Das Wichtigste aus 1984 – Der Wald stirbt und in Bhopal sterben Menschen – Metallica bis Coil

Die Jahreszahl 1984 ist auch der Titel des dystopischen Romans von George Orwell – und aus diesem Anlass beschäftigen sich in diesem Jahr tatsächlich viele Medien mit Datenschutz und staatlicher Überwachung – Jahre vor der Allgegenwart des Internet mit seiner digitalen Transparenz.

Der Waldzustandsbericht in Deutschland bescheinigt, dass 50 % des Waldes geschädigt sind – aber wirklich daran glauben wollen eigentlich nur sogenannte alternative Spinner. In der Stadt Bhopal in Indien sterben Tausende bei einem Giftgasunfall (Schuldig: die US-Chemie Firma Union Carbide Corp. – auch heute noch unter anderem Namen erfolgreich), die Indische Ministerpräsidentin Indira Gandhi wird bei einem Attentat umgebracht. Der AIDS-Erreger wird genetisch entschlüsselt. Dürren und Missernten in Äthiopien führen zu Hunderttausenden von Toten. US-Präsident Reagan verkündet vor einer Wahlveranstaltung beim Mikrophon-Check im Scherz die Bombardierung der UdSSR – und Alle hören mit. Marvin Gaye wird von seinem eigenen Vater bei einem Streit erschossen. Count Basie und Jackie Wilson sterben immerhin eines natürlicheren Todes. 1984 ist wie oben gesagt eine bedeutungsvolle Jahreszahl, es ist ein Jahr, in dem einige der für die 80er typischsten Künstler (Bruce Springsteen, Madonna, Prince) ihre kommerziell erfolgreichsten Platten veröffentlichen, aber auch ein Jahr in dem einige der kommenden Klassiker des sog. Independent-Rock erscheinen. The Smiths, Hüsker Dü, The Replacements, Minutemen, alles Bands mit Platten, die sich als zeitlose Klassiker erweisen werden. Metallica haben in den Jahren zuvor den Thrash-Metal erfunden und liefern jetzt einen seiner Höhepunkte ab, Sade verbindet Jazz auf’s angenehmste mit Soul, und löst eine kleine Jazz-Pop Welle aus, Frankie Goes to Hollywood sind eine Saison lang DAS Ding in der Popmusik, auf der Seite der E-Musik erscheint Arvo Pärts Tabula Rasa, eine Platte mit klassischer Musik auf einem Jazz Label, die immensen Einfluß auf experimentelle Musik haben wird. Aber – es ist auch die Mitte der 80er und neben den genannten Highlights gibt es auch etliche Peinlichkeiten. Yes‘ „Owner of a Lonely Heart“ wird Radiosenungen genauso verstopfen wie Tina Turner’s Comeback und Phil Collins‘ blöde Popmusik. Oder der Soundtrack zum unsäglichen Film Footloose – mir bis heute ein Rätsel, warum so etwas palettenweise verkauft wird. Und dann säuseln etliche abgehalfterte Pop-Stars gemeinsam voller Bewunderung für die eigene Güte ein Lied titels „Do They Know Its’s Christmas?“ und verseuchen damit die nächsten 30 Jahre weihnachtliche Wohnzimmern. Dann doch lieber…

https://music.apple.com/de/playlist/der-gro%C3%9Fe-rockhaus-1984/pl.u-8aAVVyaso1eBM48

Metallica
Ride The Lightning

(Music For Nations, 1984)

