Das Wichtigste aus 2012 – Bankenkrise, Wetterextreme, der arabische Frühling ertrinkt in Blut – Kendrick Lamar bis Converge

Wie 2011 steht auch 2012 im Zeichen des arabischen Frühlings – viele Menschen in den arabischen Ländern hoffen auf den demokratischen Wandel – andere aber wollen strenges islamisches Recht, und diese Differenzen werden nun in Ägypten, Syrien, Saudi-Arabien etc blutig ausgetragen.

Letztlich sind die religiösen Fundamentalisten in diesen Ländern wieder einmal nicht bereit, andere Denk-und Lebensweisen gelten zu lassen. Europa hat derweil viel mit seinen durch hemmungslosen Wirtschaftsliberalismus losgetretenen Problemen zu tun. Euro-Krise, Bankenpleite, Staatsschulden – Reiche werden in der Krise noch reicher, der Rest bezahlt – und somit scheitert die einst „soziale“ Marktwirtschaft, was wiederum viele Menschen in rechten oder linken Extremismus treibt. Zwar schaffen wir es, eine Sonde auf den Mars zu schicken, die uns Bilder einer roten Wüste schickt, aber das Klima hier auf Erden spielt weiter ungehindert verrückt. In der Karibik und den USA richtet Hurricane Sandy gewaltige Schäden an und im Sommer kommt es in den USA zu einer Jahrhundert-Dürre während in Europa im Februar 600 Menschen bei einer Kältewelle sterben und in der Arktis das Eis im Rekordtempo schmilzt. Die Toten im Pop-Business: Adam Yauch von den Beastie Boys, Terry Callier und Donald „Duck“ Dunn von Booker T. & the MG’s. 2012 ist wieder nicht mit musikalischen Innovation gesegnet, aber die gibt es schon lange nicht mehr. Die Ausformulierung, Kombination und Ergänzung von Stilen scheint das probate Mittel zu sein, neu klingendes zu schaffen. Natürlich ist elektronische Musik in allen Nischen immer wieder mit tollen Alben, Mixtapes oder EP’s dabei. 2012 ist aber auch ein Jahr für alte Helden: Young, Dylan, Scott Walker, Donald Fagen und nach 30 Jahren auch Bill Fay machen schöne Platten. Auch die Swans mit The Seer sind keine jungen Spunde. Eine gewisse Lana Del Rey macht als YouTube Phänomen mit 50ies Ästhetik alles richtig und wird nach kurzem Hype von den Hipstern für ihr kalkuliertes Image ausgeschimpft. Im Black Metal ist es – für die, die das mögen – ein gutes Jahr, im HipHop gibt es mit Kendrick Lamar einen neuen Hoffnungsträger, der – wie Andere (Frank Ocean…) – zuvor Mixtapes ins Netz stellte und auf diesem Wege Popularität fand. Es gibt etliche Künstler, die in diversen Sparten schöne Musik machen – man muß nur suchen – und findet dann Schätze wie die junge Folksängerin Angel Olsen oder den alten Folkmusiker Steve Tilston, oder oder… oder auch Müll wie den süüüßen Teenie-Star Justin Bieber, oder die ach so niedlichen Owl City, oder Muse’s inzwischen unerträglich aufgeblähten Stadion Pomp, oder die sportlichen Schönlinge von Maroon 5, die allesamt das Radio und die Download Charts beherrschen. Im Vergleich sind Adele mit ihrem 21-Album oder Taylor Swift mit ihrem Country-Pop auf Red sogar richtig gut

https://music.apple.com/de/playlist/der-gro%C3%9Fe-rockhaus-2012/pl.u-GgA5kvBCZXEJG0N

Kendrick Lamar
good kid, m.A.A.d city

(Interscope, 2012)

Keine Innovation in 2012? – Denkste! – Immerhin gibt es Kendrick Lamar, den 25-jährigen aus Compton/CA, der schon früh als K-Dot diverse MixTapes auf die Welt losgelassen hat, der 2011 unter seinem bürgerlichen Namen mit Section.80 ein erstes Studioalbum veröffentlichte – zunächst nur als Download – der vom Who’s Who des HipHop zu Recht gelobt und hofiert wird, der dem HipHop tatsächlich neues Leben einhaucht. Auch wenn er so gesehen doch nichts Neues macht? Der Erfolg von Section.80 führt zum Major-Vertrag und als good kid, m.A.A.d city erscheint, ist der Hype um Lamar schon so weit gediehen, dass es kein Wunder wäre, wenn das Album eine Enttäuschung wäre. Aber nichts da – Auf seinem Debüt hatte Lamar das Lebensgefühl seiner „Generation Z“ einfühlsam, klug und elegant beschrieben, das Leben in Zeiten von Polarisierung, Politisierung, Radikalisierung, wirtschaftlichem Niedergang, systematischem Unrecht insbesondere gegenüber Schwarzen, mit seinen Symptomen wie Drogenmissbrauch, Gewalt, Wahnsinn dargestellt… und er hatte all das so beschrieben, dass man zuhören musste. Das neue Album nun ist autobiographischer geprägt. Lamar beschreibt seine Jugend in Compton, in den von Gangs, Drogenhandel und Polizeigewalt beherrschten Strassen, er nutzt seine beträchtlichen Skills, um aus verschiedenen Perspektiven diverse Personen und Situationen zum Leben zu erwecken, er hat die Story und er hat die Texte und er bietet eine erlesene Gästeliste auf – mit Drake, Jay Rock und Dr. Dre (der auch aus Compton stammt). All das wird noch getoppt von Genre-Grenzen überschreitenden, ideenreich produzierten Tracks wie „The Art of Peer Pressure“ oder „Good Kid“. good kid, m.A.A.d city ist eine glaubhafte Coming-of-Age Story im klassischen Sinn, musikalisch auf dem neusten Stand, klug und elegant. Dass Lamar seine Stadt und seine Familie mit einer Mischung aus Liebe, Solidarität und Enttäuschung sieht, ist völlig authentisch, die Lyrics werden nicht umsonst bald in akademischen Kreisen als Lehrmaterial herumgereicht. Die Tatsache, dass Lamar’s Stimme (in meinen Ohren) nicht die angenehmste ist, hat mir den Zugang zunächst schwer gemacht, die schiere Musikalität von good kid, m.A.A.d city aber ist überwältigend, man MUSS allerdings die Lyrics lesen und verstehen, um den kompletten Zugang zu finden. Dann wird es nicht nur zu einem modernen Klassiker des HipHop, sondern zu einem Klassiker der modernen populären Musik.

