1977 – David Bowie bis Brian Eno – Als die Zukunft aus Berlin kam…

Von 1976 bis 1978 bewohnte (der einstmalige) Glam-Star David Bowie für einige Zeit eine Siebenzimmer-Altbauwohnung in der Hauptstraße 155 im West-Berliner Stadtteil Schöneberg. Damals war die geteilte Stadt bekannt als „Welthauptstadt des Heroins“ – und Bowie hatte absurderweise genau hier vor, irgendwie von seiner Heroin-Sucht loszukommen – und musikalisches Neuland zu betreten

In den Berliner Hansa-Studios wurde zunächst mit Brian Eno und Tony Visconti das Album Low aufgenommen, das den ersten Teil der sogenannten Berlin-Trilogie darstellt. Bowie war von deutschen Bands wie Kraftwerk, Cluster, Can oder Neu!, aber auch von Steve Reich und eben von dem oben genannten – ebenfalls mit den deutschen Bands kollaborierenden – Brian Eno beeinflusst. Eigentlich war die entstandene Musik als Experiment geplant, bei der es nicht um Verkaufszahlen gehen sollte. Zur Überraschung Aller wurde die aus Low ausgekoppelte Single „Sound and Vision“ ein großer Hit, der in Deutschland bis auf Platz 6 stieg, in England sogar Platz 3 erreichte – und das nachfolgende Album Heroes enthielt mit dem gleichnamigen Titelstück sogar einen defintiven signature tune Bowies, einen unübertroffenen Klassiker in seiner Single-Diskografie. Aber das besondere an beiden Alben sind zweifellos die ordentlich auf der zweiten LP-Seite untergebrachten Elektronik-Tracks, denen die Handschrift Brian Eno’s deutlich anzuhören ist. Schön, dass Bowie den Mut hatte, diese Experimente gleichberechtigt zu veröffentlichen, erfreulich, dass es ein Publikum gab, das sich damit beschäftigen musste – und so vorbereitet wurde auf kommende New Wave-Klänge und vielleicht so auf die Musik stieß, die Brian Eno in den letzten Monaten gemacht hatte (daher sind seine beiden ’77er Alben ebenfalls hier untergebracht…). Mit Iggy Pop, der mit Bowie nach Berlin kam und im selben Haus eine Nachbarwohnung bezog, nahm Bowie in dieser Zeit – sozusagen als Erweiterung seiner eigenen Vision von Rockmusik im Gegensatz zur Elektronik – die Alben The Idiot und Lust for Life auf – deren Musik auch größtenteils von ihm geschrieben wurde. Zusätzlich ging er als Keyboarder mit Iggy Pop auf Tournee. Die in der Berliner Zeit entstandenen Bowie- und Iggy Pop-Alben sind am Puls der Zeit – oder sogar ihrer Zeit voraus – indem sie vieles aus dem Post-Punk/New Wave der beginnenden 80er vorwegnehmen. Brian Eno’s Alben mit Cluster bzw. mit diversen Kollaborateuren bewegen sich genau im Umfeld der beiden Elektronik-LP-Seiten der Bowie-Alben und Eno hat in dieser Zeit mit Bowie aufgenommen und ihn stark beeinflusst. Also: Bowie und Eno in einem Zug hören!! Es war allerdings auch das letzte Mal, dass Bowie den Riecher hatte, der ihn in den frühen Siebzigern zum Visionär gemacht hatte. Zum letzten Mal passte für Bowie Alles zusammen.

Kraftwerk – Trans-Europa Express
(Kling Klang, 1977)

Wie in der Einleitung gesagt… Kraftwerk haben Bowie in Berlin sehr beeinflusst. Nicht nur im Sound (der einmalig war), auch im „kühlen“ Image – das bei Bowie immer genauso wichtig war, wie die Musik. Lies über Trans-Europa Express im Hauptartikel ’77

David Bowie
Low

(RCA, 1977)

Cover-Foto – auch vom Film „The Man Who Fell to Earth“ – wie bei Station to Station

