Das Wichtigste aus 1977 – Der Deutsche Herbst und Elvis‘ Tod – Sex Pistols bis Dennis Wilson

Jimmy Carter wird als 39. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt, in Deutschland sind die Links-Terroristen der Roten Armee Fraktion extrem aktiv – Arbeigeberpräsident Hanns Martin Schleyer wird entführt und ermordet, Deutsche Bank Vorstandschef Jürgen Ponto wird ermordet, in Stammheim bringen sich inhaftierte Mitglieder der RAF um, das Passagier-Flugzeug „Landshut“ wird entführt und von der Sondereinheit der Bundeswehr GSG 9 gestürmt.

All das nennt man später den „Deutschen Herbst“. Derweil finden in Spanien erstmals seit 41 Jahren demokratische Wahlen statt. Der Blockbuster„Star Wars“ kommt ins Kino, der Boxerfilm „Rocky“ mit Sylvester Stallone bekommt einen Oscar und die Disco-Schnulze „Saturday Night Fever“ wird uraufgeführt. Am 16. August stirbt mit Elvis Presley der Mann, der den Rock’n’Roll Urknall erzeugt hat an einer Überdosis Pillen. Auch Marc Bolan (T.Rex) stirbt und Ronnie Van Zant und Steve Gaines von Lynyrd Skynyrd kommen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben, bei dem auch die anderen Bandmitglieder schwer verletzt werden, woraufhin die Band sich auflöst. Musikalisch ist 1977 ein ungemein interessantes Jahr. Etablierte Bands der 70er wie ELO oder Supertramp machen kommerziell recht erfolgreiche Platten, aber vor allem veröffentlichen jetzt all die großen Bands des „Punk“ – nach den epochalen Singles der Vorjahres – ihre Debüt-Alben. Die Sex Pistols, The Clash, The Damned aus dem United Kingdom, in den USA – genauer in New York – The Ramones schon mit ihrem Zweitling – Television, die Talking Heads – alles was im Punk und Post-Punk später mal Rang und Namen hat, macht nun Longplayer. David Bowie und Iggy Pop sind in Berlin und haben den richtigen Riecher für die Musik zur (kommenden) Zeit, Reggae setzt im Gleichschritt mit Punk seinen kommerziellen Siegeszug fort, und auch in „alten“ Sparten wie Country und Folk gibt es interessante Veröffentlichungen, die jedoch von Punk noch wenig beeinflusst scheinen. Punk ist der frische Wind in die stagnierende Entwicklung der Rockmusik – wobei man sich klar machen sollte: Die Masse der Musikhörenden bemerkt das zunächst noch nicht. Die hängt noch an Althergebrachtem – an Pink Floyd und Fletwood Mac, die auch Beachtliches zustande bringen oder eben am aufgeblähten Bombast von Meat Loaf’s Bat out of Hell oder an den Primitivstampfern von Ram Jam, oder am süsslichen Schmalz der ondulierten Softrocker Styx. Vergessen wir die letzten Drei und kümmern wir uns um Wichtiges und Bleibendes wie….

Sex Pistols
Never Mind The Bollocks – Here’s The Sex Pistols

(Virgin, 1977)

Cover – vom Künstler und Situationisten Jamie Reid entworfen. Eine Cover-Ikone

Never Mind the Bollocks – das Debütalbum der Sex Pistols könnte man sicher als eine der wichtigsten Veröffentlichungen des Jahres ’77… der Siebziger…. der Rockmusik bezeichnen. Und zugleich ist es das perfekte Beispiel für den „Ausverkauf“ von Idealen. Es gibt keine Platte, die vom Songmaterial bis zum Coverdesign so sehr für die in dieser Zeit losbrechende willkommene Reduktion steht. Kein Album, das sich so sehr gegen die aufgeblähten Rockismen der Siebziger stellt und keines, das zugleich so wenig mit dem Gedanken, der hinter dem Begriff „Punk“ steht, zu tun hat. Denn Never Mind…. ist in Wahrheit nicht mehr als eine billige Best Of Kopplung der bahnbrechenden Singles der Sex Pistols, und wer die Musik dieser Band erst mit dieser wohlfeilen LP kennenlernte, hatte alles Wichtige verpasst. Sie hatten im Jahr zuvor das gesamte Establishment, Politiker, die Queen, ihre Kollegen und die Musikindustrie verprellt, alles nach dem genialen Masterplan des Impressarios Malcolm McLaren. Und genau damit sprachen sie allen Unterprivilegierten und Wütenden aus der Seele. Sie inspirierten mit ihren Live-Shows und ihrer aufs Notwendigste reduzierten Musik hunderte von Musikern – und machten dann mit der Veröffentlichung dieses Albums – übrigens Monate nach den Alben der anderen Protagonisten des Punk – noch schnell das große Geld, ehe sie als Band implodierten. Aber irgendwie kann es ja auch egal sein. Das Prinzip, dass man von Anfang an dabei gewesen sein muss um „echt“ zu sein, hat schließlich auch eine große Arroganz, und wer 1976 nicht der entsprechenden Peer Group oder gar Generation angehörte, kam naturgemäß zu spät – und bei aller Häme muß man anerkennen, dass in Ermanglung der Singles diese LP mit Songs wie „Holidays in the Sun, „Anarchy in the UK“, „God Save the Queen“ etc unersetzlich ist. Vielleicht also in kleinen Portionen hören, oder zur Erhöhung der Coolness irgendwie die Singles erwerben und dann damit angeben.