Frank Ocean
channel ORANGE

(Def Jam, 2012)

Als ich die drei Mixtapes von The Weeknd im „Hauptartikel“ des Jahres 2011 beschrieb, habe ich postuliert: R’n’B hat inzwischen eine Relevanz, die ich bislang vermisste. Christopher Edwin Breaux aka Frank Ocean’s 2011er MixTape Nostalgia, ULTRA war genauso gelungen wie The Weeknds Trilogie – und auch wie Kendrick Lamar’s Section.80 – aber er veröffentlicht 2012 mit channel ORANGE ein noch besseres Album. Ocean hatte zunächst als Songwriter für andere – u.a. für John Legend – gearbeitet, hatte sich 2010 dem innovativen HipHop-Kollektiv Odd Future angeschlossen, dessen Earl Sweatshirt auf channel ORANGE mitwirkt. Ocean bezieht sich mit dem Titel auf das Phänomen der Synästhesie – der sinnlichen Verbindung von Gefühlen mit Farben – in seinem Falle die Verbindung der Gefühle seiner ersten Liebe mit der Farbe Orange. Es muss ein sehr schöner Sommer gewesen sein – das Album fühlt sich an, wie eine lange warme Sommernacht mit Freunden und dem/der Geliebten. Um seine sexuelle Orientierung machte Ocean keinen Hehl – das Thema wurde nach der Veröffentlichung des Albums via Tumblr ausführlicher behandelt, als vielleicht nötig, es lenkte zeitweise von seiner Musik ab – aber die Liebe, von der er hier singt, verstehe ich als universell. Die Art WIE er dieses Album gestaltet, ist beeindruckend. Mal singt er im Falsett („Pink Matter“ – mit Cameo von OutKast’s Andre 3000), mal erinnert er an Marvin Gaye, wenn er mit sich selber im Duett singt, er verbindet – genauso undogmatisch wie Kendrick Lamar – Pop, HipHop und Psychedelic mit Soul und R&B und er beweist ein ums andere Mal sein Talent als Songwriter, der sich nicht um althergebrachte Strukturen scheren will. Das zentrale „Pyramids“ verbindet feine Melodik mit psychedelischen Sound-Exkursen, das darauf folgende „Lost“ wäre eine formidable Hit-Single, lässt beste Erinnerungen an Prince – zu der Zeit, als er noch richtig aufregend war – aufkommen, und der als Single ausgewählte Opener „Thinkin‘ Bout You“ steht dem mit seiner Melodie incl. Widerhaken in Nichts nach. Man kann auch diesem Album das Wissen um Jahrzehnte Popmusik anhören, aber wenn ein solcher Brocken an Kreativität das Ergebnis all diesen Wissens ist… channel ORANGE überschreitet genau wie good kid, m.A.A.d city mühelos stilistische Grenzen – und beide Alben treffen sich irgendwo in der Mitte – dort wo Musik einfach als Musik existiert. Beide Alben sind unersetzlich und gehören zu den Wichtigsten ihrer Zeit.

Swans
The Seer

(Young God, 2012)

Seit Michale Gira die Swans 2010 wieder aktivierte, legte er eine erstaunliche, verspätete „Karriere“ hin. Auf einmal schien es so, als würde der Noise Rock der Swans, der doch früher immer zu kompromisslos für breitere Massen war, nun ein Publikum finden, das zwar immer noch nicht Mainstream war, das aber doch so groß war, dass folgerichtig auch Medien und Zeitschriften verstärkt über die Band berichteten, die sie sonst nur von ferne beobachtet hatten – was dann wieder dazu führt dass ihre Alben über den Klee gelobt wurden. Die Frage war, ob die Swans massenkompatibler geworden waren, oder ob vielleicht eine neue, junge Generation von Musikhörern herangewachsen war, die offenere Ohren für Extreme hatten? Ich vermute Letzteres und denke, man kann als Beweis dafür ganz trefflich The Seer anführen. Wirklich viel hatte Gira an seiner Musik nicht geändert: Auf den Studioalben der Swans waren es fast immer simple Tonfolgen – machmal gar nur zwei Töne – die zu riesigen Ungetümen aufgebaut wurden, die variiert, verkleinert, wieder erhöht und zum Zusammenbruch gebracht wurden. Dazu dystopische Lyrics oder Satzfragmente, die Michael Gira als Wanderprediger und Scharlatan den Gläubigen vor die Füße warf. Der Unterschied zwischen den legendären Konzerten und den Alben: Live wurde nicht mit Dynamik gespielt – es gab nur sehr laut und noch viel lauter. Man badete von Anfang an in einem Meer aus Noise. Auf den Alben aber gab es ruhige Momente, die Dynamik war entscheidend, manche der weniger ausgedehnte Stücke rückten durch bewusste Reduktion in Richtung Folk-Musik – ausgehend von Gira’s Erfahrungen mit seinen Folk-Alben als Angels of Light. Das über 30-minütige Titelstück – aufgebaut auf einem einzigen Ton – war nah am Tonnengewicht eines Konzertes. Der Unterschied: Die Instrumente klangen differenzierter – was insbesondere der Lap-Steel von Kristof Hahn gut stand – und man kann die Lautstärke selber wählen. Das tribalistische Drumming von Thor Harris machte dessen Vornamen Ehre, beim regelrecht „schönen“ und kurzen „Song for a Warrior“ gastierte Karen O von den Yeah Yeah Yeah’s, dafür waren die beiden finalen Jam’s „A Piece of the Sky“ und „The Apostate“ mit jeweils ca 20 Minuten Länge wieder gewaltige Brocken. The Seer ist zwei Stunden Musik, die wirklich in jeder Hinsicht anstrengend sind. Swans haben sich also eigentlich nicht groß verändert, aber Gira nannte dieses Album die „…culmination of every previous Swans album“. Frühere Alben kamen mit ähnlichen Mitteln zu vergleichbaren Ergebnissen, und damals wie heute konnte man sich daran stören, dass Swans die Leere zu unendlicher Größe aufgebläht haben – oder man verliert sich in ihrem Meer aus Lärm. Da ist Michael Gira ehrlich. Bei seiner Musik mit den Swans war das Ziel immer die Katharsis.