Cover – Ad Artists

… und hier als erstes das Album, das in den kommenden Jahren als Gussform für (gelungenen) Thrash Metal stehen wird – wobei man Master of Puppets – den Nachfolger von Ride the Lightning – meinetwegen auch noch über dieses Album stellen könnte. Aber warum wählen…? ich besitze, liebe und höre schließlich beide Alben. Die Erwartungen an Metallica waren nach dem gelungenen Debüt ziemlich hoch, die Band hatte durch extensives Touren inzwischen einiges an Kraft und Reife gewonnen, nun gingen sie zur Produktion ihres zweiten Albums nach Dänemark, zum respektierten Produzenten Fleming Rasmussen – vermutlich hatte Drummer Lars Ulrich- selber dänischer Abstammung – da auch seine Finger im Spiel – und sie setzten all ihre neu gewonnene Erfahrung und ihr Talent ein, um den Erwartungen gerecht zu werden. Und auch im Studio hatten Metallica sich auf der ganzen Linie verbessert. Das Songwriting auf Ride the Lightning ist (fast) durchgehend auf hohem Niveau. Sie fanden zu einer gelungene Mischung aus Kraft, Schnelligkeit und Komplexität, James Hetfield hatte inzwischen in seine Rolle als Sänger gefunden, er schien die Limitierung seiner Stimme zu akzeptieren und nutzte sie als Stilmerkmal – und beeinflusste damit etliche andere Sänger. Kirk Hammett, der zunächst „nur“ Ersatz für den Gitarristen Dave Mustaine war, spielte immer einfallsreicher und durfte jetzt auch komponieren – auch wenn der Titelsong des Albums und das Instrumental „The Call of Ktulu“ noch in der Zeit vor dem Debüt von Mustaine mit-komponiert worden waren. Bassist Cliff Burton zeigte im Instrumental ein weiteres mal, was für einen großen Bassisten die Welt verlieren würde, und die ganze Band ging virtuos mit dem komplexen Material um. Ride the Lightning lebt aber vor Allem von den drei als Single ausgekoppelten Thrash Klassikern “Fade to Black“, „Creeping Death“ und „For Whom the Bell Tolls“. Diese Songs sind bis heute Klassiker des Metal – egal welchen Mikro-Genres – und es sind dementsprechend Songs, die die Band bis heute (Jahrzehnte später) auch live spielt. Nur im Vergleich mit diesen Songs verliert das restliche Material leicht – auch wenn weniger talentierte Bands für einen Song wie„Trapped under Ice“ vermutlich morden würden. Man sollte sich hierbei eines vor Augen halten: Das Album erschütterte zunächst „nur“ die Welt der Metal-Fans, noch waren Metallica nur Hoffnungsträger in einer Sparte, die zu dieser Zeit recht hermetisch war. Metal war nur für Eingeweihte „cool“, noch gab es keinen Mainstream-Erfolg. Aber wer hinhörte, konnte erkennen, dass hier noch einiges zu erwarten war. Für Fans harter Musik gehört dieses und das folgende Album bis heute zu Recht in den Kanon der Klassiker.

Prince and The Revolution
Purple Rain

(Warner Bros., 1984)

Front Cover Foto – Ed Thrasher Associates

Meiner Antipathie gegen Michael Jackson gebe ich gerne hier und da Ausdruck. Aber er war nicht allein der Grund, aus dem ich seinen damaligen Gegenpol Prince geliebt habe. Das kleine Genie aus Minneapolis hatte alles, was Michael Jackson ab Thriller vermissen ließ. Als Prince Rogers Nelson geboren hatte Prince Mitte der Siebziger in der Band seines Bruders angefangen, ’78 ein erstes, wenig beeindruckendes Solo-Album gemacht – und ab dann die Qualität seines Outputs mit beeindruckender Kontinuität gesteigert. Schon das 1980er Album Dirty Mind war funky Dance-Pop mit Stil, das ’82er Psychedelic Synth-Funk-Meisterwerk 1999 war dann ein Gipfel, von dem man nicht erwartete, dass er überstiegen werden könnte. Aber Prince hatte eine Vision: Er stellte seine Band The Revolution zusammen, drehte den kultigen Film Purple Rain und schuf dazu einen Soundtrack, der musikalisch so facettenreich und kraftvoll war, wie Michael Jackson es sich nicht einmal hätte erträumen können. Dass der Typ im Gegensatz zum Tanzpüppchen Jackson alle Instrumente auch hätte selber einspielen können, ist da nur Beiwerk. Auf Purple Rain konzentrierte er sich auf seine Gitarre und ließ die alten Meister blass aussehen. Dazu klang seine äußerst charakteristische Stimme nie besser als hier: Er kreischte, schrie, croonte, wechselte die Stimmlagen und klang wie aufgezogen. Dazu kamen neun Songs, von denen jeder einzelne als Single getaugt hätte. Schon der passend „Let’s Go Crazy“ genannte Opener wurde zum Klassiker und leitet auf perfekte Weise in das Werk des Prinzen ein. „When Doves Cry“ ist ein Gitarren-Monster mit fantastischer Melodie, enorm tanzbarem Rhythmus und einem Minimalismus, den sich sein Wacko Jacko bei seinen generalstabsmäßig geplanten „Charts-Produkten“ nie getraut hätte. Und der Titeltrack… Auf der LP wird dieses majestätische Stück Funk-Rock auf fast neun Minuten ausgewalzt – und keine Sekunde ist unnötig. Der Gesang, das Gitarren-Solo (…tatsächlich eines, das man sich anhören kann…!)… alles perfekt ausbalanciert und voller Seele. Ein Song der Leidenschaft blutet. Prince war ’84 überall zu finden. MTV ergoss seine Songs in Heavy Rotation über das Volk – und das Volk hörte zu. Dass Prince dann mit Parade (’86) und vor Allem mit Sign O‘ The Times (’87) noch nachlegte, macht ihn zu einem der ganz großen Künstler der 80er.

