Russland, die Ukraine und andere ehemalige Sowjetrepubliken bilden zunächst einmal den losen Staatenbund GUS. In Ost-Timor kommt es zu Massakern. In den Südtiroler Alpen wird der tiefgefrorene „Ötzi“ gefunden, eine Flutwelle nach einem Zyklon fordert in Bangladesch 200.000 Tote und 500.000 Obdachlose, der Vulkan Pinatobu auf den Philippinen bricht aus und fordert weitere 1000 Tote und 400.000 Obdachlose. Freddie Mercury, Johnny Thunders und Miles Davis sterben, und Oasis und Rage Against the Machine werden gegründet und bald zu Revolutionären in der Musik. Die 80er sind nun wohl endgültig vorbei. 1991 wird ein Jahr, in dem – ähnlich wie ’67 oder ’77 – etliche als „definitiv“ oder zumindest „stilbildend“ zu bezeichnende Platten erscheinen. Nirvana zum Beispiel machen Nevermind, und Grunge beginnt seinen kommerziellen Siegeszug. Massive Attack beleben schwarze Club-Musik durch ihre Blue Lines, Metallicas schwarzes Album wird zum kommerziellen Durchbruch der ehemaligen Thrash-Band und diese (auf dem Album gezähmte…) Musik bekommt schlagartig ein Massenpublikum – und im gestern noch untergründigen Genre Death Metal werden in riesiger Anzahl Alben auf den Markt geworfen – so viele, dass man vom Hype spricht. Manche Alben, wie zum Beispiel die Post-Rock Fundamente Spiderland und Laughing Stock bleiben zunächst ungehört, erhalten in den folgenden Jahren aber verdientermaßen immer größere Anerkennung. Überhaupt gilt, dass Vieles, was früher Underground war, nun im Mainstream angekommen ist. Aber all das ist noch schön frisch, und eine neue, junge Generation von Hörern bemerkt, dass es da sehr gute Musik zu entdecken gibt. Und auch Major-Label erkennen diesen Trend – allerdings sind die wirklich großen kommerziellen Abräumer noch immer Überflüssigkeiten wie etwa Roxette oder Bryan Adams mit seinem Robin Hood Filmsong. Michael Jackson’s Schwester Janet bekommt 30 Mio $ für ihren Namen und generalstabsmäßig geplante Chartsangriffe und Genesis zerstören jede Erinnerung an einstige Größe mit dem Hitparaden-Rock von We Can’t Dance….. Aber was soll’s, es gibt ja auch…
Talk Talk
Laughing Stock
(Verve, 1991)
Unter all den wunderbaren Alben, die 1991 erschienen, war Laughing Stock sicher das Schönste und das am weitesten in die Zukunft weisende. Es war das fünfte und letzte reguläre Album einer Band, die sich in den letzten Jahren von einer hitparadentauglichen Synth- Pop Band konsequent weiterentwickelt hatte zu einem lockeren Musiker-kollektiv, das unter der Feldherrschaft Mark Hollis‘ – des Königs der Introversion – die Grenzen der populären Musik weiter und weiter in Richtung Kunstmusik verschob, in eine Richtung die man dereinst Post-Rock nennen würde – und die dafür zu dieser Zeit ganz nebenbei von ihrem Label EMI schnöde verstoßen wurde, so daß Laughing Stock auf dem jazz-affinen Verve Label erschien… Produzent Tim Friese-Greene und Bandkopf Hollis reduzierten Popmusik noch weiter als es möglich schien und streckten und dehnten ihre verbliebenen Strukturen und Sounds dann bis an die Belastungsgrenzen. Auf diesem Album ist alles spartanisch, aber alles fällt wunderbar genau an seinen Platz. Sie hatten damit schon auf Spirit of Eden begonnen, aber dort waren die Songstrukuren noch erkennbar gewesen. Auf Laughing Stock, der logischen Fortentwicklung des (durchaus bekannteren) Vorgängers wurden die Songs auf Folgen von Tönen eingedampft, gespielt von Gitarren, Blues-Harp, Bass und Bläsern. All das wurde nur noch zusammengehalten durch die Stimme von Mark Hollis, der seine lautmalerischen Texte mit Songtiteln wie „Myrrhman“ oder „Runeii“ versah. Diese wenigen Elemte dabei zu etwas so Schönem und Reichem zu verbinden, ist der Beweis dafür, dass Mark Hollis nach wie vor seine Affinität zum Pop und zu dessen Melodik nicht verleugnen konnte (wiewohl er das vielleicht wollte) und es zeigt, wie weit Talk Talk trotz ihrer Vorreiterrolle für den kommenden Post-Rock von genau dem entfernt geblieben sind. Ein solch feiner Sinn für „eingängige“ Melodien geht Bands wie Tortoise oder Mogwai letztlich dann doch ab. Aber genau dieser ist es, der dieses Album so einzigartig macht.