Godspeed You ! Black Emperor
‚Allelujah! Don’t Bend! Ascend!

(Constellation, 2012)

Eine andere Band (mit weit kürzerer Historie), ein ähnliches Ziel. Die Musiker des Kollektives Godspeed You! Black Emperor haben vor ‚Allelujah! Don’t Bend! Ascend! (…nur echt mit Ausrufezeichen!!) ebenfalls zehn Jahre pausiert bzw. sind diversen Nebenprojekten nachgegangen, auch ihrer Musik wird eine kathartische Qualität nachgesagt – nach dem Hören ihrer Musik ist man zugleich erschöpft und erlöst, aber wo Swans einen Koloss aus Stahl auf tönerne Füße stellen, damit alles zusammenbricht, da lassen Godspeed einen hölzernen Koloss in Flammen aufgehen. Heißt: Ihre Musik klingt organischer, ihr Ansatz ist immer ein gesellschafts-politischer oder ökologischer, und ihre Musik formuliert diese Kritik ohne Textblatt. Sie drehen sich nicht so sehr um sich selber und um das Prinzip „laut – und dann noch lauter“, sie sind dynamisch – und waren das von vorne herein, weshalb sie in der Post-Rock Schublade abgelegt wurden. Aber für diese Schublade waren sie immer zu groß, zu vielschichtig, was sie wiederum in eine ähnliche Position wie die Swans hebt. So beginnt ‚Allelujah! Don’t Bend! Ascend! mit dem Titel „Mladić“, bezogen auf den bosnisch.serbischen General, der im Jugoslawien-Krieg das Massaker an Männern, Frauen und Kindern in Srebrenica befahl, der die mörderische, vierjährige Belagerung von Sarajevo mit einer Unzahl an zivilen Opfern befehligte. Und bei Godspeed reichen der Titel und die instrumentale Darstellung, um Mladić’s Gesicht und die schrecklichen Kriegsbilder wach zu rufen. Die folgenden Stücke sind nicht so expliztit betitelt, aber ihre Sound-Ästhetik ist eine ähnlich dunkle – im Vergleich zu Swans waren Godspeed immer etwas variabler, hier nutzen sie Elemente osteuropäischer Musik, es gibt ruhige Passagen, allein mit Violine, Bass und Percussion, man hält ständig den Atem an und erwartet eine neue Explosion. ‚Allelujah! Don’t Bend! Ascend! mag nicht ganz so überwältigend sein wie das 2000er Meisterwerk Lift Your Skinny Fists Like Antennas To Heaven, allein schon weil es kürzer ist – sowohl kürzer als Antennas als auch als The Seer – aber Godspeed sind wieder nah dran. Wenn man so selten Alben veröffentlicht, dann sollte jedes Neue auch groß sein, und das zumindest ist ihnen hier gelungen. Neben The Seer der zweite schwere Brocken des Jahres 2012.

Lana Del Rey
Born To Die

(Universal, 2012)