Sade
Diamond Life

(Epic, 1984)

Cover-Foto – ein gewisser Chris Roberts

…wer sich die vorgestellten Alben des Jahres ’84 in dieser Reihenfolge anhören würde, der bräuchte jetzt etwas Entspannung. Und da wäre das Debüt der famosen Sade Adu und ihrer Band die perfekte Wahl. Die in Nigeria geborene Britin Helen Folasade Adu hatte zunächst eine veritable Karriere als Model gemacht. Aber das oft genug fragwürdige Konzept des „Models, das auch singt“ trifft in ihrem Fall nicht zu. Ja – die Musik, die sie mit ihrer Band auf dem Debüt Diamond Life präsentierte war an ihre Stimme angepasst wie ein Designer-Kleid, aber ihre warme, etwas heisere und unaufgeregte Stimme mit diesen scheinbar unterdrückten Emotionen – dazu der ungeheuer coole, jazzige Background – das war zwar gewiss kalkuliert, aber es war eben auch geschmackvoll und… schön! Man kann Sade immer erkennen, sie hat eine unnachahmliche, sehr am Rhythmus orientierte Stimme, die vielleicht nicht über Oktaven reicht, die aber Gefühle so gekonnt andeutet, wie es sonst kaum jemand in der Geschichte der populären Musik konnte. Mir fällt als Vergleich höchstens die stimmlich ebenso limitiertere, wunderbare Jazz-Sängerin Julie London ein. Nur dass die nicht einen solchen „Soul“ in der Stimme hatte. Sade’s dunkles Timbre ist schlicht erotisch, und die Songs, die sie mit ihrer Band auf diesem enorm erfolgreichen Debüt präsentierte, waren so ausgefeil, als wäre da eine Veteranen-Combo am Werk. Auch hier war der kommerzielle Erfolg (Platz 2 in den britischen Charts) eingedenk solcher Songs wie „Smooth Operator“ oder „When Am I Going to Make a Living“ schlicht verdient – und sogar eine Freude. Und dass dieses Album auch bei den reinen Album-Tracks punktet – dass es einerseits fast ZU angenehm ist, aber dann doch immer wieder mit wunderbar rhythmischen Tracks wie „Hang on to Your Love“ Spannung aufbaut, macht es zu einem Meisterwerk. Sade löste eine kleine Welle von Capucino-Jazz-Alben aus. Da war auch so manches dabei, das nicht die Kaffee-Bohne wert ist. Aber über Sade lass‘ ich nichts kommen und Diamond Life und auch der Nachfolger Promise (und noch so mancher späterer Song) sind kostbare, geschmackvolle Popmusik.

David Sylvian
Brilliant Trees

(Virgin, 1984)