The Clash
s/t

(CBS, 1977 )

Design – Roslaw Szybo. Foto – Kate Simon, US-Fotografin, in der Punk-Szene unterwegs

Wer sich ’77 ernsthaft mit Punk und seiner Musik beschäftigt, der kommt am Debüt von The Clash nicht vorbei. Streng genommen ist es (…übrigens Monate vor Never Mind the Bollocks veröffentlicht…) ihre einzige „richtige Punk- LP“ – und es ist vielleicht das wichtigste „Album“ des Punk. The Clash hatten die Energie, die anarchische Haltung, den „Leftism“, den Willen zur Revolution, den man sich heute – im Nachhinein und mit verklärtem Blick – beim Begriff Punk vorstellt. Sie erfüllten somit etliche Klischees. Allerdings teilten sie nicht den selbstzerstörerischen Zynismus der Pistols. Noch wichtiger – und zugleich dem Anschein nach untypisch für Punk – war, dass sie im Gegensatz zur allgemeinen Vorstellung mehr als nur drei Akkorde drauf hatten – was wiederum Basis ihrer weiteren Karriere sein sollte. Auf The Clash allerdings spielen sie vor Allem erst einmal hart, schnell, präzise, simpel und mit ungeheurer Energie. Mit einer Energie, die durch die dünne (Nicht-) Produktion und den unwillentlich reduzierten Sound nur um so deutlicher wird. Mit Sänger Joe Strummer und Gitarrist Mick Jones hatten sie gleich zwei hervorragende Songwriter die auch in dieser frühen Phase schon mit anderen Stilarten experimentierten. Da ist zum Beispiel jetzt schon Reggae (die Cover Version von Junior Murvins „Police & Thieves“), dessen Einfluss auf dem nächsten Album noch sehr viel deutlicher werden sollte. Aber natürlich stehen insbesondere Songs wie „Remote Control“, „White Riot“ oder „London’s Burning“ mit ihren Aussagen, ihrer Rohheit und Energie exemplarisch für den Punk Im Jahr 1977 – dem Jahr mithin, in dem Punk-Bands mit ihren Debüt-Alben in den Augen von Fundamentalisten den Ausverkauf einleiteten. The Clash ist weit mehr als nur Punk – unabhängig von allen Moden höre ich einfach zeitlose, kraftvolle Rockmusik.

The Damned
Damned, Damned, Damned

(Stiff Rec., 1977)

Cover – der von Stiff Rec. beauftragte Peter Kodick.

Nochmal „klassischer“ Punk: The Damned waren die erste Punk-Band mit einem Plattenvertrag, die erste mit einer (erfolgreichen) Single und ihr Debüt – veröffentlicht im Februar ’77 – war die erste LP ihrer Art. Allerdings wollten sie nicht die Welt verändern wie The Clash, negierten nicht die Gesellschaft wie die Sex Pistols – sie wollten Spaß. Dass der Veteran Nick Lowe sie produzierte, war naheliegend, ihr Punk hatte viel mit dem Rock’n’Roll der Stooges gemein – und mit Power Pop, der die Beatles kennt und die Stones und den Pub-Rock der letzten Jahre. Tatsächlich waren sie sogar eher in dieser „Szene“ zuhause. Aber The Damned waren eben auch young, loud, and sloppy, gehörten einer jüngeren Generation an. Der Mann mit den Songs war Gitarrist Brian James und auf dem Debüt gibt es PowerPop/Punk Klassiker wie „Neat Neat Neat“, die Single „New Rose“ und „Fan Club“. Die Band spielt schnell und hart und Rat Scabies prügelt sich mit seinen Drums und Cymbals die Seele aus dem Leib – und die Art in der Dave Vanian sein „bawrnnn to keeel“ herausgröhlt ist unbezahlbar. Damned Damned Damned hat die Jahrzehnte erstaunlich gut überstanden und The Damned haben auch danach noch erwähnenswerte Alben gemacht und damit gezeigt, dass sie mehr drauf hatten als nur einen kurzlebigen Trend zu bedienen. Bands wie Green Day oder Blink 182 haben ihnen definitiv eine Menge zu verdanken.

