierung (weil ja Samplen nach Herzenslust inzwischen rechtlich schwierig bis unmöglich geworden war…). Und Dr. Dre hatte einen Vorteil: Er war sich durchaus darüber im Klaren, dass er nicht der beste aller Rapper war, und bot daher auf diesem Album seiner größten Entdeckung eine Plattform: Rapper Snoop Doggy Dog macht aus The Chronic trotz schwulenfeindlicher, frauenverachtender und gewalttätiger Texte – ein Partyalbum. Die Rodney King Riots wurden regelrecht abgefeiert, Alles kam politisch erschreckend und zugleich erfrischend unkorrekt ‚rüber, aber die Coolness von Snoop (und anderen Gästen) ließ auch das zu. The Chronic muss gemeinsam mit dem 1993 veröffentlichten Debüt Snoops‘ (Doggystyle) als eines der einflussreichsten Alben des HipHop anerkannt werden.