Cover Foto – Yuka Fujii. Hat einige Cover für David Sylvian gemacht

…apropos Geschmack: David Sylvian war zu Beginn der 80er ziemlich erfolgreich mit seiner Band Japan, und er wurde auch noch als „the most beautiful man in pop“ bezeichnet, was nicht im Geringsten mit seinen musikalischen Ansprüchen einherging. Was also tun ? Sylvian entschied sich, es so zu machen wie dereinst Scott Walker, der gerade vor ein paar Monaten – nach Jahren des Schweigens – sein neues, rätselhaftes Solo-Album veröffentlicht hatte. Band auflösen und auch ein „schwieriges“ Solo-Album machen. Das Ergebnis war Brilliant Trees und schon die Liste der Kollaborateure zeigte, wo es hingehen sollte: – unter anderem Folk/Jazz Koryphäe Danny Thompson (b), ECM-Kammer-Jazzer Jon Hassell (tr) und Kenny Wheeler (tr/Flügelhorn), Ryuichi Sakamoto vom japanischen Yellow Magic Orchestra (synths) und Can’s Holger Czukay (g, Dictaphone, French horn) – und all diese Kunsthandwerker und Künstler kreierten unter Sylvian’s Ägide gemeinsam ein Album, das den logischen Gipfel aus progressivem Pop und dämmrigem Funk mit ECM-Jazz Ästhetik und Elektronik verbindet: Das fließende „The Ink in the Well“ (mit Wheeler’s Solo), das majestätische „Red Guitar“ und der Blick in Sylvians Vergangenheit mit dem wissenden „Pulling Punches“ – so weit, so geschmackvoll. Aber trotz all der Anti-Pop Referenzen: Brilliant Trees baute dennoch zunächst den Pop Star Status seines Erschaffers aus: Es landete in den UK Charts auf einem unfassbaren Platz 3. „That was just people giving me the benefit of the doubt,“ sagte Sylvian später. „They soon knew better.“

Hüsker Dü
Zen Arcade

(SST, 1984)

Cover – Fake Name Communications… und das war Grant Hart, der Drummer und Songwriter von Hüsker Dü

Zen Arcade, das zweite Album von Hüsker Dü ist die Platte, die die Grenzen des ansonsten so hermetischen Hardcore und Punk-Genres in den USA in ganz neue Bereiche verschoben hat. Bob Mould und Grant Hart trauten sich hier einige Dinge, die man im Hardcore so noch nicht kannte: Zunächst einmal war da der Umstand, dass Zen Arcade ein Konzeptalbum ist – auch noch ein Doppelalbum – mit einem Song von über 13 Minuten Dauer. Dann gab es Experimente mit Tape Loops, es gab Pop und akustische Instrumentierung und das harder, faster, louder des Hardcore wurde ignoriert und bzw. einfach außer Kraft gesetzt. Sie hatten schon ein paar Monate zuvor mit einer halsbrecherischen Version von „Eight Miles High“ von den Byrds gezeigt, wo sie hin wollten. Hardcore sollte mit 60s Psychedelia, Folk, Rock ’n‘ Roll, Pop, gegen ihren gitarren-getriebenen Wall of Noise geschmettert werden. Denn wer dem Trio zugehört hatte, hatte vielleicht schon bemerkt, dass sie unter ihrem rasenden Lärm süße Songs versteckten. Auf Zen Arcade kamen diese Power-Songs zum Vorschein wie Klippen in der Strömung. Das unheimliche „Pink Turns to Blue“, das rasende „Something I Learned Today“ und viele andere Songs auf diesem Album haben neben der ungeheuren Dynamik auch noch Pop-Appeal – im Hardcore eigentlich undenkbar. Kaum zu glauben, dass all das in gerade mal 85 Stunden aufgenommen wurde. Kommende Generationen von Musikern sahen hier, was auch mit Hardcore möglich war und die Kollegen von den Minutemen ließen sich buchstäblich sofort beeinflussen – siehe unten…. Und Hüsker Dü hatten sich nun als Hardcore Band mit einem ganz eigenen Sound und einem sehr weiten Horizont geoutet – und SST wurde zum wichtigsten Label der Achtziger – zwei weitere Beweise folgen.

Minutemen
Double Nickles On The Dime

(SST, 1984)

Auf dem Cover sieht man Minutemen-Bassist Mike Watt, wie er exakt 55 mph fährt… besagte „Double Nickles“