Lana Del Rey – zuvor als Lizzy Grant unterwegs – ist eines der musikalischen Phänomene, die in dieser Form nur im YouTube-Zeitalter entstehen können. Sie ist die personifizierte Teen-Girl Fantasie, aufgeladen mit den 50er-Jahre US-Symbolen einer (damals noch) heilen Welt, über der aber auch bedrohliche Wolken stehen. Eine Pop-Vision, zusammengebaut aus Bildern von David Lynch, Marilyn und Disney. Sie eroberte 2011 das Internet mit unscharf verwackelten, angeblich mit der Webcam selbst-aufgenommen-Videos, mit dem ersten Hit „Video Games“, mit einer Unschuld, die von Hipstern erst geliebt und dann als aufgesetzt und manipulativ gedisst wurde. Dass sich die Missgunst der Glaubwürdigkeits-Dogmatiker schnell gegen Lana Del Rey’s (… allein der Name… stylish…) Äußerlichkeiten richtete, zeigt, wie billig diese Häme ist. Denn unabhängig von den möglicherweise ausgedachten image-bildenden Massnahmen lieferte sie mit Born To Die ein komplettes Album ab, das die Klasse der fehlerlosen Singles nur bekräftigte. Das Tempo des Albums ist entweder langsam oder sehr langsam, man wiegt sich vom Opener „Born to Die“ bis zum abschliessenden „This Is What Makes Us Girls“ in einer lauen Sommer-Brise, Del Rey’s Stimme klingt melancholisch bis leicht gelangweilt, sie hat sich mit ihrer Rolle als schönes, tragisches bad girl abgefunden, kann nicht anders. Die Singles „Video Games“, „Blue Jeans“ und „Summertime Sadness“ haben sich als erstaunlich robust erwiesen, sind bis heute nicht abgenutzt – obwohl sie im Radio zu Tode gespielt wurden. Der Sound des Albums verbindet Elemente des Twin Peaks Soundtracks mit 50er Jahre Twang, üppige Orchestrierung mit klug versteckten Elektronik-Spielereien. Und sehnsüchtige Songs wie „National Anthem“, kommen sogar ohne ikonische Videos im Film-Script Format aus. Die Tatsache, dass Lana Del Rey’s Image so originär auf sie zugeschnitten war, dass es keine Imitatoren gab, dass ihre Musik eigenständig blieb und mit feinen Justierungen auch für etliche weitere Alben reichte, sollte Zweifler davon überzeugen, dass es vielleicht doch nicht verwerflich ist, seine Karriere auf einem durchdachten Image aufzubauen – wenn es auf einem stabilen musikalischen Fundament ruht. Schließlich ist das doch auch ein Prinzip von Pop…

Mount Eerie
Clear Moon

(P.W. Elverum & Sun, 2012)

Hier jetzt ein Solitär, der hier erneut auftaucht: Phil Elverum hatte seit 1996 in ständigem Fluss eine ganz erstaunliche Anzahl von immer wieder neuen Ideen in Album-Formen gegossen. Spätestens sein 2001er Meisterwerk The Glow Pt. 2 – noch unter dem Namen The Microphones – machte ihn unsterblich (für die, die ihn bemerkt haben – lies meinen 2001er Hauptartikel). Nachdem er 2003 von Olympia nach Anacortes gezogen war, beschloss er sich neu auszurichten, benannte sich nach dem letzten Microphones Album Mount Eerie (…das sich ebenfalls sehr lohnt zu hören…) und erforschte weitere Winkel seiner Vision von „Folk“. Der Mann kannte keine Grenzen, er hatte ein Ohr für Melodien und ein sehr sensibles Händchen für kluge Arrangement-Ideen. Natürlich blieben ein paar Elemente immer unverändert: Die Stimme blieb zurückhaltend, verschwand manchmal fast, eine akustische Gitarre war oft die Basis seiner Songs. Aber bei Clear Moon spielte er mit Drones, erschuf eine „mondsüchtige“ Stimmung. Seine Ehefrau, die Comic-Zeichnerin und Musikerin Geneviève Castrée sang auf Tracks wie dem wunderbaren „The Place I Live“ geisterhafte Vocal-Parts und der melodische Reichtum allein hätte Clear Moon schon zu einem aussergewöhnlich Album gemacht. Und wenn dann bei „House Shape“ seltsame Kraut-Motorik auf Synth-Drones und Folk-Melodik trifft, wird man wirklich mondsüchtig. Aber dann kommt „Over Dark Water“ (…der Titel allein…) und Black Metal-Gitarren und hymnischer Frauengesang und explodierende Drums setzen ein… und dennoch bleibt dieses Album „logisch“, dennoch passt alles zusammen. Das war seine große Kunst – seine Alben bauten auf eine übergreifende Idee, die disparate Elemente miteinander versöhnen konnte. So war es fast logisch, dass er aus weiteren, einem anderen Konzept folgenden Elementen der Sessions zu Clear Moon dessen dunklere Fortsetzung Ocean Roar machen konnte…

Mount Eerie
Ocean Roar

(P.W. Elvrum & Sun, 2012)

Das Album beginnt schon mit einem hartem, hypnotischem Groove, der schnell fast im Nebel verschwindet, ehe Elverum’s Stimme einsetzt, ein paar Zeilen singt, bis eine sinistre Orgel einsetzt und der Noise wieder aus dem Nebel auftaucht. Das ist jetzt sicher kein Folk mehr. Es ist – allerdings mit den bewusst beschränkten Mitteln, die Elverum nutzte – ein meisterlich arrangiertes und komponiertes Stück Folk/Metal/Drone. Und wieder gelang es ihm, all die Elemente organisch zu verbinden. Für Ocean Roar vertiefte er die Kraut- und Drone-Ideen, holte ein paar Musiker dazu, spielte nun im Band-Kontext. Hier sind die Einflüsse von Bands wie Burzum, Wolves in the Throne Room und Nadja sicher deutlicher. Elverum erwähnte explizit deren Einfluss und nannte Ocean Roar den Widerpart zum Vorgänger, …“a total wall of blue-grey oceanic fog, a half remembered dream of a trip through dense old growth hills to the gnarly winter ocean, in the middle of the night, decades ago„… Ja. Elverum arbeitete auf diesen beiden Alben Stimmungen aus, er wusste aber eben auch immer, was ein guter Song braucht. Tatsächlich coverte er auf Ocean Roar „Engel der Luft von der Kraut/New Age Band Popol Vuh – einen Song des Soundtracks zu Werner Herzog’s Fitzcarraldo. Machte aber auch daraus eine Black Metal-Messe. Die BM-typische brachiale Gewalt ist auf Ocean Roar bestimmend – was es vielleicht zur ungeliebteren Hälfte dieses Gesamtwerkes machte. Und als das muss man die beiden Alben betrachten. Elverum selber veröffentlichte beide Alben im Abstand von ein paar Monaten, weil sie „…too much for listeners to take...“ wären. Toll, dass beide Alben dann doch irgendwann als Doppel-Vinyl gemeinsam veröffentlicht wurden.