Eigentlich hat Bowie’s Aufenthalt in Berlin eine Trilogie von Alben hervorgebracht, es fehlt hier das im folgenden Jahr nach langer Tour mit den gleichen Leuten hauptsächlich in Montreux aufgenommene Album Lodger, das erst ’79 veröffentlicht wird – und ich halte mich an meine Jahres-Einteilung. Und wenn man von Bowie’s Berlin-Phase redet, ist Low der Startpunkt (obwohl der Vorgänger Station to Station schon viele Entwicklungen angedeutet hatte…) und es ist für mich sein bestes Album. Bowie hatte genug vom Image des Thin White Duke, genug von den USA, war nach England zurückgekehrt, hatte dort mit Hitlergruß Fans verstört und war dann mit seiner Ehefrau und seinem Kumpanen Iggy Pop in Frankreich ins Studio gegangen, um The Idiot und Low aufzunehmen. Danach ging er dann mit Iggy nach Berlin, um Kunst zu studieren, sich mit elektronischer Musik zu beschäftigen und den Kontakt zu Brian Eno zu vertiefen. Er suchte neue Ideen und wollte seine Heroin-Abhängigkeit loswerden (was angesichts der Szene in der geteilten Stadt etwas unlogisch scheint – aber sei’s drum…). Low ist ein Album mit zwei unterschiedlichen Hälften, die erste Seite bietet Bowie im Songformat, zwar sind die Vocals schon seltsam gelayert, man bemerkt den Einfluss solcher Elektronik-Acts wie Kraftwerk in den roboterhaften Rhythmen, aber Songs wie das wunderbare „Always Crashing in the Same Car“ zeigen, dass er nach wie vor „Hits“ schreiben konnte. Die zweite Hälfte des Albums aber ist visionär, bildhaft, instrumental, elektronisch und schwierig …und sie ist der Grund dafür, dass man den Namen Bowie bis heute mit Innovation verbindet. Dabei hatte der Produzent und Ambient-Erfinder Brian Eno mindestens genau soviel mit der Musik der zweiten LP-Seite zu tun, wie Bowie selber. Eno hatte Bowie’s Interesse an deutscher Elektronik befeuert – und er war genauso experimentierfreudig. So schufen die Beiden in einer zweigeteilten Stadt ein zweigeteiltes Meisterwerk. Highlight der instrumentalen Seite ist „Warszawa“ – experimentelle Elektronik, die auch heute noch geht. Bowie jedenfalls war Brian Eno sein Leben lang zu Dank verpflichtet – auch für den 2. Teil der Berlin-Trilogie:

David Bowie
Heroes

(RCA, 1977)

Cover-Foto – Masayoshi Sukita. Seit ’72 Jahrelang fotografischer Begleiter Bowie’s

Heroes ist ein Album, das das Konzept und die Ideen von Low nicht nur wiederholt sondern es ausfeilt und um einen gewissen Hoffnungsschimmer erweitert. Das Album ist ebenfalls in eine Song- und eine Elektronik-Hälfte unterteilt, Die LP-Seite 1 (und man sollte beide Alben auf Vinyl hören…) hat mit dem Titelsong einen von Bowies größten Hits dabei, einen Track, der bis heute für den Künstler Bowie steht. Die Rhythmik wurde hier noch mehr ausgearbeitet und betont, und der ebenfalls mit Eno befreundete Ex King Crimson-Kopf Robert Fripp trug sein unheimliches Gitarrenspiel bei. Die Hit-Single „Heroes“ mag den Rest überstrahlen, aber „Beauty and the Beast“ und „Sons of the Silent Age“ sind ebenfalls großartige, songorientierte elektronische Popmusik – und die Ambient-Seite der LP ist sogar noch gelungener und ausgefeilter als auf Low. Bowie begann sich im Experimentierlabor heimisch zu fühlen, Eigentlich sind es Tracks wie „V2-Schneider“ und „Neukölln“, die Bowies Ruhm bis weit in die Neunziger tragen sollten. Ich finde, beide Alben sind – vergleichbar mit Sgt. Peppers von den Beatles oder Kind of Blue von Miles Davis – inzwischen unersetzliches Kulturgut.