Slint
Spiderland
(Touch & Go, 1991)
Spiderland von Slint ist – ähnlich wie Laughing Stock übrigens – eines dieser Alben, die erst im Laufe der Zeit ihren verdienten Kult-Status erlangten, zur Zeit seiner Veröffentlichung aber von den Wenigsten wirklich gehört wurde. Dazu war diese Mischung aus Punk, Independent und Jazz Einflüssen ihrer Zeit noch zu weit voraus. Entfernt vergleichbares gab es nur in Spurenelementen in der Musik von Television oder von Big Black, der Band von Steve Albini, dem Produzenten dieses Albums. Heute gilt Spiderland zurecht – mehr noch als Talk Talk’s diesjähriges Album – als „Fundament“ des sogenannten Post-Rock. (Was der Grund ist, aus dem ich beide Alben hier nebeneinander stelle – sie bilden sozusagen die beiden gegenüberliegenden Eckpfeiler des Post Rock) Die wichtigsten, und beiden Alben gemeinsamen Elemente, die vertrackte Rhythmik, die Laut-Leise Dynamik, und sogar der so seltsam aus dem Nichts kommende Gesang wurden später zu den typischen Bestandteilen dieses sehr diversen Stils. Dazu kommt bei den Amerikanern Slint, dass eigentlich alle beteiligten Musiker später in den stilbildenden Post Rock Bands wie Tortoise oder The Sea and Cake auftauchen sollten. Aber 1991steht Spiderland, – wie auch Slint’s erstes Album Tweez – zunächst einmal alleine im dubiosen Bereich der experimentelle Rock Musik. Der Begriff „experimentell“ sollte allerdings nicht die Tatsache verschleiern, dass Songs wie „Nosferatu Man“ nicht bloß akademisch, sondern auch einfach schön klingen. Sinn für Pop-Melodien ist hier allerdings – im Vergleich zu Mark Hollis Arbeit mit Talk Talk – nicht vorhanden. Kein Wunder bzw. logisch: Die Briten Talk Talk kamen vom Synth-Pop, und man kann davon ausgehen, dass dieser für die eher aus der Punk- und Hardcore Szene stammenden Musiker weder Ausgangspunkt noch Ziel ihrer Musik war. Noch ein kleiner Hinweis am Rande: Das Cover-Foto schoss ein gewisser Will Oldham – später bekannter als Palace oder Bonnie „Prince“ Billie
My Bloody Valentine
Tremolo EP
(Creation, 1991)
Wenn ich – wie in diesem Fall – die EP einer Band sozusagen gleichberechtigt mit der LP beschreibe, hat das seinen Grund: Bei My Bloody Valentine – und ein paar anderen sog. Shoegaze-Bands – sind die EP’s genauso wichtig wie die LP’s, werden sogar manchmal – in schöner britischer Singles-Tradition – mit besseren Tracks ausgestattet. Und so kann man Tremolo – MBV’s vierte ganz große EP in einer Reihe – als Vorbereitung auf etwas ganz Großes verstehen. Tatsächlich wurden die vier Tracks der EP im gleichen Zeitraum produziert, in dem die Aufnahmen zur epochalen Loveless-LP stattfanden. Und Opener „To Here Knows When“ wurde in veränderter Form auf’s kommende Album genommen. Dennoch: Auch dieser Track ist für die EP mit einer instrumentalen Coda versehen, das Gitarren-Feedback wurde so weit verfremdet, dass man es kaum noch als Gitarre erkennt, Bilinda Butcher singt zu der traumhaften Melodie quasi ohne Worte, klingt fast, als würde sie im Schlaf murmeln. Dieser Track schimmert, wie Licht auf den Wellen – und dieser Eindruck bleibt auch beim folgenden „Swallow“ bestehen. Hier destillierte Kevin Shields Flötentöne aus den Souds der Gitarren und ließ mit Shakern und Percussion indische Musik anklingen. Mit „Honey Rocks“ kommt tatsächlich der Noise-Rock der You Made Me Realise EP wieder zu Ehren. Dennoch: Die Band hatte sich weiter entwickelt, die lange Zeit im Studio brachte sie dazu, ihre Sounds zu einem warmen Rauschen zu verfremden, und dass sie Songs zu schreiben wussten, hatten sie zur Genüge bewiesen. „Honey Rocks“ mag noch am nächsten an Rockmusik erinnern – aber der Sound dieser Band war inzwischen einmalig. Der Closer „Moon Song“ dürfte ihr verträumtester Track sein – sie klingen ein bisschen wie R.E.M. im Traumland, eine fast folkige Melodie, Kevin Shields Gesang hinter Sound-Vorhängen – so hätten MBV vielleicht weiter gemacht, hätten sie schneller aus ihrer langen Lähmung nach Loveless heraus gefunden. Wie gesagt: Die vier EP’s und die LP Isn’t Anything sind Pflichtprogramm für?…Jeden….
