https://music.apple.com/de/playlist/der-gro%C3%9Fe-rockhaus-2010/pl.u-NpXmzXpsmdx2r8D
Bei einem katastrophalen Erdbeben im bettelarmen Haiti kommen 220.000 Menschen um und Eine Million wird obdachlos. US-Präsident Obama bekommt von seinen politischen Widersachern immer mehr Gegenwind, was die Politik in seinem Land lähmt, die Weltwirtschaftskrise allerdings schwächt sich ab, Nord- und Süd Korea geraten wieder aneinander, der islamistische Terror in Afghanistan, im Irak und Pakistan ist ungebrochen, im Golf von Mexiko explodiert die ökologisch sowieso sehr fragwürdige Tiefsee-Ölbohr-Plattform Deepwater Horizon und verseucht das Meer in noch nie dagewesenem Maß. Don Van Vliet (Captain Beefheart) stirbt, Mark Linkous (Sparklehorse) begeht Selbstmord, Solomon Burke und die wunderbare Kate McGarrigle sterben. Die Tendenz zu immer weniger physischen Tonträgern und immer mehr Downloads ist ungebrochen, dabei gibt es doch immer wieder und immer noch Künstler, die als komplette Werke gedachte Alben (die 3-CD Box von Joanna Newsom) veröffentlichen. Alte Schuhe wie Shoegaze, Psychedelik, Surf-Pop, Girl Group-Pop und Noise füren zu interessanten Kombinationen. Irgendwie scheint jeder irgend etwas aus verschiedensten Phasen der Popmusik zu zitieren, um es mit psychedelischen Wolken zu versehen und das Ganze dann mit der allgegenwärtigen Elektronik zu vermischen. Richtig neu ist so nichts, aber die Kunst des Zitierens führt zu gelungenen Ergebnissen. Kanye West macht sein bestes Album bislang, Arcade Fire reduzieren ihr Pathos, Grime, Dub-Step, Elektronische Musik, aber auch Folk – ob Freak- oder nicht -, und purer Pop sind mit positiven Beispielen dabei. Und natürlich gibt es solche Phänomene wie Lady Gaga, die heuer mit „Pokerface“ oder „Alejandro“ und einem dazugehörigen Album und diversen Verkleidungen die Charts stürmt, oder Shakira, die hauptsächlich super mit dem Hintern wackelt, oder David Guetta, dessen Musik auch eher Produkt kommerzieller Planung als Ergebnis einer Leidenschaft ist, – aber ist ja egal, die Charts eben – wieder frei von Musik, die intensiveres Zuhören will oder erfordert. Angefüllt mit Unterhaltungsmusik für den Moment – das wollen viele Konsumenten. Denen dürfte dann Vieles, was hier folgt, zu anstrengend sein…
Joanna Newsom
Have One On Me
(Drag City, 2010)
Anders,- aber anders Anders als ich es vermutet hätte. Joanna Newsom’s Ys– vier Jahre zuvor erschienen – war sehr strukturiert, durch die delikate Orchestration von Van Dyke Parks und die langgezogenen Spannungsbögen in den wenigen Songs hatte das Album einen klaren Charakter und man hätte nicht erwartet, dass sie noch einmal so ausladend werden würde, ohne sich zu übernehmen – aber sie tat genau das und machte dabei ein weiteres Mal alles richtig (Schließlich ist sie ja Everybody’s Indie-Folk Darling…). Das neue Album Have One on Me ist amorph, ellenlang, es mäandert vor sich hin – und es überwältigt durch genau diese Eigenschaften – und durch seine emotionale Direktheit. Müsste ich Musikerinnen und ihre Stilistik zum Vergleich heranziehen, so fielen mit Joni Mitchell’s Art-School Chic in Verbindung mit der Erdigkeit Carol King’s ein, dazu die grelle Brillianz einer Dagmar Krause (Sängerin bei Slapp Happy, falls man sie nicht kennt..) und natürlich die barocke Kunst einer Kate Bush, deren individualismus Newsom ja sowieso teilt. Sie springt auf diesem Album nun von Appalachian Folk über Country, Soul und Gospel bis zum Pop, und sie hat das berechtigte Selbstvertrauen, all diese Elemente unter ihren ureigenen Hut zu bringen, denn ihre Stimme, ihre Art Songs zu schreiben und ihre Arrangements halten Alles problemlos zusammen. Diesmal spielt das Klavier neben der Harfe eine gleichberechtigte Rolle, und dann sind da wieder Songs wie der elf-minütige Bluegrass/Blue Eyed Soul-Titeltrack, das wunderschöne „Go Long“ oder der Kammerpop von „Kingfisher“ oder das Joni Mitchell-hafte „Soft as Chalk“… Die Summe all seiner Teile macht Have One On Me zu einem der fraglos besten Alben 2010. Und das trotz einer Dauer von über zwei Stunden – etwas, an dem andere Künstler gescheitert wären.