Wire
Pink Flag

(Harvest, 1977)

Art Direction – Dave Dragon. Auch The Cure’s
Three Imaginary Boys mit dem Kühlschrank…

Punk war -wie erwähnt – eigentlich sofort Geschichte. In New York waren die Bands aus dem CBGB’s teilweise schon seit Jahren aktiv – Patti Smith hatte ihr Debüt-Album schon ’75 veröffentlicht und die Ramones hatten schon ’76 Alles gesagt, was ihnen einfallen würde – im UK hatten die Pistols mit ihren Singles ihr Pulver verschossen und The Clash hatten die Songs ihres Debüts nur noch aufnehmen müssen. Eigentlich sollte es dann wohl nicht verwundern, dass es schon eine Band wie Wire gab. Eine Band, die Punk dekonstruierte. Ihr Debüt Pink Flag ist eine der eigenständigsten Platten des Genres – wenn man sie überhaupt in dieses Genre packen will. Schon mit dem Kurzwellen-Signal Basslauf des Openers „Reuters“ wird einerseits die Simplizität von Punk heraufbeschworen – wenn dann aber die atonalen Gitarrenchords einsetzen und die Stimme von Sänger Colin Newman erklingt, die viel zu wenig nach Rotz und Häme für Punk klingt, wird klar, dass Pink Flag eben mehr ist als nur ein weiteres Punk Album. Ich sollte in diesem Zusammenhang vermutlich klarstellen, dass das Klischee vom saufenden, gröhlenden Misanthropen mit Iro und Bierdose mit Punk wenig zu tun hatte. Punk mag auch „proletarisch“ sein, aber grundsätzlich steht er im Zusammenhang mit der kommenden „Musik nach Punk“ für die uneitle Haltung des „Jeder kann eine Band gründen“ – auch ohne Virtuosität und eine musikalische Ausbildung. So kann man Pink Flag gerne auch als Prog-Rock Suite in 35 Minuten bezeichnen Bestehend aus minimalistischen und eben „nicht virtuosen“ Songschnipseln (Zumal es auf demselben Label wie das neue Pink Floyd Album erscheint…) Tatsächlich ist die Mehrzahl der Tracks unter zwei Minuten lang, Zeit für die Wiederholung eines Refrains lassen die vier Musiker nicht, jedes Stück ist seinen Bestandteilen (Lyrics, Instrumenten, Melodie) vollkommen ökonomisch. Oder man könnte Pink Flag auch als intellektuelle Variante des „Cartoon-Punk“ der Ramones bezeichnen – aber egal was man dazu sagt: Dieses Debüt und die beiden folgenden Alben gehören mit zum Besten, was aus dem kurzen Erblühen des Punk entstand.

The Stranglers
Stranglers IV – Rattus Norvegicus

(EMI, 1977)

Cover – Trevor Rogers.

Die Stranglers werden von denen, die Sparten brauchen, dem Punk zugeordnet – was aber eigentlich falsch ist: Diese Band war schon seit `74 aktiv – also bevor Punk aus New York nach England importiert wurde- Ihre Musik klingt – wenn man genau hinhört – eher nach progressivem Rock als nach Punk. Ein schmutziger Prog-Rock zugegebenermaßen, und wahrscheinlich ist es nur ihre Haltung – der zynische Sexismus, den sie zu dieser Zeit nach außen trugen und die bewusste political incorrectness, die sie in den Topf fallen ließ, in dem sie ihren Stil zusammenkochten. Natürlich hatten sie tatsächlich einen reduzierten, dünnen Sound, aber der wird getragen von einem an die Doors erinnernden Hammond-Organ, und die Songs haben eine grimmige und bedrohliche Aggressivität, die zum Bandnamen passt. Inzwischen sollten die Kategorien unwichtig geworden sein, 1977 aber spielten sie mit den anderen Protagonisten des neuen Sounds bei denselben Konzerten vor demselben Publikum, und auch wenn Songs wie der Closer des Debüt-Albums „Down in the Sewer“ mit mehr als sieben Minuten Länge und mit diversen Tempowechseln für Punk untypisch ist, auch wenn die Band bei „Princess of the Streets“ das Tempo stark verlangsamt, und auch wenn der Opener und etliche andere Stücke nicht bloß vom simplen Grundgerüst Gitarre/Bass/ Drums getragen werden – in seiner Misoygnie und Misanthropie ist Rattus Norvegicus dennoch irgendwie Punk –

The Stranglers
No More Heroes

(EMI, 1977)