Dass die meisten Menschen in den Achtzigern lieber Mötley Crue und Michael Jackson hörten, ist schon irgendwie traurig. Wirklich tragisch wird es, wenn man im Vergleich Double Nickles On The Dime, dieses Füllhorn an Ideen und Stilarten hört. Es ist das überbordende Doppelalbum einer der größten Hardcore Bands mit 45 kurzen Funk-Punk Ausbrüchen – und es ist NICHT Hüsker Dü’s Zen Arcade, sondern ein völlig eigenes, gleichwertiges Album – gesegnet sei das Jahr 1984…. Den Minutemen gelang es tatsächlich – inspiriert natürlich von dem einen Monat zuvor erschienen Doppelalbum der Label-Kollegen, das sie mit dem Satz „take that, Hüskers“ auf dem Innen-Cover kommentieren – keinen der 45 Songs überflüssig erscheinen zu lassen. Zehn Tracks als wilder Warm-up, dann ein kluger und irgendwie immer noch aktueller Monolog über Politik, Gesellschaft und das Leben in Amerika zur Zeit der Reagan-Administration. Unterlegt wird das Alles mit kraftvollem und eigenständigem Post-Punk vom großartigen D. Boon als Gitarrist und Sprech-Sänger und vom kraftvollen Bass von Co-Writer Mike Watt. Michael Jackson wird mit dem „Political Song for Michael Jackson to Sing“ gedisst, sie erinnern an ihre Einflüsse aus dem Hardcore und geben uns den Klassiker „Our Band Could be your Life“. Ein Van Halen („Ain’t Talkin‘ ‚bout Love“) – bzw. Steely Dan Cover („Dr. Wu“!!) funktioniert genau so gut, wie das eigene Material. Man hat eine Doppel-LP voller kurzer, explosiver Songs mit tollen Hooks und Melodien. Nach dem Hören all dieser Songs ist man erschöpft – als Doppel LP ist Double Nickles.. am besten zu genießen, da man dann vier Seiten hat.
PS: Der Begriff „Double Nickles“ übrigens bezieht sich auf die Geschwindigkeitsbegrenzung von 55 m/ph in den USA…

Meat Puppets
II

(SST, 1984)

Cover Art – in schöner SST Tradition von einem Musiker der Band- hier vom Gitarristen und Sänger Curt Kirkwood

Ende der Achtziger tauchte dieser dubiose Begriff „Cowpunk“ auf – mit dem ich eigentlich nicht wirklich etwas anfangen konnte. Punk und Country vermischen? So sehr Musiker wie Willie Nelson und Johnny Cash als Outlaws durchgehen mochten, mit Punk hatten sie wenig zu tun – meinte ich jedenfalls. Aber als ich dann das zweite Album der Meat Puppets zu hören bekam, konnte ich mich mit diesem Begriff aussöhnen. Die Meat Puppets waren junge Musiker, die Punk und Hardcore aufgesogen hatten, die sich aber auch von Country beeinflussen ließen – so wie sich etwa die Grateful Dead in den Sechzigern Country einverleibt hatten. Ein Vergleich, der passt, auch weil die Meat Puppets deren Spaß an Gitarrenexkursionen teilten (Siehe etwa „We’re Here“). Der Vergleich mit Grateful Dead passt auch, wenn man sich anhört wie leicht dahingeschludert sich hier so mancher Song anhört – wohlgemerkt – genau das halte ich für eine große Kunst. Der erste Song – „Split Myself in Two“, ist noch nah am Punk, „Plateau“ klingt dann aber schon surreal – nach Peyote und einer Nacht in der Wüste, und nur Curt Kirkwoods immer etwas unsichere Stimme kann Lyrics singen wie „holy ghosts and talk show hosts are planted in the sand to beautify the foothills and shake the many hands.‘Für „New Gods“ steigern sie nochmal das Tempo, aber sie haben – wie andere SST Bands auch – immer die Kontrolle über das, was sie machen, klingen nie angestrengt, sondern so, als wäre alles nebenbei gespielt. Und „Oh Me“ ist wunderschön und seltsam – kein Wunder, dass Kurt Cobain das Album und die Band so sehr verehrte, dass er diesen und zwei weitere Songs coverte – er war eben immer auch Fan. Und dann ist da noch das Instrumental „I’m a Mindless Idiot“ – wie kann man nur so leicht Hardcore und instrumentale Finesse vereinen? Seltsamerweise ist keiner der Songs länger als drei – einige unter zwei Minuten lang. Aber man verliert sich in der Musik, so dass die knapp 30 Minuten von II zugleich länger und viel zu kurz scheinen. Es gibt keine andere Band, die so klingt, wie die Meat Puppets zu dieser Zeit. Einzigartig.

