In Großbritannien weitet sich die Rinderseuche BSE (der sog. Rinderwahnsinn) aus – ist das ein Zeichen? Durch das Schengener Abkommen werden zwischen den Beneluxländern, Deutschland und Frankreich offene Grenzen geschaffen und Handel und Reisen erleichtert. Akihito wird japanischer Kaiser. Erstmalig findet das Wacken-Open Air Festival, DAS Heavy Metal Festival in Deutschland statt. Und Deutschland wird zum dritten Mal Fußballweltmeister – die Welt ist wieder in Ordnung. Del Shannon, Art Blakey, Stevie Ray Vaughan und Tom Fogerty sterben. Musikalisch bewegt sich zum neuen Jahrzehnt einiges von Interesse. Der sog. „Independent Rock“ macht große Schritte Richtung Mainstream – oder nähert sich dieser vielleicht der Musik des Untergrund an? Und sofort spricht so mancher Hipster reflexhaft vom Ausverkauf. So machen Sonic Youth ihre „kommerziellste“ Platte – zum Entsetzen der Alt-Fans auf einem Major-Label. Madchester und Shoegaze kommen in Fahrt und die entsprechenden Alben verkaufen sich. Mich beeindruckt, wie Death- und Thrash-Metal Klassiker im Monats-Rhythmus erscheinen – und auch da wird sofort vom Sell-Out geredet. Überhaupt erhält der sog. „Metal“ mit all seinen Ausprägungen immer mehr Akzeptanz… vielleicht weil er – wie sein Bruder Hardcore – auf Pop-Musik zugeht? Oder weil sich Pop auf härtere Musik zu bewegt – oder weil Musik-Konsumenten jetzt Bereiche neben dem langweiligen „Mainstream“ der Achtziger beachten? Auch im HipHop tut sich einiges – ich verweise nur auf Public Enemy und Daisy Age. Und als Solitär gibt es das Debüt der La’s und Neil Young läutet das Jahrzehnt mit einem feedbackgetränkten Return to Form ein… Kurz: Das Jahrzehnt beginnt vielversprechend, zwar ist manches nur ein Nachhall der 80er, aber es riecht irgendwie nach Aufbruch – wobei sich in den Neunzigern Eines nicht ändern wird: Schlechte Musik besetzt weiterhin Charts und Format-Radio. Vanilla Ice’s und MC Hammer’s Pseudo-Hip Hop, Michael Bolton’s AOR Schlock oder der Tanztruppen-Pop der zusammengecasteten New Kids on the Block werden von Millionen gefressen – aber das interessiert hier genauso wenig wie das Debüt von Mariah Carey oder der sich ach-so-independent gebende Radiopop von InXS….
Public Enemy
Fear Of A Black Planet
(Def Jam, 1990)
Mit Fear of a Black Planet kam zu Beginn der neuen Dekade die dritte LP von Public Enemy, und zwei Jahre nach ihrem Meisterwerk It Takes a Nation of Millions.. war die Frage: Wie extrem würden Public Enemy jetzt noch werden können? Professor Griff hatte durch antisemitische Äußerungen im Vorfeld der neuen LP unangenehm Aufmerksamkeit erregt, aber würde es wieder einen politischen Rundumschlag gegen Alle und Jeden geben? Aber natürlich – genau Das: „Welcome to the Terrordome“ tritt ein weiteres mal gegen die Jewish Community aus, „Burn Hollywood Burn“ greift den Rassismus in der Unterhatungsindustrie an, Public Enemy beißen nach allen Seiten und sind dabei je nach politischer Position des Hörers geschmacklos oder furchtlos. Musikalisch ging all das allerdings auf dem höchsten Niveau vonstatten, das Public Enemy je erreichen sollten, denn zu diesem Zeitpunkt in der Musikgeschichte durften Musiker noch sampeln, wen immer sie wollten – die rechtliche Lage zur Verwendung von Fremdmaterial war noch nicht endgültig geklärt und man musste nichts dafür bezahlen, Samples von Stücken anderer Musiker zu benutzen – und Public Enemy waren seinerzeit ganz einfach Meister darin, aus fremder Musik etwas Eigenes zu schaffen. Was das angeht, ist Fear… zusammen mit Paul’s Boutique von den Beastie Boys die ausgefeilteste Platte, die es jemals gab. Kurz: Musikalisch vollkommen überzeugend, eines aus der schmalen Reihe der besten HipHop LP’s aller Zeiten, aber textlich manchmal so nah am Unerträglichen, dass es schwer ist, dieses Album zu mögen. Seltsam ist doch, dass Public Enemy wegen ihres politischen Extremismus nie in dem Maße verurteilt wurden, wie es bei einigen Metal Acts üblich war.