Neil Young and Crazy Horse
Americana

(Reprise, 2012)

Wie gesagt: 2012 ist auch ein Jahr der Veteranen. Und hier ist der Kanadier Neil Young, dessen Karriere 2012 schon 50 Jahre andauert (und der auch in 10 Jahren noch weiter machen wird…). Einer, dessen zweites Solo-Album von 1969 schon ein Klassiker war. Einer, der in meinen Haupt-Artikeln über Dekaden ständig wiederkehrt. Inzwischen hatte Young begonnen, seine riesigen Archive zu sichten, zu zeigen, dass er in all den Jahren noch weit kreativer war, als man an seinen regulären Alben sehen konnte. Und zwischen den Arbeiten am Archiv nahm er sich Zeit, „neue“ Musik aufzunehmen. Immer wieder in leicht umgebauten Konstellationen, mit Variationen und Dehnungen im so leicht wiedererkennbaren Sound. Er hatte den jugendhaften Forschergeist nicht verloren, bewegte sich aber in einem Koordinatensystem, das man naturgemäß „altmodisch“ nennen konnte. So holte er seine alten Kumpels von Crazy Horse ins Studio, und spielte erst einmal Cover-Versionen der klassischsten Traditionals, die überhaupt denkbar waren. Tracks wie „Oh Susanna“, „Tom Dula“, „This Land Is Your Land“ (mit Stephen Stills…!) mögen in Europa bekannt sein – un den USA sind das wahrlich worn-out tunes, Songs, die man von Geburt an gehört hat, die US-Versionen von „Alle meine Entchen“. Und es funktionierte: Der Sound dieser Band, Young’s Stimme, seine ureigene Art Gitarre zu spielen, Songs zu zermahlen, lässt diese Klassiker vielleicht nicht „neu“ erstrahlen – aber sie sind anders, als man sie kennt. Denn Young war gut in Form, seine Stimme allein machte die Tracks zu NY-Versionen. Dazu diese Garagen-Band, dazu eine Dringlichkeit und eine offensichtliche Begeisterung für das Projekt… eine erkennbare Liebe zu diesen Songs. Die werden im Booklet ausführlich erklärt, es wird darauf hingewiesen, dass Zeilen hinzugefügt wurden, die wegen ihrer Grausamkeit gerne weggelassen worden waren. Und so wurde Americana zum eindeutigen Neil Young and Crazy Horse Album. Die relativ geringe Beachtung ist allein der Tatsache geschuldet, dass man von Neil Young eigene Songs erwartete. Die gute Form der Musiker macht Americana zu eine Album, das man entdecken sollte.

Neil Young and Crazy Horse
Psychedelic Pill

(Reprise, 2012)

Und WIE gut er und seine Kumpanen in Form waren, sah man ein paar Monate später auf dem bezeichnend benannten Album Psychedelic Pill (Album No. 32…!). Dieses ganz andere Ende seiner stilistischen Koordinatensystems hatte er tatsächlich bei den Sessions zu Americana aufgenommen. Er überhöhte, verlängerte, drehte und dehnte diesmal eigene Songs und Stimmungen in eine psychedelische Unendlichkeit, in die er zuvor wohl noch nie so tief geblickt hatte. Man kann wohl zu Recht annehmen, dass er die Tracks zu dieser 3-fach LP/Doppel CD aufnahm, um mit seiner Band in einen bestimmten Flow zu kommen. Eine Session-Stimmung übrigens, die man auf Americana durchaus wiederfindet. Aber wo er sich auf dem einen Album an Vorlagen halten will, da lassen diese Musiker auf Tracks wie dem 27-minütigen Opener „Driftin‘ Back“ völlig los. Ein Song, bei dem sie sich in Trance spielen (wollen), der wieder eine dieser ganz simplen Melodien hat, in dem er sich an alte Zeiten erinnert, der sich für keine Minute schämt, weil die Band sich hier gänzlich im Song auflöst. Nicht alle Tracks auf Psychedelic Pill werden so behandelt. Der Titelsong ist ein typischer Rocker, kraftvoll und mit altmodischem Phaser-Effekt ausgestattet. „Ramada Inn“ aber hat dann wieder diese wunderschönen Gitarren-Spielereien, die für Young so typischen selbstvergessenen Soli und eine unwiderstehliche simple Melodie, die sich mit Klassikern wie „Cinnamon Girl“ oder sogar „Like a Hurricane“ messen kann. Natürlich ist das Album episch und völlig altmodisch. Aber hey… Neil Young war 67 Jahre alt!! Da noch einen so konsequent eigenartigen Brocken Musik zu veröffentlichen, dabei so frisch zu klingen -das muss bewundert werden. Wenn Young sich in „Born in Ontario“ an die Jugend erinnert, dann ist das nicht bloß rührend. Und wenn die letzten vier Minuten des 16-Minüters „Walk Like a Giant“ im Feedback verglühen, dann ist das tatsächlich majestätisch. Ein großartiges Album… das als LP leider viel zu teuer ist.