Iggy Pop
The Idiot

(RCA, 1977)

Cover-Foto – Andy Kent. Inspiriert von einem Gemälde des Expressionisten Erich Heckel

Und um auf die Prä-Punk-Seite dieser Entwicklung zurückzukommen: Iggy Pop – der wilde Mann der Stooges – war mit Bowie gemeinsam nach Berlin gekommen, und beide müssen sich etliche Nächte gemeinsam um die Ohren geschlagen haben, beide waren Heroin Addicts, und beide erlebten in dieser Zeit in dieser Stadt ihre musikalische Wiedergeburt. Bowie half Pop wahrscheinlich mindestens so sehr wie Brian Eno ihm geholfn hatte. Iggy hatte zwei Jahre zuvor die Stooges aufgelöst und war dann dermaßen im Drogensumpf untergegangen, dass man nicht mehr mit ihm gerechnet hatte, zumal er immer wie ein Musiker gewirkt hatte, dessen Untergang logisch erschien. Mit seinem ersten echten Solo-Album The Idiot bewies er, dass er doch mehr war, als das Proto-Punk Tier. Bowie suchte ihm die Band aus, Bowie schrieb (gemeinsam mit) ihm Songs auf den ausgemergelten Leib, und Iggy verfasste Lyrics von einer Tiefe, die doch sehr überraschend kam. Seine Stimme sank um eine Oktave und das komplette Album bekam eine kraftvolle Tiefe und düstere Eleganz, die es zu einem der besten Alben seiner Zeit macht. Der Hit „China Girl“, das von Krautrock beeinflusste „Nightclubbing“ oder „Dum Dum Boys“ (über seine vorherige Band) wurden zu den feuchten Träume aller kommenden Post-Punk Bands. Wie Low zementierte The Idiot Iggy Pops guten Ruf für die Zukunft

Iggy Pop
Lust For Life

(RCA, 1977)

Cover-Foto – ebenfalls Andy Kent

…und wie Low hat The Idiot in Lust for Life einen gleichwertigen (aber etwas weniger populären) Nachfolger. Was möglicherweise daran liegt, dass der Unterschied zwischen den beiden ersten Soloalben Iggy’s größer ist, als der zwischen Bowies beiden ersten Berlin – Alben. Zwar half Bowie auch hier an den Keyboards aus und produzierte, aber Lust for Life ist Iggy Pop’s selbsverantwortete Rückkehr zum Rock’n’Roll. Immer noch war da eine gewisse düstere Selbstreflektion zu spüren, aber die beiden Brüder Hunt und Tony Sales an Bass und Drums waren ein formidables und kraftvolles Rhythmusgespann, das keine lasche Melancholie zuließ. Gitarrist Ricky Gardiner half nun beim Songwriting und schrieb mit ihm mit „The Passenger“ einen Song, der es mit allem, was die Stooges je gemacht haben, locker aufnehmen konnte. Und Iggy Pop wuchs auch als Sänger. Er hatte offensichtlich Texte geschrieben, die ihm ein dringendes Anliegen waren, die er mit Macht vortragen wollte. Es gelang ihm auf Lust for Life tatsächlich die Wildheit des letzten Stooges Albums Raw Power zu kanalisieren und mit der Intelligenz von The Idiot zu vereinen. Dies hier sind vier Alben, die Berlin als Ort der Inspiration (und als Produktions-Ort) für viele Musiker über Jahrzehnte interessant machten.

Cluster & Eno
s/t

(Sky, 1977)