Happy Mondays
Pills ’n‘ Thrills And Bellyaches
(Factory, 1990)
Das dritte Album der Happy Mondays ist gemeinsam mit Screamadelica von Primal Scream und dem Debüt der Stone Roses DAS klassische Rave-Album. Diese LP ist eine einzige Party, und sie steht für Drogen, Sex und puren Hedonismus. Die Produzenten Paul Oakenfold und Steven Osbourne legten musikalisch eigentlich Alles fest – den Sound, die Songs, die Atmosphäre – aber ihren kraftvollen, rhythmischen Punch und die herrlich bekiffte Lässigkeit bekamen die Happy Mondays allein durch Shaun Ryders benebelten Gesang. Der größte Hit der Band, „Step On“ war eigentlich eine Coverversion von John Congos‘ „He’s Gonna Step On You Again“, aber durch Ryders Gesang und den kraftvollen Groove der Happy Mondays wurde er unzweifelhaft ihr eigener Song. Auch „Kinky Afro“ basiert auf dem geklauten Melodiebogen von LaBelles „Lady Marmelade“ – aber auch hier – durch den Text von Ryder bei dem der Sohn den Vater verspottet, der die Familie verlassen hat – machen sie daraus ihr völlig eigenes Ding. Pills ’n‘ Thrills … ist eingängiger und subtiler als der auch nicht so üble Vorgänger Bummed und nicht umsonst eine der prägenden Platten des Rave-Booms – und somit eine der wichtigsten Platten aus dem Großbritannien jener Zeit… Bands wie Oasis und The Verve haben sich hier definitiv einiges abgeschaut, und wenn die Musik heute weniger „aktuell“ klingt… das wird sich auch wieder ändern. Interessant übrigens: Das Album erschien auf Factory Records, dem Label von u.a. Joy Division/New Order.
Neil Young & Crazy Horse
Ragged Glory
(Reprise, 1990)
Ragged Glory ist eigentlich eine seltsame und in Manchem untypische LP für Neil Young. Er hatte mit Freedom ein Jahr zuvor seine wütendste und engagierteste LP seit Jahren gemacht, und nun klang er auf einmal wieder warm, herzlich und – wenn man es genau betrachtet – rückwärtsgewandt. Andererseits hat das Album durch das ausgiebige Nutzen von Feedback und Distortion-Sounds und durch ellenlange Gitarrensoli, die allerdings eher dem Sound als der Virtuosität verpflichtet sind, einen extremen und zugleich angenehm homogenen Sound. Das Album ist mit 10 Songs in 60 Minuten lang (im Original auf nur EINER LP!) aber nie langweilig – und in der neuen Kombination altbekannter Elemente dann doch wiederum neu für Neil Young & Band. Mit seinen alten Kollegen von Crazy Horse – der besten Garagen-Band der Welt, wie man durchaus zu Recht sagt – nahm er zwei Songs aus den 70ern erstmals auf LP auf: „Country Home“ und „White Line“. Dazu den alten Garagenklassiker „Farmer John“ und das psychedelische „Mansion on the Hill“. Das alles waren Songs, die die alte Zeiten feiern, die aber durch das exzessive Spiel mit Feedback und den lärmenden Sound von Crazy Horse nie altbacken oder beliebig, sondern elegisch und zugleich erfreulich aggressiv klangen – und damit den Zeitgeist trafen. Man höre nur „F*l#in‘ Up“ – und erkennt, warum tausende junger Slacker hier Neil Young (wieder-)entdeckten. Die hier etablierten Sound-Orgien sollte Young und seine Kumpanen in den folgenden Jahren – insbesondere Live – vorantreiben. Und die würden ihm ein neues, junges Publikum zuführen. Ja, Neil Young war mit 45 Jahren eindeutig auf dem Weg, wieder cool zu werden.