My Bloody Valentine
Loveless
(Creation, 1991)
Nachdem My Bloody Valentine sich inzwischen also vom Vorwurf, ein Jesus and Mary Chain – Rip Off zu sein, freigemacht hatten, nach all den revolutionären musikalischen Äußerungen, brauchten sie für die Aufnahme von Loveless tatsächlich geschlagene drei Jahre. Creation Records investierte 250.000 Pfund und trieb sich selbst fast in den Ruin – aber das Ergebnis war’s wert. Loveless ist – wie die meisten hier vorgestellten LP’s – eines der einflussreichsten Alben der 90er (…das Jahr 1991 ist in der Tat voll von solchen singulären Phänomenen). Bandkopf und Gitarrist Kevin Shields erschuf mit Hilfe von 18 Technikern und seinen Bandkollegen DIE Mutterpause und zugleich den Höhepunkt für die gesamte sogenannte Shoegaze-Szene (… Shoegaze, weil die Musiker bei Konzerten ständig auf die Effektpedale vor sich starren, um hren Sound zu erzeugen…). Weder er noch andere Bands erreichten hernach jemals wieder diese Perfektion – selbst wenn dann ähnlich schöne Alben entstanden, wie Souvlaki von Slowdive oder Nowhere von Ride… – sie alle arbeiteten nach Loveless auf schon beackertem Terrain. Kevin Shields perfektionierte für dieses Album die Technik, den Sound der Rückkopplungen der Gitarren in ein tosendes, süßes Rauschen zu verwandeln indem er den Klang der Gitarrensaiten entfernte und das weiße Rauschen übrigließ. Und vor Allem hatte er wieder Songs und Harmonien, die trotz dieses ungeheuren Getöses süß und plastisch blieben, Shields‘ und Belinda Butchers Vocals verschmelzen bei sanften Songs wie „Blown a Wish“ aufs delikateste, „Only Shallow“ ist Pop, in kraftvollen Noise gegossen, „Soon“ verbindet White Noise mit Dance-Einflüssen. All die Epigonen, die – wie gesagt – teils auch wunderbare Alben machten, konnten im Grunde ab jetzt nur noch zitieren. Loveless ist tatsächlich ein würdiger Abschluss – auch wenn man einen Nachfolger herbeisehnte, der dann aber 22 Jahre auf sich warten leiß. Auch ’ne Methode…
Massive Attack
Blue Lines
(Virgin, 1991)
Und hier das nächste Genre-definierende Alben – es steht für die Musik, die erst ein paar Jahre später TripHop genannt wird. Blue Lines von Massive Attack vermengt erstmals amerikanischen Hip Hop mit britischer Club-Kultur, mit Dancehall, Reggae, Rare Groove und Dub und steht damit im Jahr 1991 als etwas ganz Neues und entsprechend Aufregendes in der Musikwelt. Ein vergleichbarer Sound mag einzig noch von Soul II Soul kommen – und natürlich aus dem Musiker-Kollektiv The Wild Bunch aus Bristol, aus dem dann auch Portishead und Tricky hervorgehen werden. Die Musik von Massive Attack und Kollegen ist vielschichtiger als der Club Sound jener Zeit, teilweise wird innerhalb eines Stückes ein Club-Jam mit bestem britischen Rap vermengt – siehe der Opener „Safe From Harm“, bei dem der zum Musikerkollektiv Wild Bunch gehörige Tricky seinen heiseren Beitrag leistet. Dazu kommen einige weitere hervorragende Gast-Vokalisten wie Reggae-Legende Horace Andy – mit seinem hymnischem Gesang auf drei Tracks, unter anderem beim wunderbaren „One Love“. Oder der Beitrag der Soul Diva Shara Nelson, die den Opener „Safe From Harm“ und den unglaublich schönen Über-Hit „Unfinished Sympathy“ zur Perfektion veredelt. Der Grundtenor der Musik von jedoch Massive Attack ist jetzt schon düster, „Five Man Army“ wird durch etliche Dub-Kammern gejagt, aber insgesamt wirkt dieses Album noch freundlich im Vergleich zu dem, was später noch kommen soll. Blue Lines ist das definitiven Dance-Alben des Jahres 1991.