Cover – ebenfalls Trevor Rogers

…was auf den Nachfolger No More Heroes noch mehr zutrifft: Hier gaben die Stranglers die zuvor noch eventuell vorhandene Zurückhaltung bezüglich geschmackloser textlicher Aussagen vollends auf. Auf „Dagenham Dave“ wird ohne großes Bedauern vom Selbstmord eines Fans berichtet, „Bring on the Nubiles“ ist offen sexistisch, auf „I Feel Like a Wog“ ätzen sie (immerhin) über Rassismus, kurz: Sie machten ihrem Namen alle Ehre – und die Empörung des Establishments war natürlich einkalkuliert. Die Musik dazu wurde aggressiver – und zugleich poppiger. Einige der Stücke waren schon ein paar Monate zuvor für das Debüt aufgenommen worden, hatten da aber – vielleicht eben weil sie „kommerzieller“ waren – keinen Platz gefunden. Nun zeigte die Band, dass sich Wut und Popmusik tatsächlich verbinden lassen. Die Frage, ob sie „Punk“ seien, werden sie sich nicht gestellt haben, und die Frage nach ihrer Glaubwürdigkeit dürfte sie eher zum Lachen gebracht haben. Dafür bekommt man mit No More Heroes eine Vorstellung von der Art Musik, die nach Punk kommen konnte, die dessen Reduziertheit übernahm und manchmal auch mit zynischer Gewitzheit über das Establishment spottete.

Suicide
s/t

(Red Star, 1977)

Artwork – Timothy Jackson

1977 – und mit diesem Jahr das Ende des Punk und der Beginn all dessen, was man Post-Punk nennen wird – mag ein passendes Jahr für das Erscheinen des Debütalbums des Duos Suicide sein, aber tatsächlich wühlte die Musik der beiden New Yorker Extremisten Alan Vega und Martin Rev den Underdround schon seit Beginn der Siebziger auf. Sänger Alan Vega fühlte sich inspiriert von Elvis und von den selbstzerstörerischen Shows der Stooges Ende der Sechziger, Instrumentalist Martin Rev bediente zur „Untermalung“ des Gesangs ein schrottiges Hammond Organ, ein paar Effektgeräten und ein simples Rhythmusgerät – und damit bekamen die Beiden zunächst ein paar Auftritte im New Yorker Mercer Arts Center. Meist gingen die Shows nach ein paar Minuten in den Buh-Rufen des Publikums unter – aber Rev und Vega fanden das – siehe oben – wohl nicht störend und machten unverdrossen weiter… mit Publikumsbeschimpfung. Bald traten sie im berühmten CBGB’s neben den aufstrebenden Punk-Bands auf, das kleine Label Red Star gab ihnen einen Plattenvertrag und in vier Tagen wurden die jahrelang erprobten Tracks in NY aufgenommen. Der Produzent hatte zuvor mit diversen Reggae-Acts gearbeitet und nutzte seine Erfahrungen mit Dub und Echo dazu, Songs wie „Ghostrider“, „Frankie Teardrop“ oder „Che“ in eine bis dato unbekannte Minimal-Dub-Elektronik mit Gene Vincent Gesangsparts zu übersetzen. Suicide klang wie nichts zuvor – und klingt bis heute wie nichts danach. Bands wie Joy Division, The Jesus an Mary Chain, Ministry oder Nine Inch Nails sind sicher schwer beeinflusst, aber die Musik auf diesem Album ist letztlich unkopierbar geblieben, weil ihre Primitivität nicht gestellt ist, weil das Wissen, dass hier etwas ganz Neues und Unerhörtes entsteht aus allen Tönen zu kriechen scheint. Man stelle sich eine desillusioniertere, von den Geistern des Rock’n’Roll besessene Version der Velvet Underground mit elektronischen Sounds vor – aber auch das wird Suicide nicht gerecht… Wie so viele Alben ausserhalb normaler Kategorien ist die Anzahl der namhaften Bewunderer groß (von Springsteen bis Peaches) -die Derjenigen, die es nie gehört haben aber noch größer. Also…

…was in diesem Kapitel fehlt…

ein paar Worte zu drei essenziellen 77er Alben, die hier aber scheinbar sträflich von mir ausgelassen werden: Da ist Marquee Moon, das vollkommen klassische Debüt von Television. Punk aus den USA war anders als Punk aus dem UK. Und die Musik im Umfeld der Band Television/im Umfeld des CBGB’s war nur mit einem kompletten Artikel über die dort entstandene Szene zu erfassen. Daher lies über…

Television – Marquee Moon
(Elektra, 1977)

…im Artikel Das CBGB’s in seiner Blüte.

