Das Wichtigste aus 1983 – AIDS, NATO-Doppelbeschluss, erstes Handy und Thriller – Tom Waits bis Marillion

In Beirut sprengt sich ein Selbstmordattentäter in der US Botschaft in die Luft, AIDS ist im breiten öffentlichen Bewußtsein angekommen, der NATO Doppelbeschluß zur Aufrüstung sorgt für Proteste, Hunderttausende gehen auf die Straße und die Angst vor einem Atomkrieg ist eines der bestimmenden gesellschaftlichen Phänomene

Tatsächlich wird in der Sowjetunion fälschlich der Abschuß von Atomraketen durch die USA gemeldet – aber zum Glück reagieren die Verantwortlichen besonnen und erkennen den Fehlalarm. In England wird Maggie Thatcher und die Konservative Partei in der Macht bestätigt und ihre Politik der sozialen Kälte geht dort in die zweite Runde – ein Hinweis darauf, dass Demokratie in Kombination mit Dummheit zu üblen Ergebnissen führt. Die erste Swatch Uhr kommt auf den Markt, sowie das erste „Handy“ – ein 800 Gramm schweres Motorola-Mobiltelefon. ’83 sterben Muddy Waters, Karen Carpenter und Dennis Wilson, der einzige Beach Boy der auch surfte, ertrinkt im Meer. Michael Jackson ist die bestimmende Figur in Radio und TV, sein Album Thriller wird in diesem Jahr durch die dazugehörigen Videos zum Massenphänomen, und trägt dazu bei, dass sich der Musiksender MTV endgültig etabliert. 1983 ist ein Jahr, das stellvertretend für die Musik der 80er stehen könnte: New Wave wird Pop, Synth-Pop ist auf dem Höhepunkt, Bands wie Depeche Mode oder die Eurythmics werden zu Stars, New Order sind es schon. The Police machen ihr letztes Album, Metallica, U2 und R.E.M. bringen in diesem Jahr ihre Debütalben heraus und sind noch Geheimtips. Einige, die zuletzt tolle Alben gemacht haben, wiederholen ihre Klasse – siehe The Fall oder Richard Thompson. Scott Walker kommt mit einem fantastischen Solo-Album scheinbar aus dem Nichts zurück, Tom Waits entdeckt den Schrottplatz als Ort der Inspiration und das popkulturelle Phänomen Madonna macht das erste Album. Es gibt in diesem Jahr im Rückblick tatsächlich bemerkenswerte Alben, einige die wirklich fantastisch sind, und deren Einfluss bis weit in die kommenden Jahrzehnte reicht. Aber dahinter gibt es nicht viel zeitlose Klasse, insbesondere weil ein seltsam dünner Plastik-Sound regiert…. und ich erwähne hier wie gehabt noch kurz den übelsten, aber zugleich erfolgreichen Schrott von Musikern wie Christopher Cross – ich weiss lieber nicht, was der meint – ich erwähne voller Trauer David Bowie’s beginnenden Abstieg in die Bedeutungslosigkeit via Let’s Dance und vergesse am besten Genesis‘ Hit-Album (auch wenn das in den 00ern eine Art Neubewertung erfahren wird…). Weg mit dem Schrott und her mit…

https://music.apple.com/de/playlist/der-gro%C3%9Fe-rockhaus-1983/pl.u-8aAVVB9Co1eBM48

Tom Waits
Swordfishtrombones

(Island, 1983)

Cover-Foto – Michael A. Russ. Waits mit dem 88 cm großen Schauspieler Angelo Rositto und mit Lee Kolima