A Tribe Called Quest
The Low End Theory
(Jive, 1991)
Nachdem sie 1990 schon ein tolles Debütalbum hingelegt hatten, gelang den New Yorkern A Tribe Called Quest ein Jahr später mit The Low End Theory tatsächlich die erhoffte Steigerung. Der Stil, den sie mit anderen Hip Hop Acts wie den Jungle Brothers und De La Soul generierten, nennt man Conscious Rap (… dies für denjenigen, der Einordnungen liebt…), und The Low End Theory ist einer der Höhepunkte dieser weniger macho-haftent, eher von politischen und soziologischen Themen geprägten Form des Rap. Tatsache ist – das Album ist unabhängig von „Stilistik“ und Genre so gut, dass es im besten Sinne zeitlos geblieben ist. Eine Eigenschaft die gerade im an Trends ausgerichteten Hip Hop nicht selbstverständlich ist. Rapper Q-Tip hat das Mikro immer noch die meiste Zeit in der Hand, aber Phife Dawg bekommt einen größeren Anteil als noch auf dem Debüt, was zum Abwechslungsreichtum beiträgt. Q-Tip klingt cool, Phife energetisch, wenn sie über die positiven Seiten des Lebens ihrer Leute rappen. Ihre Reime sollten im Laufe der Zeit noch flüssiger werden, aber beide MC’s sind schon in großer Form. Dazu kommen feine Beiträge von Gesinnungsgenossen wie dem jungen Busta Rhymes („Scenario“) oder Brand Nubian und Diamond D („Show Business“) …und die phänomenale Mitarbeit des Jazz-Bassisten Ron Carter. Es gibt diesen Spruch, dass The Low End Theory das Sgt Pepper… des Hip Hop ist – etwas übertrieben, aber ganz falsch ist es nicht: Hier wurde erstmals Hip Hop und Jazz – die Musik der Schwarzen mithin – in einem minimalistisches Konzept zusammengebracht. Da sind eigentlich nur Bass, Drums und die Stimmen der MC’s, dazu ab und zu dunkle Keyboard-Lines und ein paar wohl gesetzte Sounds und Samples – man höre nur den wunderbaren Flow von „Butter“. Und bei allem Minimalismus bleibt das Album abwechslungsreich, dynamisch, spannend und reich. The Low End Theory ist ein Album, bei dem ein kluger Inhalt in die perfekte Form passt, eine Fusion aus dem besten der Musiktraditionen aus Jazz und Hip Hop. Auch hier gilt: Die Nachfolger mussten sich an diesem Album messen
Nirvana
Nevermind
(DGC, 1991)
Ja natürlich, hier kommt es ja schon – DAS Album der Neunziger: Es beginnt mit einem simplen Akustik-Riff, dann setzen Drums und Bass ein und dann kommt diese Stimme, tief aus der Kehle, die den Plastikpop und den Hair-Metal der 80er wegfegt. „Smells Like Teen Spirit“ kam wie ein Befreiungsschlag und sollte die Musik der 90er neu definieren und vor allem die Idee der geplanten Marketing-Campagne für Popmusik endlich mal etwas entgegenstellen. Denn die drei von Nirvana hatten all das ganz gewiss nicht geplant oder vorhergesehen und fühlten sich in der Rolle als Leitbilder einer Generation schnell sichtlich unwohl. Zunächst allerdings bemerkten die drei Musiker von dem weltweiten Hype kaum etwas, da sie auf Tour waren und den Erfolg nur ab und zu telefonisch mitgeteilt bekamen. Kurt Cobain jedenfalls hatte sicher keinen weltweiten Siegeszug geplant. Umso seltsamer und auch tragischer ist es, dass Nevermind – und Nirvana – in den folgenden Jahren immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt wurden, „kommerziell“ zu sein. Wenn man hinhört, fällt einem auf, dass Songs wie „In Bloom“ oder „Come As You Are“ zwar eine gehörige Portion Pop enthalten – Kurt Cobain hörte und verehrte die Beatles (und die Pixies) und wollte Songs so simpel wie Kinderlieder schreiben – aber das Rohe und Entfesselte einer Punk-Band ist immer da und in anderen Songs wie z.B. „Breed“ oder „Territorial Pissing„ noch viel deutlicher – nur wir haben uns inzwischen an diesen angeschmuddelten Sound gewöhnt – der dann bei Anderen oft nur Attitüde wurde…. das war hier nicht der Fall – wobei Kurt Cobain Nevermind später oft genug als „überproduziert“ und „zu glatt“ bezeichnen sollte – eine Koketterie, die man verzeihen kann. Dass Cobain und Nirvana auch Balladen konnten, zeigt „Something in the Way“. Nirvana hatten meiner Meinung nach einfach unfreiwillig Glück und trafen zur richtigen Zeit mit großartiger Musik den richtigen Nerv.