R.E.M.
Reckoning

(I.R.S., 1984)

Cover Illustration – Michael Sipe malte die zweiköpfige Schlange, Baptisten-Prediger und Künstler Howard Finster den Rest

Wenn es eine Band gibt, die für den glaubwürdigen Übergang vom Underground in den Mainstream steht, dann sicher R.E.M. Mit ihnen gelangte der Begriff „Alternative Rock“ über die College-Radios der USA zu den großen Radiostationen – und mit ihnen gelangte eine Musik in das Bewußtsein der Öffentlichkeit, die zuvor nur eingeweihten und weit mehr an Musik und Qualität interessierten Kreisen bekannt war. Mit ihrem Debüt Murmur hatten sie schon im Vorjahr mehr als einen Underground-Erfolg erreicht, für ihr zweites Album öffneten sich R.E.M. musikalisch, ließen sich wieder von Don Dixon und Mitch Easter produzieren, die den Live-Sound der Band noch besser einfangen sollten, und klangen dementsprechend direkter. Zugleich nahmen sie ihre Post-Punk Einflüsse zurück, und erdeten ihr Songwriting für Reckoning weit mehr mit Country-Einflüssen als auf dem Vorgänger. Aber natürlich ist das Country im R.E.M. Stil, eher an Byrds und Gram Parsons orientiert, als an Nashville oder Kenny Rogers. Ich erhebe Reckoning nicht umsonst in den Kreis der sehr wichtigen Alben dieses Jahres: Die Musik dieser Band war seinerzeit tatsächlich visionär und der riesige kommerzielle Erfolg der kommenden Jahre war nicht wirklich zu erwarten. R.E.M. hatten von Beginn einen enorm wiedererkennbaren Sound – egal welcher Stil den Songs zugrunde lag, sie klangen immer nach sich selber. Dank der markanten Stimme von Michael Stipe, dank der Virtuosität von Gitarrist Peter Buck und dank des melodischen Bassspiels von Mike Mills waren sie unverwechselbar. Und dazu gab es für Reckoning: wieder ein paar großartige Songs – „Pretty Persuasion“ und „Harborcoat“ sind Country/ Folkrock, teils düster, aber durch die einfallsreichen Arrangements immer spannend. Beste Songs aber sind „(Don’t Go Back To) Rockville“ – ihre zweite Single – sowie die desolate Country Ballade „So, Central Rain“ in der Stipe im Chorus so verzweifelt „I’m Sorry“ herausheult – worauf Peter Buck mit einem tollen Gitarrenriff antwortet. Wer Ohren hatte, zu hören, der konnte erkennen, dass R.E.M. für Größeres bestimmt waren – und ein paar Moralapostel sagten den Ausverkauf schon vorher.

The Replacements
Let It Be

(Twin Tone, 1984)

Cover Design – Bruce C. Allen. Auch Gitarrist
der Suburbs…

Manche sagen, die Quintessenz dessen, was Rock’n’Roll bedeutet, wurde von The Clash auf ihrem Großwerk London Calling eingefangen. Dasselbe könnte man aber auch über Let it Be von den Replacements sagen – nur dass dieses Album im Vergleich unbemerkt blieb. Es ist die perfekte Synthese aus Aggression und äußerster Finesse beim Songwriting, die dieses leider viel zu unbekannte Album zu einem Ausnahmewerk machen. Die Replacements hatten als eine Art Looser-Punk-Band begonnen, hatten erratische Konzerte und chaotische Alben gemacht und waren vor Allem „trotzdem“ immer noch da… und nun hatten sie bzw. ihr Songwriter Paul Westerberg beschlossen, nicht mehr nur laut und wild zu sein, sondern auch echte Songs zu schreiben. Zunächst war Peter Buck von R.E.M. als Produzent im Gespräch gewesen, aber da hatte die Band noch nicht genug Songs beisammen. So ließen sie sich vom Minneapolis-Musiker Steve Fjelstad und von ihrem Manager und bekennenden Beatles-Fan Peter Jesperson produzieren (der den bewusst gewählten Titel der LP vielleicht gar nicht mal so lustig fand…) Ein Song wie „Androgynous“ ist perfekt gerade durch die raue Produktion, überhaupt gab die Tatsache, dass hier nicht – wie in den 80ern üblich – „clean“ produziert wurde der Musik eine besondere Glaubwürdigkeit. Und es mag Millionen von Songs über’s Erwachsenwerden geben, aber „Sixteen Blue“ ist sicher einer der Besten, weil Sehnsüchtigsten. Oder der Album-Closer „Answering Machine“: Mit seinen fantastischen, pointierten Gitarren, dem sehnsüchtigen Gesang und seiner großartigen Melodik ist es DER Song über romantische Obsession. Und die Replacements coverten sogar Kiss‘ „Black Diamond“ und machten sich auch diesen Song zu eigen. 1984 jedenfalls war Let it Be die Zukunft des Rock’n’Roll und das Beatles-Zitat im LP-Titel war nicht unangebracht. Wäre nur schön, wenn das mehr Leute mitbekommen hätten…