Tom Waits hatte vor seinem achten Album Swordfishtrombones eine Pause von drei Jahren gemacht, Musik zu einem Film von Francis Ford Coppola beigetragen, bei den Dreharbeiten zu diesem Film seine Muse und spätere Ehefrau Kathleen Brennan kennengelernt und mit dieser eine stilistische Umjustierung seiner Kunst vorgenommen. Gestrichen wurden Hollywood Streicher, Bar-Room-Jazz und lyrische Nabelschau, ergänzt wurde die inzwischen von ihm bekannte Junkyard-Ästhetik. Waits produzierte nun selbst, der schon auf Heartattack and Vine (1980) angedeutete experimentelle Umgang mit Arrangements und Instrumenten wurde konsequent durchgezogen und die so wunderbar erzählerischen Texte behandelten nun in noch surrealerer Weise als es zuvor die Kaputten und Loser dieser Welt. Die Frage, ob Waits‘ gewagte Mischung aus Beatnik, Bohemien und 20er Jahre Stummfilm-Ästhetik vielleicht übertrieben oder gar kalkulierte Scharlatanerie ist, ist meiner Meinung nach obsolet… denn die Ästhetik siegt. Und man sollte bedenken (und bewundern), wie gewagt dieser Schritt zu dieser Zeit war, mit welcher Konsequenz er ihn tat – ohne zu wissen, ob ihn das nicht aus dem Geschäft kicken würde. Und bewundernswert ist auch, wie wenig dieser „Sound“-Wechsel seine Songwriter- Fähigkeiten überdeckte, sprich: mit was für Songs er – nun eben in neuem Gewand – aufwartete: „Underground“, „In the Neighborhood“, „Down Down Down“ oder „16 Shells from a Thirty Ought-Six“ gehören zum Besten in seinem bis zu diesem Zeitpunkt schon an großen Songs reichen Oeuvre. Und das Experiment gelang: Swordfishtrombones wurde tatsächlich sein bis dahin erfolgreichstes Album. Ich frage mich, was die Plattenfirma vor diesem Erfolg zu ihm gesagt haben mag (…unverkäuflich… kommerzieller Selbstmord…). Tom Waits hatte sich mit einem neuen und weiterhin gänzlich eigenen Stil neu erfunden… Seine Kunst hatte gewonnen.

Scott Walker
Climate of Hunter

(Virgin, 1983)

Covver – C-More Tone Studios aka Chris Morton. Man beachte, dass die Anordnung der Schrift dem Debüt von Elvis ähnelt…

…und weil ich „Kunst“ in der Popmusik so liebe: Climate of Hunter erschien 1983 buchstäblich aus dem Nichts. der Ex-Teen-Star Scott Walker war ’83 fast vergessen, zwar hatte er zum ’78er Walker Brothers Album Night Flights vier phänomenalen Songs beigetragen, aber die waren zum Einen Fremdkörper auf diesem Album gewesen, zum Anderen waren die Brothers schon zu dieser Zeit ein vergessener Oldie-Act gewesen, und niemand rechnete nun auch noch mit weiteren Äußerungen des 60er Teen-Idols. Walker hatte seit diesem Album ohne Vertrag mehr schlecht als Recht von der Legende seiner frühen Jahre gelebt – er war so etwas wie der Orson Welles der Rockmusik geworden. Aber nachdem sein Ruf die Realität überholt hatte, bekam er doch noch einmal die Möglichkeit ein Album aufzunehmen. Er holte sich ein seltsames Sammelsurium von Musikern an Bord – Soul-Sänger Billy Ocean, Dire Straits Gitarrist Mark Knopfler – die Allesamt wohl nicht wirklich wussten wie ihnen geschah, als Walker sie ohne Vorgaben ihre Parts einspielen ließ. Eine Vorgehensweise mit Methode: Walker hatte Songskizzen im Kopf, wollte aber die Melodien „geheim halten“ um der Musik eine gewisse Freiheit – und Ungewissheit – zu lassen. Dazu wurde die Hälfte der Songs lediglich durchnumeriert (um sie nicht mit Titeln zu „überfrachten“) und den Mitwirkenden wurden lediglich Skizzen aus Drums, Bass und Walkers Gesang vorgestellt. Das Ergebnis allerdings ist von teils verblüffender Schönheit. Mark Knopfler hat selten so effektiv gespielt wie bei der Vertonung des Tennessee Williams-Gedichtes „Blanket Roll Blues“, „Rawhide“ mit prominentem Bass und Orchester ist ebenso geheimnisvoll wie „Sleepwakers Woman“. Das Album hat IMO trotz der Plastik-Sound-Ästhetik der Achtziger mit der Zeit gewonnen. Ironischerweise wurde Climate of Hunter dennoch zu einem der am schlechtesten verkauften Alben der Plattenfirma Virgin. Ein Beweis, dass guter Geschmack elitär ist. Dass Scott Walker in den kommenden Jahrzehnten noch viel weiter ging, konnte man hier vielleicht schon erahnen. Man kann Alben wie The Drift und Bish Bosch Kunstkacke – oder avantgardistisch nennen, Climate of Hunter ist im Vergleich zu diesen beiden „Werken“ regelrecht zugänglich und somit ein guter Einstieg in Walker’s musikalisches Werk nach den Siebzigern.

Richard Thompson
Hand of Kindness

(Hannibal, 1983)

Cover – Margot Core. Schöne Gitarre, die er da hat.