Und ’77 geschieht auch äußerst Interessantes in Berlin, wo David Bowie, Iggy Pop und Brian Eno unter dem Einfluss deutscher Elektronik/ Kraut Acts die Musik der kommenden Dekaden erfinden. Insbesondere Bowie’s ’77er Alben…

David Bowie – Low
(RCA, 1977)

David Bowie – Heroes
(RCA, 1977)

…gehören in den Kanon der wichtigsten Alben dieses Jahres. Aber ihnen widme ich das eigene Kapitel Als die Zukunft aus Berlin kam… Also lies dort.

Kraftwerk
Trans-Europa Express

(Kling Klang, 1977)

Cover – Emil Schult. Düsseldorfer Künstler, der
Kraftwerk von Beginn an mit Artwork beliefert

Über die Musik in diesem Jahre zu reden, ohne Kraftwerk zu erwähnen, wäre ein sträfliches Versäumnis. Natürlich hatten sie mit Punk nichts zu tun: Zum Einen war Trans-Europa Express schon ihr sechstes Studioalbum, zum Anderen kamen sie aus einer ganz anderen musikalischen Ecke, war ihre Musik konzeptuell, konstruiert und zu dieser Zeit zugleich in höchstem Maße experimentell. Der Einfluss der Düsseldorfer auf David Bowie allerdings (siehe unten), auf New Wave (= Post-Punk), auf die Musik der kommenden Jahre bis heute, kann nicht überschätzt werden. Sie hatten mit dem 74er Album Autobahn und dann mit dem rein elektronischen Übergangsalbum Radio-Aktivität (1976) schon Alles vorbereitet, was sie auf diesem – ihrem zugänglichsten und archetypischsten Album – nun ausformulierten. Die vielleicht noch an „Krautrock“ gemahnende monotone Rhythmik, einfache Synthesizer-Melodien, die wie Werbeslogans im Ohr haften bleiben, nüchterne, manchmal verfremdete und ebenso sloganhafte Texte und Vocals, die eine futuristische Kälte vermitteln, die dennoch nie feindselig wirkt. Es ist der Sound einer Metropole, die vor technischem Leben summt. Fenster von Wolkenkratzern leuchten blau, Straßenlichter funkeln, Mensch und Maschine leben in friedlicher, gleichförmiger Eintracht. Noch lassen die Songs die Tanzbarkeit kommender Alben vermissen, dafür ist der „Song“ hier noch wichtiger. „Spiegelsaal“, „Schaufensterpuppen“, „Europa Endlos“ als Fortsetzung von „Autobahn“. Trans-Europa Express ist elektronische Musik, die bis heute visionär bleibt und zugleich perfekter Pop ist.

Pink Floyd
Animals

(EMI, 1977)

Cover – Hipgnosis und Roger Waters.
Das Gebäude: Das Kohlekraftwerk Battersea
Power Station

Als Animals 1977 erschien waren seit dem mega- erfolgreichen Vorgänger Wish You Were Here nicht einfach nur zwei Jahre vergangen: Es hatte der hier ausreichend erwähnte Umbruch in der populären Musik stattgefunden: Punk hatte wieder daran erinnert, dass Rock’n’Roll wild, revolutionär, simpel sein konnte, und damit weit mehr Kraft transportieren, weit mehr Spaß machen konnte, als vergeistigte Hippie-Musik oder komplexe Instrumental-Epen von über den Massen schwebenden Superstars. Und Superstars waren die vier Musiker von Pink Floyd inzwischen, dazu auch noch solche, die aus der Hippie-Tradition stammten, deren Musik im Vergleich zum Punk weit weniger unmittelbar erschien. Aber Pink Floyd hatten ja Roger Waters – auch damals schon der ewige Zweifler, derjenige, den der Status als Superstar eher mit Unwillen und Abscheu erfüllte. Und er war der unangefochtene Kopf der Band – oder zumindest war er der Kopf hinter der Entscheidung, ein finsteres und für Pink Floyd regelrecht spartanisches Album wie Animals zu machen. Ein Album, das sich offen an George Orwell’s dystopische Fabel Animal Farm anlehnt, diese aber nicht nur einfach in musikalische Form gießt, sondern deren Elemente für eigene Gesellschaftskritik nutzt. Hier sind die „Pigs“ die heuchlerischen Moralaposteln, die „Dogs“ die Ausbeuter und die „Sheep“ die breite Masse, die unter Beiden zu leiden hat. Und so einfach wie dieses System ist das musikalische Prinzip. Auch Animals hat ein melodisches Thema, das sich durch das ganze Album zieht, das hier nicht so sehr von Synthesizern getragen wird, sondern vielmehr von David Gilmour’s Gitarrensounds. Und die musikalische Stimmung ist düster und spartanisch – heute würde man sagen Pink Floyd klingen, als wollten sie Post-Punk spielen. Es gibt drei den jeweiligen Tieren zugeordnete Stücke, voller für Pink Floyd typischer Effekte und Sounds (z.B. Vocoder-Sounds mit der Gitarre) sowie ein kurzes akustisches Intro und Outro. Animals enthielt keine Hits, es ist ein unbequemes Album, eines, das für alte Hippies erschreckend nihilistisch klingt. Und es galt den Fans der Band seinerzeit als Rückschritt im Vergleich zu den Vorgängern. Das wird heute anders bewertet, Animals ist zwar düsterer als die „Hit-Alben“ der Band, aber es ist zeitlos geblieben – gar besser geworden. Die Musiker spielten diese Songs auf der darauffolgenden Tour – und dann nie mehr, denn danach kam The Wall und dann der Zusammenbruch der Band.