Kanye West
My Beautiful Dark Twisted Fantasy
(Roc-A-Fella, 2010)
… und das ist jetzt eines der fragwürdigsten und zugleich tollsten Alben in der Geschichte des… HipHop? Der Rockmusik? Egal. Kanye West hatte sich in den letzten Jahren immer mehr zum durchgeknallten Angeber mit erstaunlichen Fähigkeiten entwickelt. Seine Egomanie in Verbindung mit seiner Verehrung für fragwürdige Ideen (und Politiker – siehe Trump… aber das würde erst noch kommen) macht ihn und alles was er erschafft immer wieder schrecklich unsympathisch. Aber sympathische Genies sind rar gesät – Picasso, Hemingway, Mozart – sie alle sollen ziemliche Idioten gewesen sein. Und mit My Beautiful Dark Twisted Fantasy gab Kanye seiner Selbstüberschätzung doch tatsächlich Substanz. Eine Substanz, die selbstverständlich glänzt und glitzert. …Fantasy ist eine Ansammlung all dessen, was im HipHop und im Neo-Soul überhaupt möglich ist. Die Gästeliste ist so illuster wie nur irgend möglich: Sie reicht von den Pop-Sternchen Rihanna und Nicki Minaj über gestandene HipHop-Stars wie RZA, Raekwon, Kid Cudi, Pusha T und Jay-Z über Soul-Meister John Legend bis zum Indie-Helden Bon Iver – und all die packt Kanye unter seinen enormen Hut. Die Produktion auf diesem Album ist so ausgebufft, dass jeder Sample, jeder Beat vor Perfektion und Kraft platzen will. Dass Kanye selber nicht der beste Rapper unter der Sonne ist, ist nicht nur zu vernachlässigen – nein – das ist AUCH richtig so. Der Flow vieler HipHop-Alben ist uneben – da gibt es zwei, drei Über-Tracks und den etwas schwächeren Rest. Nicht so hier: Die „Songs“ – so muss man sie nennen – sind vom Ersten bis zum Letzten sorgfältig „komponiert“, abwechslungsreich, interessant, spannend. Die eingesetzten Samples sind vom Feinsten, mitunter wird ungewöhnliches Material gewählt – „21st Century Schizoid Man“ von King Crimson wird eingebaut, Black Sabbath werden gesampelt, natürlich diverse Soul-Künstler – und alles wird in einen komplett neuen und eigenen Zusammenhang gestellt. Kanye veröffentlicht stilecht alle vier Singles mit heftigem Medien-Hype, (Kurzfilm zu „Runaway“), das komplette Album wird mit zusätzlichen Tracks zum Download auf der extra dafür geschaffenen GOOD Friday Website gehyped. Und dass all das egal ist, dass all der Hype und die Luxus-Ausstattung dem Album nur nutzt, ist der größte Verdienst, den ich Kanye West zuspreche. Man höre den Opener „Dark Fantasy“ mit Mike Oldfield-Sample. Man höre „Power“, mit dem logisch eingebauten King Crimson Sample. Oder die Art, wie Justin Vernon’s (Bon Iver..) Gesang eingebaut wird. My Beautiful Dark Twisted Fantasy ist zwar aus HipHop geboren, aber es ist ein Spiegel seiner Zeit und reflektiert weit mehr als diesen einen Stil.