Tame Impala
Lonerism

(Modular, 2012)

Da ich Lonerism von Tame Impala, (= Kevin Parker…) als eines der besten Alben des Jahres 2012 bezeichne, mag man mich konservativen Sentimentalist nennen. Denn das Fundament, auf dem das zweite Album des Australiers ruht, reicht von Schönheiten wie Animal Collective über die Flaming Lips bis zurück zu den Beatles ca. Magical Mystery Tour. Und dieses Fundament ist weithin sichtbar, vom Image bis in kleinste Sound-Details – zumal Flaming Lips-Mitglied und Produzent David Fridmann hier – nach dem Debüt und wieder auf Wunsch Parkers – seine Hände im Spiel hat. Dass Parker sich bei den Aufnahmen zu Lonerism von Todd Rundgren’s A Wizard, A True Star beeinflusst fühlte, ist nur noch eine weitere passende Referenz. Er hatte nach dem Erfolg des Erstlings Innerspeaker zwischen Auftritten in der ganzen Welt Song-Ideen auf dem iPad gesammelt (diesen zwischendurch verloren und wieder bekommen…) die Schnipsel dann in Paris und seiner Heimatstadt Perth zu Songs zusammengebaut, die er dann von Fridmann mixen ließ. Seine Idee war, mehr Experiment und zugleich mehr Plastik, mehr Chaos und mehr Pop zu wagen. Laut eigenen Aussagen wollte er die Erwartungen der Indie-Crowd unterlaufen, fühlte sich durch deren Dogmatismus herausgefordert und wollte Britney Spears mit Komplexität und Psychedelik verbinden. So kamen nun verstärkt Synthesizer zum Einsatz, nur auf zwei Tracks ließ Parker sich von seinem Tour-Begleiter Jay Watson helfen, machte sonst alles allein. Umso besser, dass ihm die Quadratur des Kreises gelang: Lonerism hat so 80ies-synth-lastige Momente, dass die Songs als purer Synth-Pop durchgehen könnten, aber dann werden doch immer wieder psychedelisch-komplexe Melodien gesetzt, dann donnern Fridmann’s typische Drums und Parkers mit Delay und Reverb behandelte Stimme verschwindet in Nebelschwaden. Wie bei einigen Alben der Flaming Lips gibt es auch auf Lonerism mit „Be Above It“ einen herausragenden Opener, der John Lennon-Gedächtnis Gesang mit den Lips verbindet. Die Single „Elephant“ kann man mit T.Rex meets Animal Collective-Referenzen versehen – aber letztlich sind alle Stempel falsch, denn das Album ist einfach nur moderner Psychedelic Pop. „Apocalypse Dreams“, „Mind Mischief“ oder „Nothing That Has Happened“ mögen Vorbilder haben, aber sind auch ohne diese tolle Songs. Ich sag’s mal so: Wer die Vorbilder nicht kennt, bekommt kluge, abwechslungsreiche Musik zu hören… und wer die Vorbilder kennt auch.

Grizzly Bear
Shields

(Warp, 2012)

Grizzly Bear haben 2009 mit Veckatimest ein hochgelobtes Indie-Album gemacht, sie stehen musikalisch für mich in einer geschmackvollen Reihe mit ein paar anderen Modernisierern des „Indie-Rock“ – welcher Art auch immer; und ich brauchen dennoch immer etwas länger, um ihre Alben zu mögen. Es ist das gleiche Problem, wie bei Tame Impala: Grizzly Bear machen Musik, bei der ich ständig denke „Das klingt wie….“ und so geht sie zunächst an mir vorbei. Dabei sind Grizzly Bear eigentlich so eigenständig, dass ich die ständige Suche nach Referenzen nur mit dem Umstand erklären kann, dass wir nun einmal das Jahr 2012 – und damit 50+ Jahre Geschichte populäre Musik hinter uns haben. Nach der Tour zum Erfolgs-Album hatten die vier Musiker sich eine Pause gegönnt, hatten die Zeit teils mit Solo-Projekten, teils mit schlichtem Nichtstun verbracht, um sich dann mit kurzen Unterbrechungen in Texas und später in Cape Cod zusammenzutun, um neue Songs aufzunehmen. Der Erfolg und die Pause hatten den Musikern offensichtlich gut getan. Waren die ersten Sessions in Texas noch nicht ganz befriedigend, so griffen die Zahnräder im Haus der Großmutter von Sänger Ed Droste in Cape Cod ineinander. Erstmals wurden Songs gemeinsam geschrieben, man half oder kritisierte sich gegenseitig und schuf Songs, die die bisherigen stlistischen Grenzen in alle Richtungen sprengten. Man kann die Musik von Grizzly Bear durchaus als unauffällig bezeichnen – es gibt keine Extreme, die Songs sind melodisch, mit netten Details verziert, auch der Einsatz von elektronischen Strukturen ist dezent und geschmackvoll – und man könnte das sogar langweilig nennen. Der Vorgänger Veckatimest war vermutlich das größere Wagnis – auch wenn das Ergebnis nur für geübte Ohren revolutionär war. Shields baut auf den Erfahrungen dieses Albums genauso auf, wie auf den Erfahrungen des Debüt’s Yellow House, aber durchkomponierte Tracks wie der Opener „Sleeping Ute“, „Yet Again“ oder „Speak in Rounds“ bekamen nun eine Ästhetik und Klarheit, die kitschig werden könnte, wäre sie nicht so intelligent und sorgfältig ausgearbeitet. Man kann und muss sich in Shields vertiefen, wie in ein gutes Buch. Es mag aufregendere Alben geben, aber für mich steht Shields stellvertretend für die paar klugen Bands, die in dieser Zeit hörenswerten Indie-Pop/Folk/Rock zustande bringen… Acts wie die Fleet Foxes, Bon Iver oder Sufjan Stevens. So fällt dieses Album aus den Moden heraus – Zumal: Solche Musik hätte vor zehn Jahren nicht hätte entstehen können.