The La’s
s/t
(Go! Discs, 1990)
The La’s waren schon im Jahr 1987 von Go! Discs unter Vertrag genommen worden, hatten in den Monaten danach zwei Singles veröffentlicht, die von Kritikern bejubelt, aber zunächst vom Publikum ignoriert wurden. Schon seit 1988 hatte die Band um den Sänger, Gitarristen und Songwriter Lee Mavers an ihrem Debüt gearbeitet und im Verlauf des Aufnahmeprozesses die Produzenten John Porter, Gavin MacKillop, John Leckie, Bob Andrews, Jeremy Allom und Mike Hedges (!!) verschlissen. Schuld daran war der Perfektionismus von Mavers. Seine Musik, in der man Einflüsse aus den 60ern ebenso wiederfand, wie den Sound der Smiths, mag trügerisch simpel klingen, aber die Songs sind Kleinode der Pop-Musik und es ist ein Jammer (… und bezeichnend für seinen Kontrollwahn), dass Mavers nach diesem Album bis heute keinen Nachfolger zu diesem Klassiker fertigbrachte. Und auch die Veröffentlichung von The La’s in der von Steven Lillywhite produzierten Form erfolgte nur auf Druck der Plattenfirma, gegen den Willen des Sängers: Der war vollkommen unzufrieden und nannte die LP „einen Haufen Scheiße“. Eine Meinung, mit der er inzwischen wohl ziemlich alleine steht, wenn man dann Songs wie „Son Of a Gun“ oder das unsterbliche „There She Goes“ hört. Letzeres ist eine der schönsten Singles der 90er – und ein Song, der bis heute bei etlichen Serien und Kinofilmen verwendet wurde. Mavers jedoch ließ sich in seinem Unmut nicht dazu herab, nach diesem Album noch irgendetwas zu veröffentlichen. Zwei Jahre später verließ der einzige verblieben Mitmusiker die Band, weil er keine Lust mehr hatte, ewig dieselben Songs zu spielen und Mavers köchelte jahrelang alleine vor sich hin. Wie gesagt – bis heute gibt es keine neue Musik der La’s – und auch eine späte Wiederkunft – wie die von My Bloody Valentine etwa – ist nicht zu erwarten. Schade, aber irgendwie wäre es inzwischen auch wirklich zu spät – oder? Und irgendwie hat so ein Solitär ja auch seinen Reiz.
Slayer
Seasons In The Abyss
(Def American, 1990)
Nachdem sie mit South of Heaven musikalisch neues Territorium betreten hatten, kehrten Slayer auf Seasons in the Abyss wenigstens zum Teil zum Sound und zur Schnelligkeit ihres Über-Klassikers Reign in Blood zurück. Es gab zwar durchaus noch die Mid-Tempo-Grooves des Vorgängers, die Songs bekamen nicht mehr die durchaus positive Hardcore-Kürze, dauern hier auch mal 6+ Minuten, aber Seasons.. verbindet in meinen Augen der besten stilistischen Bestandteile beider Alben und wurde daher wieder sehr erfolgreich. „War Ensemble“ und der Titeltrack präsentieren beide Seiten der Band mit rasenden Thrash-Parts und treibenderen, langsameren Passagen. Seasons.. ist durch die perfekte Produktion – wieder von Rick Rubin – und dadurch,dass die Band all ihre Fähigkeiten und Erfahrungen nutzte, eines der genießbarsten Alben von Slayer. Textlich war man nun nicht mehr ganz so extrem und politisch unkorrekt, wie bei manchen leicht misszuverstehenden Songs auf dem Klassiker Reign in Blood. Jetzt beschäftigte sich die Band eher mit dem alltäglichen Horror, es gab sogar so etwas wie Gesellschaftskritik – und vor Allem ging es um Krieg, Mord und den damit verbundenen Wahnsinn – irgendwie trotzdem Slayer eben. Der Opener „War Ensemble“ mit den Textzeilen „The final swing is not a drill/It’s how many people I can kill...“ mag exemplarisch zeigen, wie hier die Themen gesetzt werden. Ähnlich wie Metallica’s Master of Puppets.(von ’86) oder Megadeth’s Peace Sells…, (auch ’86) zeichnet Seasons in the Abyss die USA unter der Reagan Administration mit einem gewissen zynischen Spaß als einen Ort von Korruption und Grausamkeit, und ist dabei so hart und effektiv wie man es von Slayer erhofft hatte. Und wie bei den beiden genannten Bands war dieses Album der etwas verspätete Höhepunkt – und damit der finale Punkt in der Entwicklung des Thrash. Insbesondere Slayer und Metallica haben danach zwar größere kommerzielle Erfolge gefeiert – aber mit diesen Alben haben sie Thrash ausformuliert. Dahinter war schon längst die nächste Stufe gezündet worden: „Death Metal“.