Mercury Rev
Yerself Is Steam
(Columbia, 1991)
Mercury Rev’s Debüt wird alle überraschen, die die Band erst ab dem psychedelischen Nebel Deserter’s Song kennen, dem Album, mit dem ihnen im Jahr 1998 ein kurzer aber verdienter Erfolg beschieden war. Zu Beginn ihrer Karriere hatte ihr Sound einige zusätzliche – und für breitere Massen ungenießbare – Komponenten. Zu dieser Zeit war es David Baker – Sänger und Exzentriker – der den musikalischen Kurs der Band entscheidend mitbestimmte: Erst mit seinem Ausstieg 1994 wurde deutlich – er war derjenige, der für die düstere, noisige Seite Mercury Rev’s zuständig war. Die Band hatte sich aus ein paar Filmstudenten gegründet, deren Mentor Tony Conrad (…der hatte früher u.a. mit den Kraut-Rockern Faust und dem Minimal-Composer La Monte Young gearbeitet) ihnen Mut machte, ihre Ideen und ungewöhnliche Sounds zu verwirklichen. Anfang der Neunziger gab es kaum eine Band, die so klang wie Mercury Rev – da waren allein noch die Flaming Lips, bei denen sowohl Mercury Rev’s David Fridman als auch Gitarrist Jonathan Donahue mitmachte, sowie die weit härteren Butthole Surfers, aber auch die waren mit Mercury Rev verbandelt. Das Debüt Yerself Is Steam (Wortspiel – Your Self Esteem…) ist eines der ganz großen psychedelischen Meisterwerke der Neunziger – spannender und vielschichtiger als der Baroque Pop von Deserter’s Songs, aber mit all dessen melodischer Finesse (man höre nur den Opener „Chasing a Bee“), da noch mit der wunderbar tiefen, bekifften Stimme David Bakers, der allerdings während eines Songs gerne mal die Bühne verließ, um einen zu trinken. Da sind die klug eingesetzten Blasinstrumente von Suzanne Thorpe bei Songs, die sich dem üblichen Verse–Chorus-Schema verweigern und so schöne Titel haben wie „Sweet Oddysee of a Cancer Cell t‘ th‘ Center of Yer Heart“ oder „Continuous Trucks and Thunder Under a Mother’s Smile“… da ist diese Mischung aus Schönheit und Free Form Art Rock… Diese Musik jedenfalls war und ist äußerst beeindruckend – ich beneide jeden, der die Band neu kennenlernt. Dass sie weiterexistierten grenzt allerdings an ein Wunder: Erst ging der US-Vertrieb Pleite, die Tour in England wurde chaotisch, danach verteilten die Musiker sich im Lande, spielten wieder bei den Flaming Lips oder stellten sich für medizinische Experimente zur Verfügung um Geld zu verdienen…. Aber dann wurde das Album re-issued, die Musiker rauften sich zusammen und nahmen mit Lego My Ego zunächst eine völlig wahnsinnige EP auf – mehr dazu in 1992. Yerself Is Steam jedenfalls ist ein mindestens so gehaltvolles Stück Musik wie die zuvor reviewten Alben.