Es war das erste Album Richard Thompson’s nach der Trennung von seiner Frau und musikalischen Partnerin Linda, es war das Erste nach dem kathartischen Shoot Out the Lights – einem der besten Alben der Achtziger (das allerdings gemäß Aussage beider Beteiligter KEIN Trennungsalbum war) – es war somit ein Album, das es schwer haben würde, sich mit dem Vorgänger zu messen. Man hatte erwartet, dass Richard Thompson nach der Trennung in Bitterkeit versinken würde…. Aber mitnichten: Natürlich gibt es bei ihm immer Songs über zerbrechende oder zerbrochene Beziehungen, aber tatsächlich war er gerade frisch verliebt, ER hatte Linda Thompson verlassen, privat gab es also keinen Grund zu Trauer oder gar Wut. – Was aber natürlich auch nicht heißt, dass hier fröhlich über Blumenwiesen getanzt wird. Songs wie „Tear Stained Letter“ und „A Poisoned Heart and a Twisted Memory“ wollte man gerne autobiographisch lesen – was Thompson gewiss auch wusste – der dunkelste Moment auf Hand of Kindness aber, die Moritat „Devonside“ ist deutlich NICHT selbstbezogen, sondern eher angelehnt an traditionelle englische Folkmusik – und ein Song, den Thompson kaum live spielt um „…das Publikum nicht depressiv zu machen…“ Der Grundton auf Hand of Kindness allerdings ist – man möchte fast sagen – fröhlich. Der Sound wird durch Bläser angereichert, Thompsons wie immer unfassbar gutes Gitarrenspiel wird noch selbstbewusster nach vorne gestellt. Der Cajun-Stomp von „Two Left Feet“ ist richtig flott, und die Pferderennbahn-Story von „Both Ends Burning“ ist sogar rasant. Er schaffte es wieder einmal Folk mit Rock’n’Roll zu vermischen und ergänzte die Klangpalette gekonnt um Saxophon und Akkordeon. Das gelang vielleicht noch nicht so organisch wie auf kommenden Alben, denn noch war Folk eindeutig die Grundlage auf der er seine Songs aufbaut, das Ergebnis aber war wieder einmal überzeugend. Und dennoch blieb er weiterhin ein Fall für Spezialisten.

R.E.M.
Murmur

(I.R.S., 1983)

Cover – Sandra Lee Phipps. Die wuchernde Pflanze hier heisst Kudzu.

Nach dem schimmernden Jangle Pop ihrer EP Chronic Town entwickelte die kleine Band aus Athens/Georgia auf ihrem Debüt Murmur ihren eigenen, sehr individuellen Sound weiter: Man muß bedenken: 1983 waren R.E.M., deren Klangbild uns heute so vertraut ist, eine kleine Indie-Band, die klang wie kaum eine andere. Man konnte damals höchstens vergleichen: Da war der Gitarren-Jangle der Byrds vermischt mit der nervösen Energie von Gang of Four, eine treibend und äußerst melodisch spielende Rhythmussektion und Michael Stipes Gesang mit dieser so gut wiedererkennbaren Stimme, die teils sehr undeutlich dahingemurmelte Texte von sich gab, die eher lautmalerisch als inhaltlich von Bedeutung waren. Dazu Songs, die Folk, Power-Pop, Punk und Garage Rock organisch miteinander verbanden. Und ja – Punk ist auf diesem Album noch ein klar erkennbarer Einfluss. Und damals schon hatten diese Songs erstaunliche Ohrwurmqualitäten. „Pilgrimage“, und das schnelle „Catapult“ sind zwei Pole im Stil der Band, sehr unterschiedlich und dennoch eindeutig R.E.M. Der größte Hit des Albums, „Radio Free Europe“ ging als Gußform für viele kommende Independent Single Hits durch, das melancholische „Talk About the Passion“ oder die sich umeinander windenden Gitarren- und Piano-Chords von „Perfect Circle“ sind eingängig und zugleich für ihre Zeit innovativ. R.E.M. haben danach natürlich etliche erfolgreichere Alben gemacht, aber ihre Debüt-LP hat eine Frische und Unschuld, die sich nicht mehr reproduzieren lässt. Für so manchen Fundamentalisten war hier – oder spätestens nach dem zweiten Album – Schluß mit der Band, da der Einfluss des „Punk“ bald verschwunden war…. oder spätestens nach dem vierten Album, als sie den zur damaligen Zeit höchstdotierten Plattenvertrag bei Warner bekamen… oder oder oder. Aber wenn man es neutral betrachtet, dann haben R.E.M. sehr lange sehr gute Musik gemacht und – soweit im Musik-Business möglich – ihre Glaubwürdigkeit behalten. Aber das ist ein unendliches Streitthema.