Cocteau Twins
Heaven Or Las Vegas
(4AD, 1990)
Hier haben wir die Band, die wie kaum eine Andere mit dem 4AD Label verbunden wird. Weil sie mit ihrem Sound aus verwaschenen Gitarren, ätherischem Gesang und intelligenten Songs den Typus Dream Pop definierte, der für dieses Label von Beginn an so charakteristisch war. Weil sie diesen Sound auch äußerst erfolgreich verbreitete – und weil sie mit ihrem Cover Design den typischen 4AD Act präsentierte. Mit ihrem sechsten Longplayer (…neben etlichen EP’s von höchster Klasse!!) versuchten die Cocteau Twins hier etwas zugänglicher zu werden – und ließen Licht in ihre Welt. Heaven Or Las Vegas wurde das letzte Album der Band für 4AD – und es wurde ihr kommerziell erfolgreichstes. Der Sound auf diesem Album wurde klarer, insbesondere Elizabeth Frasers Vocals wurden fast verständlich, die Songs bekamen Struktur, Intro und Outro, klangen dadurch fast wie Live-Versionen, und Chords und Harmonien wurden lichter. Robin Guthries Gitarren klangen klarer, der Sound näherte sich dem der seelenverwandten Shoegazer Slowdive an, und durch einen prägnanteren Bass-Sound gewannen manche Songs zusätzlich an Kontur. Aber natürlich blieben die Wurzeln der Band im Dream-Pop weiterhin so vernebelt wie gewünscht. Heaven or Las Vegas ist eine wunderbare Melange aus Gothic und Shoegaze. Schon allein Liz Fraser’s Stimme hielt die Band in ihrem Koordinatensystem, weil sie für Shoegaze ZU charakteristisch nach sich selbst klang. Aber die Gewichte waren jetzt ein wenig mehr Richtung Pop und Rock verschoben. Songs wie der Opener „Cherry Coloured Luck“ und das Titelstück haben Pop-Appeal ohne platt zu klingen. Dazu kamen noch kraftvolle Songs wie „Fotzepolitic“ und als Abschluss „Frou Frou Foxes in Midsummer Fires“, die Heaven or Las Vegas durch ihre Verbindung von weissem Rauschen und Pop-Schönheit zu einem der besten Alben dieser Band zu machen.
Jane’s Addiction
Ritual De Lo Habitual
(Warner Bros., 1990)
Das heute etwas in Vergessenheit geratene Album Ritual De Lo Habitual der L.A.-Band Jane’s Addiction ist ein Bindeglied zwischen verschiedenen Phasen und Stilrichtungen der Rockmusik der beginnenden 90er. Diese seltsame, an die Hippie-Kultur der Sechziger gemahnende Band war in dem damals unbestellten Feld irgendwo zwischen Funk-Rock und Psychedelia unterwegs. Jane’s Addiction waren nicht so dreckig wie Grunge, nicht so tuntig wie Hair Metal-Ärgernisse wie Cinderella und vor allem klangen sie auf dieser, ihrer letzten LP für lange Jahre, viel zu psychedelisch für ihre Zeit. Gitarrist Dave Navarro, der später zu den nicht ganz un-ähnlichen Red Hot Chillie Peppers wechseln sollte, legte schimmernde Gitarren-Sounds und Texturen über die Songs. Perry Farrell sang mit seiner charakteristischen, immer etwas unsicher klingenden Stimme, die eigentlich nicht zu dieser Art Musik passen wollte. Insbesondere die zweite Seite der LP mit dem Stairway to Heaven-artigen “Three Days“ und dem von fernöstlicher Musik beeinflussten „Of Course“ sowie der MTV-Hit „Been Caught Stealin’“ waren mit das Beste, was diese Band jemals zuwege brachte. Die Musik von Jane’s Addiction hat die Zeit und die Moden seltsamerweise (…und bisher…) nicht so gut überstanden – sie scheinen im Rückblick, vielleicht wegen ihrer Ungefährheit und wegen ihres unkrediblen damaligen kommerziellen Erfolges irgendwie halbherzig. Man meint, Ihre psychedelischen Facetten wären nicht „authentisch“ und wären nur angestaubte Zitate – aber es lohnt sich, genauer hinzuhörenJane’s Addiction haben feine Songs und einen unnachahmlichen Stil. Sie klingen wie nichts anderes, weder wirklich nach ’68 noch wie Bands ihrer Generation und irgendwann wird dieser Crossover-Sound vermutlich auch sein Revival erleben.