Primal Scream
Screamadelica
(Creation, 1991)
Und noch eine stil-prägende Platte des Jahres 1991: Primal Scream waren nicht – wie die bekifften Happy Mondays oder die großmäuligen, rockistischen Stone Roses – in nur einer bestimmten Szene unterwegs. Ihnen gelang es mit Screamadelica Club Culture und Indie zu verquicken und damit rissen sie genauso Grenzen ein, wie es Massive Attack in anderen Bereichen machten. Als durchschnittliche Indieband mit zwei belanglosen Alben gestartet, hatten sie für ihr drittes Album den DJ Andrew Weatherall eingeladen, die Songs „Loaded“ und „Come Together“ zu remixen, hatten The Orb aus „Higher Than the Sun“ ein knurrendes Dub-Monster machen lassen, ließen den Rolling Stones Produzenten Jimmy Miller „Movin‘ on Up“ und „Damaged“ erden. Und so schufen sie trotz all der unterschiedlichen mitwirkenden Künstler und DJ’s eine Platte, die Psychedelik, Dance Music und Rockmusik organisch miteinander verband. Psychedelische Sounds und Ecstasy-getränkte Dance Grooves waren das, was herauskam und die erstaunlichste Eigenschaften dieser LP ist es, dass sie trotz dieses Patchworks aus Einflüssen wie aus einem Guß klingt und dabei auch noch ungeheuren Spaß macht. Sänger Bobby Gillespie – der sich übrigens zuvor als Drummer bei The Jesus and Mary Chain betätigt hatte – würde sein Mutterschiff über die kommenden Jahre immer wieder in neue Richtungen schieben und den Stilwechsel zum Stilmittel machen – und dabei mindestens noch einen Klassiker erschaffen (XTRMNTR in 2000). Hier erfand er das Rezept für ihre Karriere: Bekannte Versatzstücke zu etwas Neuem zusammen zu setzen.
Metallica
s/t (Black Album)
(Vertigo, 1991)
Das schwarze Album von Metallica: Das Album, das von den meisten Fans der ersten Stunde mindestens mit größtem Misstrauen betrachtet wurde, das aber zugleich einem ganz neuen Publikum harte Musik nahe bringen sollte. Es ist ein Album, das den Status Metallica’s als größte Band unter den Bay-Area Thrashern zementieren sollte – und das sie zugleich aus dieser hermetischen Szene herauskatapultierte. Ihre vorherigen Alben waren kommerziell schon recht erfolgreich gewesen – für Heavy Metal jedenfalls – aber hier sprengten sie sich einen Weg in ganz andere pekuniäre Dimensionen frei. Antreibende Kraft hierfür war – wie inzwischen bekannt – vor Allem James Hetfield, (un)umstrittener Kopf der Band, Sänger, Gitarrist und Texter. Dessen Ehrgeiz war es anscheinend, der dazu führte, dass die Band den reinen Thrash ihrer ersten 2 1/2 Alben immer mehr in Richtung Radiofreundlichkeit verschob. Wobei man beachten sollte – die Akzeptanz für harte Musik kam auch von der anderen Seite – dass Metallica ein größeres Publikum bekamen, hat wenig mit dem „Verrat von Idealen“ zu tun. Tatsächlich sind Metallica auf ihrem selbst betitelten fünften Album in zehn Jahren ganz einfach langsamer geworden – und nicht etwa weniger „heavy“ – haben eine cleanere Produktion von Bob Rock (.. dieser Name verpflichtet vermutlich…), und haben ganz einfach ihre Stärken ausgearbeitet: Komplexe Prog-Rock-Songstrukturen, treffende Hooks und eine Kraft, die ihresgleichen sucht – die man sonst nur von weniger zugänglichen Konkurrenten kannte. Die Ballade „Nothing Else Matters“ mag das Übel „Metal-Ballade“ mitverschuldet haben, aber Songs wie die nicht minder berühmten Singles „Enter Sandman“ oder „The Unforgiven“ sind effektiv und hart. Und es gibt auch einige Album Tracks, die ganz banal großen, breitbeinigen Thrash Metal (…meinetwegen light) bieten. Um „Holier Than Thou“ und „Through The Never“ haben sie vermutlich andere Bands beneidet. Grundsätzlich teile ich die Meinung, dass Metallica nicht die Klasse von Ride the Lightning oder Master of Puppets hat. Es ist als Doppel-LP mit zwölf Songs zu lang und nicht so intensiv wie die vorgenannten Alben – und es ist nicht so extrem, wie ich es mag, aber es ist ein kulturelles Phänomen, weil es harte Musik aus einer etwas schmuddeligen Obskurität holte und es ist weit besser, als die Fundamentalisten es zugeben wollen.