The Blue Nile
A Walk Across the Rooftops

(Linn, 1983)

Cover – ?… Die Band wurde hier in Glasgow auf der Cathcart Road fotografiert…

Eine ganz seltsame Story: The Blue Nile waren zur Zeit ihres ersten Albums in Glasgow so unbekannt, dass Sänger Paul Buchanan sein eigenes Album von einem Freund empfohlen bekam. Dabei existierte das Trio schon seit Ende der Siebziger, hatte eine Single und ein Demo aufgenommen, das von der schottischen High-End Firma Linn Electronics zu Demonstrationszwecken für ein Aufnahmesystem genutzt werden sollte. Linn waren vom Ergebnis so beeindruckt, dass sie der Band die Aufnahme eines ganzen Albums – ohne künstlerische Vorgaben – ermöglichten. Die Band benötigte weitere fünf Monate, um Musik zu kreieren, die einerseits eindeutig in ihrer Zeit gefangen ist – mit Synthesizer Sounds und Drums, wie es sie nur in den Achtzigern gab – die aber andererseits durch ihre verregnete Atmosphäre und ihre schiere Eleganz seltsam aus der Zeit gefallen klingt. Ein Faktor ist sicher Paul Buchanans Stimme, die mitunter an Sinatra zu Sings Only for the Lonely– Zeiten erinnert. Ein Vergleich, der auch bezüglich der Stimmung zur Musik passt, allerdings sind die Arrangements auf A Walk Across the Rooftops logischerweise transparenter, die Band mußte jeden Ton selbst einspielen, was ihnen schon wegen zunächst mangelnder instrumentaler Fähigkeiten schwer fiel. Dabei ist es mitnichten so, dass man diesen Umstand dem Album anmerkt: Sie machten aus der Not eine Tugend, spielten nur das Allernötigste und ließen der Musik Raum zum atmen. Und was natürlich am Wichtigsten ist: Sie hatten mit dem Titelsong oder mit dem „Hit“ „Tinseltown in the Rain“ großartige Songs am Start. Zunächst bekamen sie rave reviews, aber wenig kommerziellen Erfolg, aber über die Jahre erwies sich das Album als äußerst einflussreich und hat inzwischen einen verdienten Status als Klassiker erlangt.

New Order
Blue Monday/The Beach EP

(Factory, 1983)

Design – Peter Saville. Ohne Bandname, ohne Titel, an die damals akute Floppy-Disk für Computer angelehnt

Nach dem Tod von Ian Curtis hatten Joy Division unter dem Namen New Order ein Album gemacht, dass – nun ja – eben nach Joy Division ohne Ian Curtis geklungen hatte. Zwar gab es auf Movement schon Hinweise auf eine „Erweiterung“ ihres Stils, aber erst danach wurde New Order zu einer wirklich eigenständigen Band, die zwar immer ein paar Joy Division-Merkmale behalten würde, die aber -zunächst mit Singles – innovativ werden würde. Und so kommt hier ausnahmsweise eine „Single/EP“ zu der Ehre, beschrieben zu werden. Schon im Vorjahr gab es mit Temptation/Hurt einen Ausbruch aus der morbiden Kühle des (tollen) ’81er Albums. Aber für Blue Monday/The Beach wurde konzeptuell, sound-technisch und nicht zuletzt design-mäßig Neuland betreten. Tatsächlich ist das Floppy-Disk Design des Covers ohne jeden Hinweis auf Titel oder Bandnamen, wieder von Factory Haus-Designer Peter Saville gestaltet, Grund genug für den Klassiker Status der Single. Aber dazu kam, dass der Song selber eine Meisterleistung ist (die nebenbei NICHT auf der LP veröffentlicht wurde). Eine simple Melodie, ein Maschinen-Rhythmus, der auch das Vorbild Kraftwerk überholt hat, eine unglaubliche Dynamik, eine elegante Kühle… Die Band nutzte den Synthesizer, eine zufällig etwas verschobene Melodie-Linie, ein Stakkato-Break, Einflüsse von Disco und Kraftwerk und heraus kam Proto-Techno. Die EP wurde ungeheuer erfolgreich, das aufwändige Cover allerdings wurde zuerst als Ärgernis angesehen, weil es oft schon vor dem Verkauf im Plattenladen kaputt ging. Dass die den Track nicht auf das folgende Album stellen wollte, wurde auch beklagt – aber es macht „Blue Monday“ und die auf der B-Seite als „The Beach“ bezeichnete Remix-Version zum Kult und zu einer der bestverkauften EP’s aller Zeiten.