Pet Shop Boys
Behaviour
(Parlophone, 1990)
Die Pet Shop Boys waren in den Jahren vor ’90 als Singles-Band bekannt und erfolgreich geworden. Hier, auf ihrem fünften Album Behaviour, wurde erstmals deutlich, dass sie mehr waren, als nur Hitfabrikanten – und dass ihre Alben mehr sein konnten als eine Ansammlung von Singles mit ein paar Fillern. Nun wurden die Dance-Rhythmen mit regelrechten „Songs“ besetzt, der Sprechgesang Neil Tennants wurde melodischer, die LP bekam sogar eine Art Konzept. Behaviour ist eine Herbst-Platte, harmonisch, voller träger Eleganz und dekadenter Melancholie. Es ist der Soundtrack zum Ende der Achtziger und zum Ende der Unschuld und des Hedonismu – und die Sehnsucht nach der Freiheit und Unbesorgtheit der Jugend ist zumindest unterschwellig in jedem Song verborgen. Insbesondere – und regelrecht programmatisch – in einem der besten Songs der Pet Shop Boys überhaupt: „Being Boring“ verbindet eine wunderbar elegante und melancholische Melodie mit dem Bedauern über die vergangene Jugend und den verlorenen Spaß, und es beinhaltet den Dreh, den sie die folgenden Jahre so häufig anwenden würden: Die beiden inzwischen schon über 30 Jahre alten „Boys“ stellten sich als die weltmüden, erfahrenen Ex-Partygänger dar, die sie inzwischen wohl auch waren. Und andere wunderschöne Songs wie „Jealousy“ oder „So Hard“ und „This Must Be the Place…“ machen Behaviour zum Rubber Soul der Pet Shop Boys. Sie gingen den Weg der konzeptuellen Pop-Musik dankenswerterweise weiter, dieses Album ist nur der erste echte Beweis für ihre Klasse. Weitere sollten folgen.
Depeche Mode
Violator
(Mute, 1990)
Oft als ihr bestes Album bezeichnet, ist Violator – das schon siebte Album der einstigen Synth-Pop Kinder von Depeche Mode – eine dunkle, minimalistische Platte, die mit ihrer Atmosphäre in krassem Widerspruch zu Etlichem stand, was 1990 kommerziell erfolgreich war. Und gleichzeitig zeigt Violator Depeche Mode in Hochform. Heute wird es oft als Singles/Best of-Album wahrgenommen, da die Anzahl der Hit-Songs, die man mit dieser Band verbindet, so groß ist. Es reicht eigentlich, die Titel zu nennen: Da sind „World In My Eyes“, „Personal Jesus“, „Policy of Truth“ und natürlich „Enjoy the Silence“ – Songs die sowohl durch ihre Ohrwurm-Qualitäten als auch durch die dazugehörigen Videos von Anton Corbijn zu Klassikern der Populärmusik geworden sind. Und wirklich unersetzlich machen die unbekannteren, nicht als Singles veröffentlichten Tracks dieses Album. Denn die sind genauso atmosphärisch, kühl und gravitätisch und – wie alles, was sie zu dieser Zeit produzierten – von einer reizvollen, kalten Perfektion. Die End-Achtziger und frühen Neunziger waren die Jahre, in denen es Depeche Mode mühelos gelang Anspruch, Innovation und kommerziellen Erfolg miteinander zu verbinden. Man muss sie auch hören – das Album als komplette Geschichte betrachten: „Happiest Girl“, „Sea of Sin“ oder „Dangerous“ sind tatsächlich objektiv genauso gut wie die bekannten Hits. Und es gab auch Neues und ungewohntes auf diesem Album: Erstmals gelang es Depeche Mode auf Violator die Balance zwischen Synthie- und Gitarrensounds perfekt auszutarieren. Eine Balance, die ihren Sound danach lange Zeit definieren sollte. Zusammen mit dem ikonografischen Sleeve Design – ebenfalls vom Freund der Band Anton Corbijn – ist Violator das essenzielle Depeche Mode Album.