Cover – Cluster

Und nun der Schritt in Richtung Experiment – genauer – in Richtung der Musik, die Bowie nach Berlin geführt hatte, und die ihn mit dem Ex-Roxy Music Innovator Brian Eno zusammenbrachte. Wie oben beschrieben teilten Bowie und Eno ihr Interesse an Bands und Musikern aus der Kraut- und Elektronik-Szene Deutschlands. Brian Eno war Bowie in deren Kenntnis um einiges voraus: Er hatte im Vorjahr mit den beiden Cluster-Musikern Rodelius und Moebius und dem Neu! Gitarristen Michael Rother – die gemeinsam seit ’74 das Projekt Harmonia betrieben – ein Album eingespielt, dass leider zwanzig Jahre lang unveröffentlicht blieb. Immerhin aber kam im August ’77 sein musikalisches Projekt mit den beiden Cluster-Musikern als LP raus. Eine in jeder Hinsicht befriedigende Kollaboration, Zu dieser Zeit mögen diese Sound-Experimente noch ziemlich ungewöhnich geklungen haben – heute sind sie vielleicht nicht mehr überraschend – aber immer noch haben sie ihren Reiz: Das Moog-Vibrato bei „Schöne Hände“ klingt nach der Spannung bei der Erforschung eines feindseligen, fremden Planeten, Bei „Wehrmut“ und „Mit Simaen“ steht das Piano im Vordergrund, aber die wenigen Töne werden von Fremdgeräuschen aus dem Synthesizer aus der Klassik-Ecke in die experimentelle Musik verschoben. Die Musiker schaffen es u.a. durch die Kürze der Stücke, aber auch durch ihr Ohr für Melodie, dass diese „ambiente“ Musik nicht zur Klangtapete wird. Can Bssist Holger Czukay und Synthesizer Koryphäe Asmus Tietchens helfen hier und da aus, aber es sind Cluster und Eno zusammen, die den Mehrwert bewirken. Dies war ’77 die perfekte Synthese aus Krautrock und Eno – es ist das, was die Namen der Musiker versprechen… und es zeigt, wie viel Einfluss Cluster auf Eno hatten… den Eno dann an Bowie weitergab. Eno jedenfalls ging einan Monat nach den Aufnahmen nach Berlin, um an “Heroes“ mitzuarbeiten – und Ende ’77 kam sein fünftes Solo-Album heraus.

Brian Eno
Before And After Science

(Polydor, 1977)

Cover – Cream…

… und so kann man Before and After Science als eine Zusammenfassung der künstlerischen Entwicklungen und Ideen Eno’s in den letzten Jahren betrachten. Die Entstehung dieses Albums zog sich tatsächlich über zwei Jahre hin – und so sind viele Einflüsse aus diesem Zeitraum hier wiederzufinden. Es ist das letzte Album (für lange Zeit), auf dem Eno singt, es ist das letzte Album, das in manchen Momenten ein bisschen verschämt „Pop“ sagt. Eno hatte zwei Jahre zuvor dem Art-Pop seiner ersten Alben nach Roxy Music abgeschworen und in den letzten beiden Jahren meist instrumentale „Ambient“ Musik von funktionaler Schönheit gemacht. Er hatte – wie oben beschrieben – mit den Pionieren von Harmonia/Cluster zusammengearbeitet- die auch hier mitmachten – und er kehrteauf einigen Songs von Before and After Science noch einmal zum Songformat incl. Gesang zurück. Aber Eno ist ein Musiker, der seine Erkenntnisse nicht einfach beiseite schieben kann, er lässt neue Ideen organisch in seine Arbeit einfließen. So gibt es auf Before and After Science Ambient mit Vocals, sogar mit den dazu passenden Lyrics. Es gibt aber auch Uptempo Stücke, die auch auf Here Come the Warm Jets gepasst hätten – Songs wie „Kings Lead Head“ (mit Free Drummer Andy Fraser und einem Titel, der ein Anagramm für den Bandnamen Talking Heads ist – die er bald produzieren würde..) und das wunderbar fließende „Here He Comes“ – Art Pop in schönster Ausführung, „Backeater“ bekommt seine Motorik von Can’s Jaki Liebzeit, Fred Frith streut Gitarrensplitter über das ganze Album, aber das Beste und Neueste an diesem Album sind die vier abschließenden Ambient-Stücke.:„Julie With…“ ist der schwebende Trip durch einen halb-erinnerten Traum, „By this River“ ist Minimalismus par Excellence – geschrieben und eingespielt mit den beiden Cluster Musikern, „Through Hollow Lands“, ist pure Atmosphäre und das Schönste sind die viereinhalb Minuten von „Spider and I“. Pure Majestät, eine außerweltliche Gospel Hymne. Nur Talk Talk und Mark Hollis auf seinem Solo-Album würden später auf ähnlich elegante Art eine vergleichbare Atmosphäre erzeugen.