New Order
Power, Corruption & Lies

(Factory, 1983)

over – Peter Saville benutzte das Gemälde „Ein Bouquet Rosen“ des Franzosen Henri Fantin-Latour – und den Farbcode der EP

Und dann kam mit Power, Corruption & Lies die Zementierung ihrer musikalischen Neuorientierung. Das begann schon mit dem Surf-Guitar Riff des Openers „Age of Consent“, da war der langsam immer selbstbewusstere Bernard Sumner, dessen jungenhafte Stimme zwar nicht herausragend war, der der Band aber gerade durch seine Neutralität – und durch seine Wegwerf-Lyrik – eine breitere Stimmungspalette bot. Und da kam jetzt der Einsatz von Synthesizern und Dancefloor-Rhythmik, der den stoischen Puls von Joy Division auf die Tanzfläche schob. Dabei ließen New Order sogar tatsächlich ihre hier zuvor beschriebene enorm erfolgreiche Single „Blue Monday“ nach alter britischer Tradition außen vor (Die ist lediglich manchmal auf den CD-Re-Issues von Power, Corruption & Lies dabei – nehmt lieber die 12″…) Freundliche Pop-Songs wie „The Village“ standen jetzt neben melancholischen Stücken wie „Your Silent Face“. Noch war die Band nicht auf Ibiza gewesen, noch waren die Dance Einflüsse nicht so bestimmend, wie sie bald werden würden, noch war die Vergangenheit erkennbar – verleugnen würden sie diese nie – aber diese neue Band hatte einen Ausweg aus ihrer eigenen Geschichte gefunden und ein echtes Pop-Album gemacht. Nebenbei: Der Titel bezieht sich angeblich auf eine Aktion des Künstlers Gerhard Richter, der diese drei Worte bei einer Ausstellung seiner Werke in der Kölner Kunsthalle auf die Außenwand sprayte.

The Chameleons
Script of the Bridge

(Statik, 1983)

Cover vom Gitarristen Reg Smith.

Und hier schon wieder ein tragischer Fall von Ungerechtigkeit im Pop-Business. Das Debüt der Chameleons sollte eigentlich zu den großen Alben in der Geschichte der Rockmusik gehören, direkt neben dem Debüt von Echo & the Bunnymen und Seventeen Seconds von The Cure. Script of the Bridge ist eines dieser zeitlosen Alben, die ohne Weiteres 25 Jahre später im Zuge des Post-Punk Booms hätte erscheinen können, neben Alben von ehrenwerten Epigonen wie Interpol oder den Editors aus den ’00er Jahren. Und es wäre wegen seiner formidablen Songs sogar die bessere Wahl – zumindest im Vegleich mit den Editors… Und die sehr guten New Yorker Interpol klingen tatsächlich bei genauem hinhören wie eine Chameleons-Cover-Band. Vom Drumming und Songwriting bis zur Stimme sind sie ein Klon der Band aus Middleton/Großbritannien. So gesehen könnte Script of the Bridge also als Best Of Album eines ganzen Genres durchgehen. Songs wie „Monkeyland“, das John Lennon Tribut „Here Today“, oder das post-apokalyptische Schlußstück „View From A Hill“ haben alles, was man bei bekannteren Vertretern des Genres wie etwa Echo & the Bunnymen sucht. Die Stimme von Bassist Mark Burgess ist tief in Echoeffekte getaucht, die Melodien werden geschickt von Twin Guitars getragen, das komplette Album ist enorm atmosphärisch und klingt vollkommen zeitlos. Script of the Bridge ist ein Album, das auf allen Ebenen funktioniert, intellektuell, spirituell und physisch, und wie es so läuft in solchen Fällen, es bietet Musik, die erst Jahre später wirklich geschätzt wurde. Ja, auch die Chameleons hatten danach das Problem, dass es fast unmöglich war, dieses Debüt zu übertreffen – aber die beiden Nachfolger sind dennoch toll. Und trotzdem haben sie bis heute lediglich Kultstatus.

The Fall
In a Hole

(Flying Nun, 1983)