Lloyd Cole and The Commotions
Rattlesnakes

(Polydor, 1984)

Cover Design – Da Gama. Hat u.a. auch Cover für Siouxie and the Banshees gemacht

Eines der großen Pop-Alben der 80er Jahre, zugleich ein sträflich unbekannt gebliebenes und für mich – wie man hier sieht – eines der besten Alben des Jahres 1984. Lloyd Cole war erst 23 als er Rattlesnakes aufnahm, und er ist wohl einer dieser „Frühvollendeten“. Ein Songwriter, der sofort auf der Höhe seiner Kunst war. Tatsächlich hat er nach diesem Debüt keine wirklich komplette Songsammlung mehr geschaffen, die besser war – auch wenn so manches Solo-Album später einige Perlen enthält. Aber Tracks wie das Titelstück ,“Perfect Skin“ oder gar das unglaubliche „Forest Fire“ kann man vielleicht noch wiederholen, aber man kann die Qualität und diese Überraschung, die sie beim ersten Hören erzeugen, nicht mehr übertreffen. Cole singt mit einem Ausdruck, der die Emotionen offensichtlich unterdrückt, seine Stimme hat eine seltsam verschnupfte Ergebenheit, unter der Verzweiflung zu kochen scheint. Seine Lyrics und sein Stil sind eigenständig, haben die distinguierte britishness, unter der sich bekanntermaßen große Gefühle verbergen können. Der Album-Closer „Are You Ready to be Heartbroken?“ ist das Portrait eines mit der Liebe und anderen Wirrungen Überforderten, „2CV“ der lakonische Bericht über die Affäre mit einer älteren Frau. Textzeilen wie „Must you tell me all your secrets/when it’s hard enough to love you knowing nothing?“ sind unterlegt vom Jangle Pop der Commotions, bei denen insbesondere Neil Clark’s Gitarrenton mit wundervollem Rock’n’Roll-Twang Akzente. Und auch das war zu dieser Zeit wieder neu, eine stille Revolution. Alles sch schön schlau – aber vor Allem Cole’s literarische, lässige Songs machen diese LP zum Klassiker – und wie mir scheint, auch zu einem Einfluss auf spätere Bands wie Belle and Sebastian.

The Smiths
s/t

(Rough Trade, 1984)

Design – Morrissey. Ein Bild des Schauspielers Joe Dallessandro aus dem Andy Warhol-Film Flesh

Das Debüt der Smiths war im Jahre ’84 in vieler Hinsicht ein revolutionäres Album – ein Ausbruch aus unseligen Sackgassen, in die Synth-Pop, New Romantic und düsterer Post Punk zu steuern schienen. Aber die Klasse des Debüt-Albums The Smiths und seinem Nachfolger Meat Is Murder wurde dann vom ’86er Album The Queen Is Dead sowie von der Compiltation Hatful of Hollow übertroffen. Hätten die Smiths nur dieses Debüt veröfffentlicht, dann bekäme es die Wertschätzung, die es verdient hat. Oberflächlich gesehen war der Sound der Smiths im britischen Gitarrenpop verwurzelt, aber bei genauem Hinhören sind das Songwriting, Johnny Marrs exzellentes Gitarrenspiel und Morriseys Texte und Gesang schon auf diesem Debüt erstaunlich subversiv und äußerst stilsicher. Die Songs sind zwar catchy und melodisch, aber die Struktur ist mitunter äußerst unkonventionell. Und das Songwriting wird durch Morrisey Texte über Homosexualität („Hand in Glove“) Pädophilie und Mord noch exzentrischer und innovativer. Dieser Steven Patrick Morrissey trug seine literarischen und ironischen Texte mit einer Stimme vor, die übergangslos von klassischem Crooning zu hysterischem Überschlag wechselte. Die Produktion von The Smiths mag schlicht gehalten sein, aber die Songs allein sind große Kunst, und brauchen nicht mehr Lustigerweise waren genau diese Mängel in der Produktion der Grund, aus dem das Album nach etlichen wundervollen Singles ewig auf sich warten ließ. Schon 1983 war Morrissery eine Diva….