Dismember
Like An Ever Flowing Stream
(Nuclear Blast. 1991)
…und um besagten Fundamentalisten eine Freude zu bereiten – und weil Death im Metal dieser Zeit DAS Ding ist – will ich bei den wichtigsten Alben des Jahres ’91 das Debüt der Schweden Dismember hervorheben. Natürlich kann man geteilter Meinung sein – Death’s Human, Immolation’s Debüt – alle beide durchaus genauso gut… aber ich wähle Like An Ever Flowing Stream von den Schweden Dismember. Die gelten unter falsch Informierten als Kopisten, als zweite Band hinter den Pionieren Entombed, aber sie sind – nahezu zeitgleich mit Entombed – aus der Band Carnage entstanden, deren Debüt im Vorjahr posthum veröffentlicht wurde und ihr Sound mag zwar dem von Entombed ähneln, aber sie waren schlicht befreundet, die DM-Bands aus Schweden gingen allesamt ins Stockholmer Sunlight Studio von Thomas Skogsberg, und der war stolz auf den dort entwickelten eigenwilligen Sound, die tiefer gestimmten Kreissägen-Gitarren, die kraftvollen Rhythmus-Gewitter – den dann etliche Bands gemeinsam hatten. Die Wurzeln von Dismember liegen im Hardcore, aber sie haben einen melodischen Songwriting-Approach, der sie stark von Florida-Death Metal Bands etwa unterscheidet. Vielleicht ist es das Erbe schwedischer Volksmusik, vielleicht sind alle Schweden durch ABBA geprägt – jedenfalls sticht bei Like An Ever Flowing Stream eine fast poppige Melodik hervor, die aber keinesfalls die rasende Gewalt dieser Song-Ausbrüche zu überdeckt. Dieses Album ist das Beste unter den schwedischen DM-Klassiker, weil dem Hörer die Boshaftigkeit dieser gerade mal 20-jährigen aus jedem Ton entgegen springt, weil bei „Override of the Overture“ DAS klassische schwedische Death Metal Riff gespielt wird, weil die Leads vom Freund und Gast-Gitarristen Nicke Andersson (von Entombed) so melodiös schimmern, weil die Band dabei so rasant voran prescht, weil Songs wie „Skin Her Alive“ oder „Soon to be Dead“ mit ihren Gewalt-Ausbrüchen erinnerlich bleiben – schlicht, weil Like An Ever Flowing Stream zu den besten DM-Alben seiner Zeit gehört und nichts über sich und nur Entombed’s Left Hand Path aus dem Vorjahr neben sich hat. Dass die Band auf dem Back-Cover mit blutverschmierten Oberkörpern posieren und den bösen Songtitel „Skin Her Alive“ verwenden, hat damals für eine Aufregung gesorgt, die heute (nach Black Metal…) albern wirkt.
Les Rallizes Dénudés
’77 Live
(Rivista, Rec. ’77, Rel. 1991)
Eine der Sachen, die Japaner angeblich besonders gut können, ist das Übernehmen von Ideen, die dann auf ein Format vergrößert werden, das uns Europäern mitunter absurd erscheint. King Kong, der über einen 15 Meter hohe Gorilla, der eine Frau in der Hand halten kann, wurde von der japanischen Filmindustrie zum post-nuklearen Monster Gojira vergrößert, die – halb Echse, halb Gorilla, radioaktive Flammen ausspie. Und genau so wurden amerikanische Psych- Rockbands wie Blue Cheer oder die Velvets, aber auch deutsche Bands wie Amon Düül und die eigenen japanischen Vorbilder der Flower Travelin‘ Band in den post-nukleare Alptraum Les Rallizes Dénudés verwandelt. Deren unendliche, vollkommen übersteuerte Gitarren-Odysseen würden in den kommenden Jahren eine ganze Lawine von gleichgesinnten japanischen Bands wie Mainliner, Fushitsusha oder auch Acid Mothers Temple und Boris beeinflussen. Das Album ‚77 Live ist somit das Sgt. Pepper des japanischen Noisy Guitar Shit, und auch wenn von 1977 bis in die frühen Neunziger – in denen dieses Album erstmals offiziell auftauchte – viel Zeit vergangen ist, sind die Aufnahmen extremer und ohren-zerfetzender als vieles, was in den folgenden Jahren von oben genannten Nachfolgern fabriziert wurde. Wobei die