Cover-Foto – Carol Tippett. Fotografin der New Zealand Indie Scene

1983 ist die nächste Gelegenheit, sich The Fall auf einer (weiteren) Live-LP und einer großartigen Studio-LP anzuhören. Seit ihren ersten Singles und EP’s im Jahr ’79 sind sie immer besser geworden – und obwohl sie dabei irgendwie gleich geblieben sind, sind sie zugleich immer aufregend geblieben: „Always the same, always different…“ Hat das nicht John Peel gesagt? Dabei mag man Mark E. Smith auf In a Hole nicht wirklich „Begeisterung“ unterstellen, dazu ist er zu zynisch – oder zumindest klingt er so – aber die Band ist bei dieser Tour in Neuseeland im späten August ’82 in großer Form, und das Material von Hex Enduction Hour sowie vom schnell nachgeschobenen Nachfolger Room to Live (beide von ’82) und vom Vorgänger Grotesque (’80) gehört sowieso zum Besten, was die Band zustandebrachte. Natürlich erkennt man die Tracks wieder – aber The Fall Songs verändern sich je nach Laune des Mark’s und nach Tagesform der Band. Dazu spielen The Fall ein über 10-minütiges Monster mit dem Titel „Backdrop“. Einen Song, der es nie auf ein reguläres Album geschafft hat, der aber in den 80ern zum Live-Repertoire gehörte und einer von Smith’s gelungensten ist. Ein weiteres Argument für In a Hole ist ganz ohne Zweifel die diesmal wirklich gute Aufnahmequalität. Auch jetzt ist es ein roher Sound – aber der wird ihrer Musik zu dieser Zeit gerecht – und er ist nicht ganz so gewöhnungsbedürftig, wie beim 80er Live-Klassiker Totale’s Turns…. Dass der blöde Sack Mark E Smith ein Problem damit hatte, dass dieses Album veröffentlicht wurde und den Weg von Neuseeland nach England/Europa fand, soll seiner Misanthropie geschuldet sein. In a Hole wurde (leider) schnell zum Sammlerobjekt, und selbst die später mit zusätzlichen Tracks als Doppel-CD veröffentlichte Version ist zu teuer genug. Ich finde, dieses Dokument einer unvergleichlichen Band sollte ganz normal wiederveröffentlicht werden. Wer sich wirklich für Musik interessiert, muss doch auch mal The Fall Live in Bestform hören.

The Fall
Perverted by Language

(Rough Trade, 1983)

Cover-Illustration – der dänische Künstler Claus Castenskiold. Hat diverse Cover für The Fall gemacht.

…und dann bekam man im selben Jahr mit Perverted By Language das nächste Highlight geliefert: Es ist das erste Album, auf dem Smith’s frischgebackene amerikanische Ehefrau „Brix“ Start/dann Smith mitmacht, das erste mal, dass Smith eine andere Person auf einem The Fall Album singen lässt, mitbestimmen lässt… man könnte glauben, er wäre irgendwie „weich“ geworden. Aber keine Sorge. Smith hatte seinen getreuen Gitarristen Marc Riley gefeuert und damit einen wichtigen Teil des The Fall-Sounds verändert. Und auch da – keine Sorge: The Fall bleiben „Always the same, always different…“ Noch wollte Brix nicht fest in einer reinen Jungs-Band mitmachen, sie spielte auf diesem Album hier und da Gitarre und sang wie gesagt beim von der letzten Deutschland-Tour inspirierten „Hotel Blöedel“ Lead Vocals. Und Smith’s „Songwriting-Skills“ waren immer noch in schwindelerregender Höhe. Der Opener „Eat Y’self Fitter“ soll beim Ober-Fan John Peel eine Ohnmacht verursacht haben. „Garden“ hat einen hypnotischen, stolpernden Groove, den man sonst wirklich NIRGENDWO geboten bekommt, und manchmal werden The Fall fast „popppig“. „Smile“ (was für ein Titel…) etwa versöhnt vielleicht ein paar von denen, die bisher nur den Lärm gehört haben, mit parolenhaftem Geschrei und Marsch-Rhythmus. Das Live aufgenommene „Tempo House“ aber hypnotisiert wieder auf die unheimliche Art, die nur Smith & Personal hinbekamen. Tatsächlich gilt Perverted By Language nicht zu Unrecht als Album des Überganges. Alte Ideen werden zuende formuliert, neue Ideen angerissen. Und weil The Fall sich immer verändert haben, kann auch Das den Angefixten nicht stören. Diese Band blieb so ungewöhnlich, wie sie immer gewesen war.

The Go-Betweens
Before Hollywood

(Rough Trade, 1983)