Wadada Leo Smith
Ten Freedom Summers

(Cuneiform, 2012)

Ha! Wer ist Kamasi Washington..? Es gibt seit den späten 00er Jahren eine junge Generation von Jazzmusikern/ innen, die das hermetische Genre mit sehr weltzugewandter Bedeutung füllen, die Jazz mit einer Motivation und Inspiration spielen, die ihm in den 80er und 90ern meiner Wahrnehmung nach fehlte – als Technik oft wichtiger war, als die Aussage der Musik. Und dann kommt 2012 der 70-jährige Trompeter, Komponist, Rastafari und Kompositions-Lehrer Wadada Leo Smith daher, und zeigt der jungen Generation, dass auch die Älteren noch immer etwas zu sagen haben. Ten Freedom Summers ist tatsächlich (s)ein Lebenswerk, eine Zusammenfassung all dessen, was Smith in den Jahren seit dem Ende der Sechziger gelernt und gelebt hat. Er mag nicht die Bedeutung mancher Zeitgenossen gehabt haben, er arbeitete mit Anthony Braxton, Henry Threadgill oder Henry Kaiser zusammen – aber die kennt nur derjenige, der sich im FreeJazz der Siebziger auskennt. Sein ’79er ECM-Album Divine Love immerhin sei hier erwähnt… Aber wie soll man ein über 4 1/2-stündiges Album beschreiben, das sich ohne Texte mit der Geschichte der Schwarzen in den USA seit der Mitte der Fünfziger befasst? Smith war dabei – das kann man sagen – „I was born in 1941 and grew up in segregated Mississippi and experienced the conditions which made it imperative for an activist movement for equality“ und so behandeln die 19 Suiten dieses Albums musikalisch verschiedenste Aspekte des historischen Kampfes der afro-amerikanischen Bevölkerung der USA um Gleichberechtigung. Es Begann 1977 mit Smith’s Komposition über den 1963 in Mississippi von einem Polizisten ermordeten Bürgerrechts-Aktivisten Medgar Evers, dessen Mörder bis 1994 straffrei blieb. Es gibt Kompositionen mit Titeln wie „Rosa Parks and the Montgomery Bus Boycott, 381 Days“, „Martin Luther King, Jr: Memphis, the Prophecy“ oder – kaum weniger eindeutig – „Freedom Riders Ride“. Über Tracks wie „Emmett Till, Defiant, Fearless“ muss man sich informieren – und stößt auf rassistische Verbrechen, die unfassbar und zugleich erschreckend aktuell sind. Dazu lässt Smith sein eingespieltes Quartett aus zwei Drums, Bass und Klavier sowie das neun-köpfige Southwest Chamber Music Ensemble teils über vorgegebene Themen improvisieren, teils durchdachte Kompositionen abspielen. Dass allen Beteiligten das Thema am Herzen liegt, dass hier Klassik, freie Improvisation und kontrollierter Jazz aufeinander treffen, als würde Miles Davis mit Ornette Coleman zusammenarbeiten, dass die einzelnen Elemente der Musik einander durchdringen und ein äußerst komplexes Geschichtsbild zeichnen, macht Ten Freedom Summers zu einem dieser Jazz-Alben, die Bedeutung und Können mit Spaß zusammenführen. Die 4 ½ Stunden allerdings sind am Stück kaum durchhörbar – aber in Portionen ist das Ganze äußerst spannend und interessant.

Shackleton
Music for the Quiet Hour/The Drawbar Organ EP’s

(Woe to the Septic Heart, 2012)

Meine Vorliebe für die düstereren Aspekte in der „elektronischen“ Musik wird an dieser Stelle immer wieder deutlich: Die Alben, die ich empfehle, sind eigentlich nie „tanzbar“, sondern abstrakt, erzählerisch und vor Allem düster. So haben die beiden 2011er Andy Stott-EP’s Passed Me By/We Stay Together mit Shackleton’s Doppel EP-Release Music for the Quiet Hour/The Drawbar Organ EP’s nicht nur das Format gemeinsam. Auch der Brite Sam Shackleton hat sich in den letzten Jahren einen Kosmos aus Beats, Sounds und Ideen geschaffen, der dunkelrot getönte Bilder malt. Seine 2009er Album Three EP’s (aha!) war schon meisterlich in seiner Kombination von tribalistischen Drum-Programmierungen, Voice Samples aus dem Dschungel, regennassen Großstadt-Sounds und dunklen Dub-Bässen. Diese neue Doppel-CD mit 126 Minuten UK-Bass/Dubstep/Tribal Ambient ergänzt und führt zum Gipfel, was Shackleton in den letzten Jahren gemacht hat. Man kann die Musik auf dem ersten Teil dieses Doppel-Albums als Sound-Collage bezeichnen. Das Music for the Quiet Hour genannte Album besteht aus fünf bis zu 21 minütigen Tracks, in denen Sprachsamples mit den geloopten Sounds von Xylophon, Marimba, Glocken etc rhythmisiert werden. Die Stücke werden zu hypnotischen Dauerschleifen, die mich eher an eine Mischung aus Krautrock und Elektronik denken lassen, als an Dubstep a la Burial. Das Ganze ist hochkomplex und wird bei aller Länge nie langweilig. Das seltsame Klingeln im Hintergrund erzeugt Spannung – eine unheimliche Stimmung, die in flirrender Hitze entstehen mag. Shackleton arbeitet beim zentralen „Music for the Quiet Hour Part IV“ mit dem Spoken Word Künstler Vengeance Tenfold zusammen, der nach einigen Minuten zu unentschieden dahin wandernden Beats und Sounds als Großvater seinem Enkel einen Brief diktiert. Ein Diktat, das in beängstigende Fragmente zerhackt wird. Die Drawbar Organ EP’s gab es tatsächlich als drei Einzel-Releases, sie sind näher an The Three EP’s, sind konventioneller, wenn man bei Shackleton von Konvention sprechen will. Die Klangfülle ist reicher – und damit auch etwas beliebiger, es gibt regelrechte Songs und Sounds, die an Industrial gemahnen – nicht zu Unrecht, da Shackleton mit Künstlern aus dem Throbbing Gristle/Coil Umfeld sympathisiert und deren Ästhetik durchaus teilt. Da ist „Seven Present Tenses“, das mit ein paar S/M Bezügen trefflich auf einem Coil-Album Platz gefunden hätte. Bester Track ist für mich „Katyusha“, bei dem das für die EP’s titel-gebende Hammond Organ Kindermelodien spielt, die sich in einem verwilderten Dschungel aus Rhythmus und Sound immer weiter zu entfernen scheinen. Es mag sein, dass es 2012 von Burial, Actress oder Flying Lotus bessere Alben mit elektronischer Musik gibt. Aber die werden auch irgendwo ihren Platz finden. Hier und jetzt lobe ich Music for the Quiet Hour/The Drawbar Organ EP’s