Nick Cave & The Bad Seeds
The Good Son
(Mute, 1990)
Der Nachfolger von Tender Prey wurde zur Zeit seiner Veröffentlichung von denjenigen, die Nick Cave bisher bewundert hatten, als eine Art Sell-Out angesehen. Anscheinend glaubten viele Musik-Konsumenten seinerzeit, dass der Versuch eines Künstlers wie Cave, kommerziellen Erfolg mit seiner Musik zu haben, verwerflich ist – insbesondere wenn er von „Indie“ Instanzen wie Sonic Youth (siehe weiter unten…) oder eben Cave (Ex Birthday Party, entfesselter Performer und Drogenwrack…) kam.. Dabei wollte der Mann sich eigentlich nur mehr auf die dunkle, introspektivere Seite seiner Kunst besinnen, seinen auch vor diesem Album schon ausgelebten literarischen Ambitionen ein anderes, ihm passender erscheinendes Kleid umlegen. Nicht, dass er das noch nie getan hätte, es hatte immer wieder Beispiele für diese Art von Texten und Musik von ihm gegeben. Aber die Mittel dazu wurden nun mit mehr Kosnquenz eingesetzt: Das sanfte Crooning und die Strings auf dem Opener “Foi Na Cruz“ erwischte einige Hörer kalt. Der darauf folgende Titeltrack sollte dann typisch für das ganze Album sein: Die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn, aus der Perspektive des anderen Sohnes, der seine Pflicht erfüllt hatte… und das letztlich doch bereuen soll. Das elegante, reflektive „Lucy“ und das zuerst stakkatohafte, dann fließende „Lament“ sind im Nachhinein weitere Highlights, Im Zentrum jedoch stehen „The Weeping Song,“ eine großartiges Duett von Cave und Blixa Bargeld, das fast wie Gene Pitney’s „Something’s Gotten Hold of My Heart,“ beginnt (übrigens von den Seeds auf Pricks… gecovert) und „The Ship Song,“ der eine Liebeserklärung an den bewunderten Scott Walker ist. Das alles war neu – und wurde – wie so vieles in 1990 – von elitären Dummköpfen als eine Art Sell-Out gesehen. Aber wer klug war, erkannte schon damals den Sinn und die Klasse hinter Cave’s neuem musikalischem Ansatz. Ein Ansatz, der Cave bis weit ins kommende Millenium – und zu einem erstaunlichen und verdienten kommerziellen Erfolg tragen würde Und so kann man The Good Son tatsächlich als Nick Cave’s ersten Schritt in den Mainstream bezeichnen.