Foto – Tom Sheehan. Profilierter Rock-Fotograf…

Die Go-Betweens waren 1983 eine Punk-Band wie die Talking Heads oder Television. Sie hatten dieselbe Nervosität und Lust auf Innovation, wie die Vorgenannten, allerdings war ihre Musik zusätzlich tief verwurzelt in Folk und der Kunst der frühen Singer/ Songwriter – nicht nur in der Musik der Velvet Underground. Von Ihnen wurde der Jangle-Rock der Achtziger vorgedacht und die Nervosität des Post-Punk dazu addiert – woraus ein Sound entstand, mit dem im selben Jahr R.E.M. ihre Karriere begannen, die damit allerdings weit größerem Erfolg hatten. Dabei kann Before Hollywood, das zweite Album der Go-Betweens, problemlos neben Murmur bestehen, und die famose Single „Cattle and Cane“ ist zweifellos einer der besten Songs des Jahres ’83. Die Go-Betweens waren nach ihrem Debütalbum von Rough Trade Chef Geoff Travis aus ihrer Heimat Australien nach England eingeladen worden und die Musiker wussten wohl selber nicht so genau, was man an Ihnen fand. Im Sommer ’82 schrieben sie – ohne sonderlich viel Kontakt zu irgendeiner Szene zu haben – ihre Songs in London und nahmen sie dann mit dem Produzenten John Brand auf (der zuvor Aztec Camera’s High Land, Hard Rain aufgenommen hatte). Die Klasse des Albums mag ihnen nicht bewusste gewesen sein, aber Before Hollywood ist eine wunderbar eigenständige und frische Songkollektion – und ein echter Fortschritt im Vergleich zum Debüt… Die Band klingt ungemein transparent, das reduzierte Ensemble aus den beiden Songwritern (und Freunden seit College-Tagen) Grant McLennan am Bass und Robert Foster an der Gitarre mit der Drummerin Lindy Morrison hatte im letzten Jahr deutlich dazu gelernt. Auf Before Hollywood wechselten sich die beiden Songschmiede ab: Da ist McLennans minimalistisches Meisterstück „Dusty In Here“, in dem er Bezug auf den Tod seines Vaters nimmt, da ist Fosters „By Chance“, ein Song den er selber auch später noch als einen seiner Besten bezeichnen würde – heraus kam ein kompaktes Album, das Post-Punk und Songwriter-Kunst mühelos miteinander vereinte.

Police
Synchronicity

(A&M, 1983)

Artwork – Norman Moore. Das gab es in 36 Versionen!!!

Synchronicity war zu guter Letzt das Album, das Police zu Superstars machte – und es war die LP, nach der sich die Wege der drei Individualisten nach sechs Jahren und fünf Hit-Alben trennen mussten. Vier Singles wurden aus dem Album ausgekoppelt, und vor allem „Every Breath You Take“ mit seinem treibenden Beat und seinem melodischen Basslauf wurde zu einem vom Format-Radio fast zu Tode gespielten Klassiker – der dennoch eine enorme Haltbarkeit hat. Aber auch „King of Pain“ und „Wrapped Around Your Finger“ sind hochinfektiöse nenn- es-meinetwegen-New Wave Songs, und der Geheim-Favorit „Tea In the Sahara“ ist hypnotisch und zugleich melancholisch. Dass die restlichen Tracks im Vergleich etws abfallen, insbesondere die beiden Songs von Gitarrist Summers und Drummer Copeland Fremdkörper sind, kann man sogar verzeihen. Durch diese beiden Songs wurde zum Einen deutlich, wie sehr Sting die Band beherrschte, zum Anderen hörte man, wie weit die Band-Mitglieder sich inzwischen voneinander entfremdet hatten. Summers und Copeland wollten Sting’s Herrschaft nicht weiter akzeptieren. So nahmen die Drei ihre jeweiligen Parts ganz konsequent in unterschiedlichen Räumen in einer Villa in Montserrat auf – und bei „Every Breath You Take“ soll es angeblich sogar zu Handgreiflichkeiten zwischen Sting und Copeland gekommen sein. Insgesamt überstrahlen die Singles sicher den Rest des Albums, ich finde aber, dass die schwächeren Songs Zeit zum Atemholen bieten. Und Synchronicity mag auch in seiner Zeit gefangen sein – aber das sind auch die Albend er Beatles. Das sind Moden – und die ändern sich und Synchronicity enthält schlicht einige der besten Pop-Songs der 80er.

Cocteau Twins
Head Over Heels

(4AD, 1983)