John Martyn
One World

(Island, 1977)

Cover Art – Tony Wright

Ob John Martyn Punk mitbekommen hat? Ich bin mir da sicher – und ich kann mir sogar vorstellen, dass er für die Rückkehr zu den Ursprüngen des Rock’n’Roll Sympathien hatte. Aber mit ihm und seiner Musik hatte das eher wenig zu tun. Er ging seinen eigenen Weg – er kam schließlich vom Folk, hatte Jazz integriert und in den Jahren vor One World daraus seine völlig eigene Musik entwickelt. Nach Sunday’s Child (’75) ging er erst einmal nicht mehr ins Studio und stoppte auch noch das Touren – er war ausgebrannt und wollte Distanz zum Musik-Business und seinen Verpflichtungen. Dann ging er auf Anraten seines Label-Bosses Chris Blackwell nach Jamaika, um dort frische Energie zu tanken, und ein paar dieser „Reggae-Musiker“ kennenzulernen. Dass er mit Lee „Scratch“ Perry hervorragend klar kam, ist kaum verwunderlich – seine Gitarrensounds waren schon früh durch Echo-Geräte gewandert, die tiefen Rhythmen der jamaikanischen Musik dürften ihm gefallen haben – also nahm er an diversen Sessions teil, um dann im Sommer ’77 in England ein neues Album in Angriff zu nehmen. Und auf One World sind die Dub-Einflüsse deutlich zu hören – Da ist das mit Lee Perry geschrieben „Big Muff“, und das betäubende „Small Hours“ und natürlich der Titeltrack. Aber Martyn war sich auch noch seiner Folk-Einflüsse bewusst. Erstaunlicherweise paarte er die auf diesem Album mit regelrecht poppigem Songwriting. Songs wie „Couldn’t Love You More,“ „Smiling Stranger“, oder „Certain Surprise“ verbinden all seine Einflüsse und die neu gefundene Freude an Soundexperimenten mit regelrechter Melodieseligkeit. Man merkt bei One World, dass Chris Blackwell voll hinter Martyn’s neuen Ideen stand. Er produzierte das Album und bot einen Cast von famosen Begleitern auf – Danny Thompson und Dave Pegg aus dem Folk-Umfeld, aber auch Steve Winwood und Morris Pert und Bassist Hansford Rowe. Und aus Jamaika holte er den Trombonisten Rico Rodriguez dazu, der das elegante „Certain Surprise“ mit einem Solo verfeinerte. Das Ergebnis ist völlig entspannt, bietet erstaunliche und organische Sound-Experimente zusammen mit Martyn’s besten Songs. One World ist für mich sein bestes Album. Und das will was heißen.

Fleetwood Mac
Rumours

(Warner Bros., 1977)