Angelo Badalamenti
Soundtrack from Twin Peaks
(Warner Bros., 1990)
Nun – die Serie Twin Peaks IST hohe Pop-Kultur. Und dass der Soundtrack zum Film/zur Serie durchaus auch Bestandteil des Gesamtkunstwerkes ist, konnte man hoffen. Aber dass Klassik-Komponist Angelo Badalamenti mit diesem Soundtrack ein eigenständiges Stück Musik/Album gelingen könnte, das ich in den Adelsstand erhebe, ist dann doch ungewöhnlich. Badalamenti gelang es, aus Klassik- und Jazz-Versatzstücken, Lounge Music und einer kräftigen Dosis Dream Pop Musik zu machen, die zum Einen perfekt in diese undurchschaubare, optisch und atmosphärisch dichte Serie passte, die aber eben auch beim Hörer als eigenständige Songabfolge enorme Spannung erzeugt. Twin Peaks – die Serie von Kult Regisseur David Lynch – war allein schon revolutionär. Sie ist ein Vorläufer der in den 2010ern so erfolgreichen Netflix Serien. Der Soundtrack from Twin Peaks schafft mit Synthesizern, Orchester und verlangsamten Jazz-Rhythmen eben auch etwas revolutionäres: In 10 Jahren nennt man das Darkjazz und Bands wie das Kilimanjaro Darkjazz Ensemble werden ausformulieren, was sie auf diesem Soundtrack fanden. Mit den drei Dream Pop Tracks mit Sängerin Julee Cruise kommt eine Dosis Abwechslung in die Tracklist, die die somnambule Atmosphäre der Instrumental-Tracks aufwühlt. Badalamenti hatte vier Jahre zuvor mit der Sängerin gearbeitet – beim auch von David Lynch regierten Kino-Hit Blue Velvet. Nun hatte die Chanteuse einen Auftritt im Film und mit dem großartigen (und schlau platzierten) Album-Closer „Falling“ den Hit ihres Lebens. Der ist nicht nur die Krönung einer Tracklist – es ist auch ein Song, wie ihn sich die Cocteau Twins nicht besser ausdenken könnten. Und dass dieser Song neben den anderen beiden Vocal Tracks nicht das einzige Highlight ist – dass dieses Album kontinuierlich Spannung aufbaut und dass die Instrumentals „Twin Peaks Theme“, „Laura Palmer’s Theme“ oder „Dance of the Dream Man“ ähnlich gut funktionieren, wie so manches Instrumental von Göttern wie Godspeed You Black Emperor!, muss gesagt sein – auch um den Begriff Post Rock mal ins Spiel zu bringen. Dieses Album begeistert mit Recht bis heute.
Sonic Youth
Goo
(D.G.C., 1990)
Und nun der letzte Beweis dafür, dass „Indie“ in diesem Jahr mit Macht in den „Mainstream“ drängt. Denn Goo ist das „Hit-Album“ von Sonic Youth. Nach dem künstlerischen Erfolg ihres Magnum Opus Daydream Nation wurde dieser der Kommerzialiät völlig unvedächtigen Band nun vorgeworen, dass der kommerzielle Erfolg auf einem Major Label erzwungen werden sollte – schließlich waren die vier musiker ja auch als Talent-Scout für den Major tätig!!. Tatsächlich zeigt Goo Sonic Youth mit einem gewissen Pop-Appeal, was zur Zeit des Grunge-Hypes natürlich genau das Richtige war – so wie Sonic Youth in ihrer Karriere erstaunlich Vieles richtig gemacht haben. Es gibt klare Verse-Chorus-Verse Strukturen, es gibt Songs die irgendwie cool waren, – richtig cool, wie die Riot Grrrl Hymne „Kool Thing“ (sic) -featuring Chuck D von Public Enemy – noch mal cool….. oder die kurze Spielerei „My Friend Goo“ mit J Mascis‘ (Dinosaur Jr.) Stimme im Hintergrund, oder die Grunge-Pastiche „Mildred Pierce“. Da ist „Tunic (Song for Karen)“ mit dem sie der von ihnen verehrten Sängerin Karen Carpenter, die sich dereinst zu Tode hungerte, ein Denkmal setzten und mit dem sie zugleich die Musik der Carpenters aus der uncoolen Ecke herausholten. Und – „Thank god or whoever“ sagen alle älteren Fans – es gab auch Noise Ausbrüche in „Mote“ oder „Titanium Expose“. Es war alles da, um so etwas wie Erfolg zu bekommen (in dem für eine Band wie Sonic Youth möglichen Rahmen). Manche Zweifler an ihrer Integrität werfen Sonic Youth und Goo einen Mangel an Spannung, an Kraft und Konsequenz vor. Wenn das stimmte, dann wäre Goo vielleicht wirklich ein Sell Out. Ich teile diese Ansicht aber nicht, und wenn es doch stimmen sollte, dann ist dies Sell Out in seiner (ich hör‘ ja gleich auf…) coolsten Form. Cooles Cover übrigens…