Cover – 23 Envelope aka Vaughan Oliver & Nigel Grierson. Haus-Designer für 4AD

Das Schlüsselwort zur Beschreibung des zweiten Albums der Cocteau Twins ist Abwechslungsreichtum. Was eigentlich ein ungewohnter Begriff bei einer Band ist, die exemplarisch für ein Genre steht, das einen doch recht begrenzten Soundkosmos hat. Aber auf Head Over Heels gleicht tatsächlich kein Track dem anderen. Das Debüt Garlands hatte man noch als Post Punk mit Gothic Einflüssen wahrgenommen, auf diesem zweiten kompletten Album der Cocteau Twins wurde aus Post-Punk und Gothic etwas Neues: Das Duo aus Robin Guthrie und Elizabeth Fraser erfand hiermit Dream Pop (oder Ethereal Wave) – und man hört bei der Erschaffung dieses Stils zu. Der gespenstische Opener „When Mama Was Moth“ ist zwar untypisch für das Album, kommt fast ohne Percussion aus, ist aber schon außerordentlich atmosphärisch, mit „Five Ten Fiftyfold“ erschaffen sie dann endgültig den Dream Pop der kommenden Jahre, „Sugar Hiccup“ ist noch verträumter, mag als typischer Cocteau Twins Song durchgehen, das folgende „In Our Angelhood“ hat einen regelrechten Soul-Rhythmus – und so geht es weiter… Elizabeth Fraser benutzt ihre Stimme eher als Instrument, denn als Textträger, der Sound ist natürlich massiv verhallt, aber noch durchstoßen Drums, Bass, Gitarren oder ein Saxofon den Nebel. Beim dramatischen „In the Gold Dust Rush“ trägt die akustische Gitarre durch den Song, „Multifoiled“ hat eine Fiona Apple-Melodie und beweist ein weiteres mal, dass die Cocteau Twins unter all dem Sound auch Songs hatten und der feurige Closer „Musette and Drums“ beschließt ein Album, das in seiner Dramatik, seinem Sound und einen Songs ständig zwischen den Polen der Musik der Cocteau Twins hin und her schwingt – und das damit unverwechselbarer ist, als seine Nachfolger. Head Over Heels bleibt für mich das faszinierendste Album der Cocteau Twins, auch wenn sie mit dem Nachfolger Treasure (’84) und 1990 mit Heaven or Las Vegas noch zulegen würden.

Marillion
Script For A Jesters Tear

(EMI, 1983)

Illustration – Mark Wilkinson. Hat etliche Cover
für Marillion, aber auch für Judas Priest etc.
gemalt

Ich KÖNNTE hier auch das Debüt der Thrash-Legende Metallica loben. Aber das verblaßt bei aller Klasse vor seinen Nachfolgern – und die ’83 in den Plattenläden auftauchenden Neo-Progger Marillion waren auf ihre Weise mit ihrem sehr ausgefeilten Debüt eben auch visionär. Progressiver Rock war durch Punk in die hinterste Ecke geschubst worden – aber sechs Jahre nach der Revolution schienen sich von Punk und New Wave gelangweilte Gymnasiasten wieder mit komplexen Stories, Fantasy und ausgefeilten Instrumental-Passagen in langen Song-Epen beschäftigen zu wollen. Dass die Band aus dem Süd-Osten England’s sich nach JRR Tolkien’s Silmarillion (dem Überbau zu Herr Der Ringe) benannt hatte, zeigt, wes Geistes Kind sie waren. Sie hatten ein paar Jahre lang als reine Instrumental-Band kleine Clubs bespielt, sich beachtliche instrumentalen Skills erarbeitet, dann trafen sie auf den Schotten Derek William Dick aka „Fish“, dessen enorme physische Präsenz und dessen an Peter Gabriel erinnernde Stimme perfekt zu den Songs von Marillion passte. Sie veröffentlichten mit „Market Square Heroes“ eine recht erfolgreiche Single – die nicht auf’s Album kam, ließen auch ihr Live sehr erfolgreiches Epos „Grendel“ aussen vor – und machten mit Script for a Jester’s Tear ganz ehrenhaft ein großes, modernes Prog-Album. Ich will in diesem Rahmen darauf hinweisen, dass es Anfang der 80er mit Pallas, Pendragon oder IQ noch andere Neo-Prog Bands gab – aber Marillion setzten sich mit diesem Album zu Recht an die Spitze des Trends. Man bekam Alles, was man bei Bands wie Genesis in den frühen 70ern geliebt hatte, mit einer moderneren Produktion, mit Passagen, die in dieser Dynamik neu waren, ab und zu sicher auch mit Synth-Sounds, die typisch für das plastic age waren – aber eigentlich war Script… das Album, das man sich von Genesis gewünscht hätte. Zumal mit Fish ein Sänger dabei war, der wie der junge, frische Peter Gabriel klang – der sogar eine breitere Ausdrucks-Palette zur Verfügung hatte. Und Songs wie der Titeltrack, „The Web“, das mitunter fast in Metal reichende „He Knows You Know“ und „Garden Party“ sind perfekt in ihrer Verbindung von Prog und – ja – Pop! Diese Band hatte – auch später noch – ein Händchen für eingängige und zugleich komplexe Songs. Und um den Gitarristen und Bandkopf Steve Rothery kann jede Band Marillion beneiden. Ich habe – bei aller Liebe zu weniger kommerziellen Klängen (’83 z.B. The Fall oder Scott Walker) Marillion sehr oft gehört und bewundert. Ihre Hit-LP Misplaced Childhood mit dem Evergreen „Kayleigh“ ist toll und ihr Album Brave von 1994 ist ein veritabler Klassiker des Progressive Rock…