Cover – Herbert Wheeler Worthington,
Freund und Fotograf der Band

Ich staune immer wieder, dass Rumours von Fleetwood Mac zur gleichen Zeit wie Never Mind the Bollocks von den Sex Pistols erschienen ist… Aber diejenigen, die ’77 Fleetwood Mac hörten, haben Punk vermutlich nur als unzivilisierten Lärm am Rande wahrgenommen – schließlich zielten Fleetwood Mac schon seit ’75 – seit dem Zugang der US-Amerikaner Stevie Nicks und Lindsey Buckingham – auf den Mainstream. Dass dabei ein solches „Kunstwerk“ herauskam, beweist, dass ’77 nicht nur Punk Spannung bot. Es ist ein veritables Wunder, dass ein dermaßen zerstrittenes Ensemble, in dem Kokain und zerbrechende Beziehungen die Zusammenarbeit eigentlich unmöglich hätte machen müssen, eine solch inspirierten Leistung hinbekam. Man könnte Rumours als Compilation aus den besten Songs von ein paar Individualisten verstehen, die sich gegenseitig mit Sounds und Stimmen aushelfen. Man kann es als Sammlung von Kommentaren zu gegenseitig zugefügten Verletzung hören. Es ist eine Sammlung von vertonten „Rumours“… Und es ist nicht das geringste Verdienst, dass dieses Konglomerat sich trotzdem zu EINEM Album zusammenfügt. Der Sound von trockenen Drums, klaren Gitarren, Keyboards und immer wieder organisch eingebaute Vocal-Harmonies bilden die Klammer. Aber die Amerikanerin Stevie Nicks (die mit Buckingham eine fatale On/Off Beziehung führte) hat definitiv eine andere Art zu komponieren, als die im britischen Blues verwurzelte Christine McVie (die sich nach acht Jahren Ehe gerade vom Bassisten John McVie trennte). Dass Lindsey Buckingham derjenige war, der für eine gewisse Disziplin sorgte, mag stimmen. Aber ohne den Blues-Improvisations Background von McVie, McVie und Fleetwood (der sich gerade von seiner Frau trennte…) wäre nicht das herausgekommen, was wir hier haben. Dass Rumours auf der Oberfläche so harmonisch und sauber klingt, machte es so erfolgreich. Dass unter der glatten Oberfläche – vor allem in den Texten – Verletzung und Wut erkennbar werden, macht es so spannend. Die Aufnahmen gestalteten sich als Mischung aus Kokain-Party und gegenseitigem Ingorieren, der Studiobesitzer berichtete: The band would come in at 7 at night, have a big feast, party till 1 or 2 in the morning, and then, when they were so whacked-out they couldn’t do anything, they’d start recording“. Aber alle drei Songwriter hatten großartige Songs, die in den sieben-monatigen Sessions zusammengebaut wurden und sich sofort 10-millionen mal verkauften. Songs wie Stevie Nicks‘ „Dreams“, Buckingham’s „Go Your Own Way“ oder dass von der ganzen Band komponierte „The Chain“ sind eben perfekte Popmusik mit Stil und Tiefe. Und nochmal erstaunlich, dass die Band danach auf Tour ging und ’80 mit Tusk einen würdigen Nachfolger schaffte…

The Congos
The Heart Of The Congos

(Black Art, 1977)

Cover – Gillian A. Gordon –
Reggae-Cover Spezailist

Vergesst Bob Marley (…nicht. Dessen Exodus ist toll…), aber The Heart of the Congos ist DAS Reggae Album 1977. Und es ist an dieser Stelle die logischere Wahl, nicht nur weil es im Zusammenhang mit John Martyn’s One World steht. Reggae war – zumal in der westlichen Welt – via Punk (siehe The Clash…), via Island Records und durch Bob Marley angekommen. Und so bemerkte derjenige, der zuhörte auch das andere Genie aus Jamaika: Den Produzenten und Hansdampf in allen Gassen Lee „Scratch“ Perry. Der feierte ’77 mit den Upsetters The Return of the Super Ape, dazu kam das Solo-Album Roast Fish, Collie Weed and Corn Bread – aber der ganz große Schlag war The Heart of the Congos. Diese Congos waren ein in Jamaika recht erfolgreiches Reggae-Vocal Duo, bestehend aus Cedric Myton und Roy Johnson. Nach einer Single nahm Lee „Scratch“ Perry , der Boss des legendären Black Ark Studios, mit ihnen und einem Cast aus namhaften Reggae Musikern sein bestes Album auf. Da versammelten sich Könner wie Sly Dunbar (dr), Ernest Ranglin (g), Boris Gardiner (b) und etliche Background Sänger hinter dem Haus von Perry’s Eltern in dessen höchst provisorischem Studio und durften von den Künsten des Produktions-Genies profitieren. Perry hatt schon mit Max Romeo (War Ina Babylon, ’76) und kürzlich mit Junior Murvin (Police & Thieves – auch ’77) Wunderwerke des Roots Reggae gemacht. Hier passte alles noch ein kleines bisschen besser zusammen, als auf deren Alben. Die Stimmung ist sicher eines der wichtigsten Elemente: So entspannt kann man nur sein, wenn man zwar bekifft, dabei aber voll konzentriert ist. Die Produktion lässt alles verträumt in Hall und Echo versinken, die Bässe sind abgrundtief, Drummer Sly Dunbar umspielt die Rhythmen so geschickt, dass er spätestens hier zur Legende wurde. Dazu der perfekte Falsett von Myton und Johnson’s Tenorstimme. Perry holte den beiden mit Watty Burnett noch einen Bariton dazu, so dass drei Stimmen allein schon genug Schönheit boten. Und dann waren ja auch noch diese Songs dabei. Manchmal mag Reggae (für westliche Ohren) eintönig werden. Hier besteht die Gefahr nicht. Allein schon „Fisherman“ ist eine Hymne mit Gospel-Anklänge, die in Dub getauft wird. Dass Heart of the Congos inhaltlich schwer relgiös war, war in der Rasta- Community logisch. Dass dabei tief empfundene Freude mit einer unglaublich schlauen und detaillierten Produktion zusammenfiel machte das Album nach anfänglichem Zögern der Fans bald zum Klassiker.