Gitarrendetonationendes legendären Frontmannes Takashi Mizutani zwar vieles zudecken, das enorm melodische Bassspiel von Hiroshi jedoch der Musik den erforderlichen melodischen Halt gibt. Dass diese Band 1962 aus einer Studenten-Theater-Gruppe entstand, dass sie einerseits links-radikal waren, gleichzeitig aber öffentlichkeitsscheu in der Hinsicht waren, dass sie nie ein reguläres Studio-Album veröffentlichten, und dass es bis zu ihrem Ende 1996 nur Live Bootlegs gab, trägt zum anti-kommerziellen Image bei. ’77 Live wurde somit zum Kult-Objekt des Noise-Rock, wurde in immer wieder anderem Cover-Design re-issued, und gilt wahlweise als „brain-melting“ oder als überflüssiger Lärm. Was ich davon halte, siejht man hier… Und als Post scriptum… Wie vieles, was hier angedeutet wird, gibt es auch zu dieser Art von Musik – oder zumindest zu vergleichbarem Stoff – ein ganzes Kapitel, in dem die japanischen Noise-Künstler der frühern Neunziger und die sehr freien Grindcore-Jazz Terroristen nebeneinander gestellt werden…
Bob Dylan
The Bootleg Series 1-3, Rare and Unreleased 1961-1991
(Columbia, 1991)
’91 war Bob Dylan eigentlich wieder einmal in einer Karriere-Phase, in der man nicht mehr wirklich viel von ihm erwartete – jedenfalls Nichts wirklich Neues mehr. Wobei – wirklich NEUES hat er eigentlich nie geschaffen. Er hat mit alten Formaten experimentiert und diese verändert – was aber doch letztlich für beinahe Alles gilt, was in den letzten 35 Jahren Popmusik geschehen ist… aber das zu untersuchen, würde zu weit führen. Hier geht es um Teil 1 bis 3 von Dylan’s inzwischen gewaltig ausgedehnten Bootleg Series, dem musikalischen Schatz, der bislang ungehoben oder nur auf inoffiziellen Bootleg-Alben erschienen war. Dem Teil seines „Werkes“, der zeigt, wie reichhaltig die Musik dieses Mannes immer war, selbst dann, wenn die einzelnen „offiziellen“ Alben nicht befriedigten. In der Tat ist es verwunderlich, warum etliche dieser Songs nicht auf den jeweiligen Alben veröffentlicht wurden. Anscheinend hatte er selbst in seinen als „schwach“ geltenden Phasen mehr Material, als manch anderer Künstler in einer ganzen Karriere schafft. Auf dem 3-CD Set deckte die erste CD die ersten drei Alben ab, mit diversen rohen Aufnahmen aus Bob’s Früh-Phase, von denen insbesondere „Moonshiner“ mit Allem auf The Times They Are A-Changing mithalten kann. Die zweite CD ist vielleicht am interessantesten, mit wunderbaren Cuts wie „Seven Curses“, „Mama you Been on My Mind“ oder „She’s Your Lover Now“, das ohne Probleme auf Blonde on Blonde gepasst hätte. Dazu gibt es hier noch tolle Outtakes von den Blood on the Tracks Sessions. Disc 3 reicht von Aufnahmen zu Desire über die „christliche“ Phase bis zum unerquicklichen Pop vom ’85er Karrieretiefpunkt Empire Burlesque. Und insbesondere die Outtakes aus den Sessions zu Infidels (’83)zeigen, wie gut er damals in Form war. Komplett außen vor sind Outtakes aus der Phase nach ’66 – als er die Basement Tapes aufnahm. Da erscheint erst 2014 mit The Bootleg Series Vol. 11: The Basement Tapes – Raw ein eigenes Album. Grundsätzlich sind diese ersten Bootleg Series zunächst noch an Dylan-Fans gerichtet. Um so interessanter also, dass The Bootleg Series 1-3, ohne weiteres auch als reguläre Karriereübersicht – als Best Of – funktionieren könnte. Es zeigt sich, was für ein kompletter Künstler Dylan über einen so langen Zeitraum war. Im kommenden Jahr würde er auf den beiden Alben Good As I Been to You und World Gone Wrong teilweise archaisches Fremdmaterial covern – auch eine Art Rückblick – dann auf seine Vorbilder, um dann 1994 mit Time Out of Mind mit fabelhaftem neuen Material den nächsten Höhepunkt seiner Kunst anzusteuern.