The Smiths
Hatful Of Hollow

(Rough Trade, Rel. 1984)

Cover Design – Morrissey. Ein Foto aus der
französischen Zeitschrift Liberation

Und so wurde mit Hatful of Hollow, – wie gesagt eigentlich nur einer schnöden Zusammenstellung von Singles der Band – weit deutlicher erkennbar, welche Klasse The Smiths seinerzeit hatten. In guter alter britischer Pop-Tradition sahen sie ihre Singles als eigenständige Statements an, die nicht auf dem ein paar Monate später veröffentlichten Debütalbum zweit-verwertete werden sollten: So war die Veröffentlichung von wunderbaren Preziosen wie „William, It Was Really Nothing,“, dem sardonischen „Heaven Knows I’m Miserable Now“, „Please, Please, Please Let Me Get What I Want“ oder gar dem fantastischen, tremolo-geladenen „How Soon Is Now?“ für Fans ein Segen. Hinzu kamen auf dieser Compilation einige rohe BBC Versionen von ein paar Songs vom Debüt und andere Raritäten. „Girl Afraid“, „This Charming Man“ – all das sind Songs die – besser noch als das Debütalbum – deutlich machen, welchen Reiz diese Band ausübte und warum die britische Presse einen derartigen – ausnahmsweise mal berechtigten – Hype veranstaltete. Hatful of Hollow mag als Sampler dem Debüt also überlegen sein. Letztlich unverzichtbar sind beide Platten – und genau genommen jedes Album der Smiths… Das großartige Corporate Design aller Veröffentlichungen dieser Band – erdacht von Morrissey himself – ist nur noch ein zusätzliches Bonbon.

Coil
Scatology

(Force & Form, 1984)

Cover – wird wohl Peter Christopherson geplant haben. Der war schließlich mal bei Hipgnosis dabei…

Der offen homosexuelle Musiker und Designer (U.a. beim Cover-Kunst Kollektiv Hipgnosis…) Peter „Sleazy“ Christopherson verließ 1983 Throbbing Gristle und Psychic TV um kurz darauf mit Jhon Balance zusammen das Projekt Coil zu gründen. Bis zu Balance’s frühem Tod schlug dieses Duo einen singulären, düster-magischen Pfad durch die Musikwelt. Literarisch, intensiv, inspiriert von Mördern, Häretikern, Philosophen, Surrealisten, Alchemisten und kontroversen Autoren machten sie eine Musik weit weg von der Mitte der Popwelt. Scatology ist Coil’s erstes (und spartanischstes) Album – ein beunruhigender Mix aus Okkultem, Vulgärem und Transzendentalem. Die Geister von Psychic TV und Throbbing Gristle schwebten natürlich über der Musik der beiden Grenzgänger während sie versuchten, einen seltsamen Bastard aus Pop und gespenstischer Improvisationsmusik mit rituellen Anklängen zu erschaffen. „Panic“, „Godhead – Deathhead“ und „Aqua Regis“ haben noch den Industrialcharakter der Musik der vorherigen Bands – inklusive ratternder Drum-Machines und Gitarrenlärm. Hier wurde experimentiert um der Ästhetik willen – nicht um Musik zu intellektualisieren, sondern um bestimmte Effekte zu erzielen. Wer beim Opener „Ubu Noir“ nicht sofort den Sog spürt, den eigentlich alle Alben von Coil hatten, der hat die dunkle Seite der Popmusik noch nie gesehen. Die Stimme von Gavin Friday von den ähnlich grenzgängerischen Virgin Prunes macht aus „Tenderness Of Wolves“ ein Schlachtfest und auch das von Charles Manson inspirierte „Solar Lodge“ ist nicht nur thematisch beängstigend. Auf späteren Versionen des Albums wurde „Restless Day“ mit Marc Almond von Soft Cell an der Gitarre ergänzt und zuletzt beendete auf den Re-Issues Marc Almond’s Hit „Tainted Love“ in der fatalen Version von Coil das Album als düsteres Requiem für alle AIDS-Toten. Das erste Benefit-Release in diesem Zusammenhang und in dieser Zeit – als Homosexualität und AIDS in den Augen Vieler zusammen gehörten und mit hasserfüllter Intoleranz betrachtet wurden – tatsächlich ein gewagtes Unterfangen…