Dennis Wilson
Pacific Ocean Blue

(Caribou, 1977)

Cover Foto – Karen Lamm Wilson. Dennis‘ Ehefrau

In der Story der Beach Boys ist der zweite Wilson-Bruder Dennis eine vielleicht noch tragischere Figur als der geniale und fragile Bandkopf Brian – der 2020 immerhin noch lebt. Dennis war der Schöne, der Coole, der Surfer (der Einzige nebenbei…), er hatte sich an den Drum-Stuhl gesetzt, weil kein anderes Instrument mehr frei war (und wurde im Studio in der Regel von Session Cracks ersetzt) und er hatte die raue, gebrochene Stimme im Vokal-Verbund. In den Siebzigern, als die Beach Boys aus den Charts verschwanden und höchstens noch als Erinnerung lebten, war er auf Droge und hatte eine dubiose Beziehung zu Charles Manson und seiner mörderischen Family. Aber er entpuppte sich in dieser Phase, in der Mastermind Brian nur noch selten pässlich war, als fähiger Komponist. Insbesondere zum späten Klassiker Sunflower trug er einige wundervolle Songs bei, aber dass er ein komplettes Solo-Album zustande bringen würde, war doch überraschend. Mit Hilfe etlicher Musiker aus dem Umfeld der Beach Boys-Tour Band packte der ungeschulte Musiker einige seiner besten Songs auf dem ersten Solo-Album eines Beach Boys zusammen – und überraschte Alle mit der Qualität und vor Allem Atmosphäre seiner Songs. Mag sein, dass Wilson’s tragische Geschichte – er ertrank 1983 mit Alkohol und Drogen im Blut – den Blick auf Pacific Ocean Blue verklärt, aber Songs wie der „River Song“, „Moonshine“ oder „Rainbows“ sind – ein bisschen wie Rumours übrigens – Soft-Rock mit Tiefe. In diesem Fall aber mit einer einzigartig glühenden spätsommerlichen Atmosphäre. Pacific Ocean Blue könnte kein Beach Boys-Album sein, die Befürchtung, dass er mit seinen Songs für die Boys sein Pulver verschossen hatte, war unbegründet. Pacific Ocean Blue ist genauso wenig experimentell oder avantgardistisch wie Rumours, es ist das Album eines Musikers, der nichts beweisen will – oder gar muss – der seine Stimme als Komponist gerade gefunden hat, der zumindest insofern in sich ruht, als er genau das macht, was er gerade tun will. Es ist genau so, wie man es von dem Gesicht auf dem Cover erwartet. Danach wollte er noch ein zweites Album titels Bambu machen, aber die Drogen ließen seine Karriere immer mehr absaufen. Inzwischen gibt es die Doppel CD ,mit Pacific Ocean Blue + den Bambu-Sessions in sommerlicher Perfektion.

Und wieder: Diese Auswahl

Wie man hier gesehen hat, gibt es ’77 nicht nur die LP-Klassiker des Punk aus England und den USA – aber diese Musik ist für den Fortlauf der Entwicklung der populären Musike enorm wichtig – und Punk selber implodiert fast sofort mit dem Sell-Out der Sex Pistols mit ihrer Never Mind the Bollocks Compilation und mit der Veröffentlichung einer ganzen Reihe von weiteren Alben, denn Punk definierte sich noch im Jahr zuvor hauptsächlich durch das schnelle 7“ Format. All diese Alben waren schon der Sell-Out. Und: Ende der Siebziger gibt es für Musik- Konsumenten noch klare Positionen und Grenzen: Man hört entweder Punk und vielleicht Reggae – oder Genesis, Pink Floyd und Yes, Queen oder das Electric Light Orchestra, oder Fleetwood Mac und Steely Dan. Oder man hört sogar Mist wie Meat Loaf oder Disco (Donna Summer etwa, die sich übrigens auch durch ihre Singles definiert) oder Boney M undsoweiter. Und es gibt – wie immer – Musik am Rande aller Stile, die fantastisch ist (Siehe Throbbing Gristle….). Und etliche schon länger etablierte Künstler entwickeln mehr oder weniger unberührt vom Punk ihre Musik. So gibt es 1977 neben den LP’s des Punk eine Vielzahl hervorragender Alben – die ich auch in anderen Artikeln beschreiben werde