Converge
All We Love We Leave Behind

(Epitaph, 2012)

Im Metal – oder in der „harten“ Musik – greift in der Zeit nach der Jahrtausendwende das gleiche Problem wie in fast allen anderen Musikrichtungen mit längerer Geschichte: Die Musik wird beliebig, zu einem weissen Rauschen, das alle Experimente und Ideen der letzten 30-40 Jahre irgendwie zusammenfasst – zu einer undefinierbaren Brühe. Das Einzige, was noch Charakter und die so sehr gewünschte Differenzierbarkeit erzeugt, sind identifizierbare Songs und/oder ein eigener Stil. Und gerade bei Metal und Artverwandtem ist das inzwischen schwer zu finden. Alle Härtegrade sind durchprobiert, der Sound der Bands ist von sumpfig über ultra-heavy bis glasklar durchdekliniert – auch die Besten ihrer Zunft zitieren eigentlich nur noch, man muss mit Vergleichen arbeiten, um sie zu beschreiben. 2012 hat mir das achte Studio-Album der Metal-Core Institution Converge am besten gefallen. Die 1990 in Boston entstandene New Hardcore-Institution Converge hat ihren Stil inzwischen schließlich auch auf’s Feinste ausgefeilt. Sie sind eine Macht, sie haben mit Kurt Ballou einen Bandkopf, der als Gitarrist, Songschreiber und Produzent inzwischen Alles kann, ihr Schrei-Sänger Jacob Bannon ist ein sprühendes Energiebündel – was ihn zwar nicht von etlichen anderen unterscheidet, aber auf All We Love We Leave Behind bringt er seine persönlichsten Texte mit maximalem Engagement (ohne Auto-Tune und ähnliche Sperenzchen) zum Vortrag. Dass Converge in einem auf „Härte“ fixierten Genre auch noch wiedererkennbare – und spannende – Songs schreiben können, haben sie vorher schon auf Klassikern wie dem 2001er Album Jane Doe oder der 2009er Axe to Fall bewiesen. So könnte man beklagen, dass All We Love… auch „nur“ ein paar weitere Metal-Core Perlen auf die Schnur fädelt. Aber dass diese Band nach einer über 20-jährigen Karriere immer noch so massiv und kraftvoll klingt, spricht sehr für sie. Dass sie immer noch Überfälle wie das 50-sekündige „No Light Escapes“ starten – ganz klassischen Hardcore – den immer noch interessant strukturieren, dass auch ein langsamer Track wie „Coral Blue“ sich hier einfügt, ohne peinlich zu werden, dass sie mit dem Opener „Aimless Arrow“ direkt mal beweisen, dass Metal-Core immer noch innovativ klingen kann – melodisch, hart, glaubwürdig – zeigt dass sie wie Metallica, Slayer, Death, Wolves in the Throne Room zu den ganz Großen gehören. Converge ist eine Band, die ein Genre definiert und immer weiter ausformuliert. Keine Revolution mehr. Aber das scheint im Metal auch kaum mehr möglich. Und schlicht großartiger xx-Metal ist ja auch schön.

…and now – to mention the honourable

… eine Menge… Wie häufiger gesagt – ob die oben genannten Alben in 20 Jahren weiter so wertgeschätzt werde, weiss man nicht. Andere, die einfach auch hier gelobt werden könnten, sind: Lil‘ Ugly Mane’s fast-nur-als-fucking-download-zu-findendes HipHop-Meiterwerk Mista Thug Isolation. Auch toll dieses Jahr Fiona Apple’s The Idler Wheel oder Scott Walker’s Bish Bosch oder der Alternative Metal der Deftones auf Koi no yokan. Oder für den, der nur elektronische Musik mag, wäre da Andy Sott’s Luxury Problem. Es gibt auch 2012 tollen Dream Pop auf Bloom von Beach House, die Tindersticks machen das beachtliche The Something Rain, ich will das obskure, aber sehr schöne Freak-Folk Werk Foreign Body von Mirrorring mit Liz Harris aka Grouper nennen. Und wer (wie ich) die extremsten Seiten des Metal liebt, könnte dem Converge-Album Hell III von Hell oder Panopticon’s seltsame Mischung aus Appalachian Folk und Black Metal auf Kentucky vorziehen. Es will und wird nicht aufhören. All diese Alben und noch mehr KÖNNTEN später als unverzichtbare Klassiker gelten. Na dann… hört sie euch an.