Dessa
A Badly Broken Code
(Doomtree, 2010)
Dessa – das ist Margaret Wander, eine amerikanisch/puerto ricanische Musikerin/Literatin/Poetin aus Minneapolis mit Philosophie-Abschluss. Eine der wenigen weiblichen MC’s im HipHop, eine, die sich im Bereich irgendwo zwischen Rap, Soul, Singer/Songwriter und Spoken Word aufhält und gerade in ihrer Anfangszeit äußerst eigenständig klingt. Sie hatte Mitte der 00er Jahre die Musiker des tollen Doomtree-Kollektives kennengelernt, sich deren Label angeschlossen und 2005 mit ihrer EP False Hopes eine erste eigene Duftmarke gesetzt. Nun folgte fünf Jahre später mit A Badly Broken Code ein komplettes Album, das zwischen diversen Stühlen steht. So wie sie bei den Alben anderer Doomtree-Künstler mitmachte, so ließ sie sich hier von Lazerbeak, Paper Tiger und dem nicht zu Doomtree gehörigen MK Larada produzieren. Und die DJ’s leisteten einen guten Job, die Beats sind mal jazzig, mal swingen sie oder haben ein Downtempo/TripHop Flair, das wunderbar deep ist – wenn auch nicht mehr revolutionär. Das Alleinstellungs-Merkmal hier war unzweifelhaft Dessa’s Style: Ihr Flow war enorm melodisch, selbst wenn sie eindeutig „rapte“ klang es nach Gesang, jedes Wort bekam Bedeutung, was die Tracks sehr abwechslungsreich und komplex machte – zumal ihre Lyrics äußerst hörens- bzw. lesenswert waren. Man bemerkte kaum, wie sie vom Rap zum Gesang wechselt, ihre Stimme war wunderbar unsentimental, ohne jede Verstellung – und ihr Art, auf Tracks wie der ausgekoppelten Single „Dixon’s Girl“ über einem Swing-Background abwechselnd zu singen und zu rappen, kann man nur virtuos nennen. Höhepunkt auf diesem Album ist für mich „Seamstress“, TripHop und HipHop in Perfektion, mit jagendem Puls und bildhaften Lyrics, die mal nach Spoken Word Performance, mal nach Rap klingen. Fast genau so gut ist „Mineshaft II“. Eher „Song“ als HipHop-Track, aber weit weg von allem Gewöhnlichen. A Badly Broken Code braucht – wie alle gute Musik, ein-zwei Spins ehe es sich einfrisst, aber dann erkennt man, dass Dessa in ihrer eigenen Kategorie unterwegs war. Sie wurde auf den nachfolgenden Alben „normaler“ – aber sie blieb immer als sie selber erkennbar und bleibt bis heute eine hervorragende Texterin.
Janelle Monáe
ArchAndroid
(Bad Boy, 2010)
Dass ich sog. „Contemporary R&B“ so exponiere, ist neu. Aber seit den 00er und spätestens 10er Jahren wird aus dieser Musik durch Integration neuer Stilmittel und durch ein „Mehr“ an Bedeutung wirklich innovative und spannende Musik mit klugen Inhalten und Aussagen. Die Neo-Soul Clique um D’Angelo, Erykah Badu etc hat da schon Bedeutendes geleistet, Bald werden Frank Ocean und sogar Beyonce und Solange Knowles Alben machen, die mehr sind, als bloße Unterhaltung – weil diese Künstler auf die gesellschaftliche Krise und auf „Black Lives Matter“ in den USA reagieren müssen. Schon 2010 legt die Sängerin und Schauspielerin Janelle Monáe nicht nur musikalisch die Latte ganz hoch. Sie hatte zunächst Schauspiel und Theater studiert, sich dann aber auf Musik konzentriert und 2007 mit Metropolis, Suite I: The Chase eine EP hingelegt, die die Grenzen des R&B in alle Richtungen auseinander gesprengt hatte. Dass es ihr gelang, drei Jahre später ihre futuristische Konzept-Story auf noch höherem Niveau weiter zu führen, ist noch das kleinste Verdienst von ArchAndroid. Monáe ist jetzt auf Bad Boy, dem Label von Sean „P Diddy“ Combs, sie hat u.a. mit Antwan „Big Boi“ Patton von OutKast einen Grenzgänger und Könner neben sich an den Reglern sitzen – und sie hat Songs, die – mit und ohne Verkleidung – eigenständige, kluge Popmusik sind. Dass sie auch noch eine extrem cleane, perfekte Stimmen ihr eigen nennen kann – eine Stimme, die mit dem Konzept hinter ihrer Selbst-Darstellung (siehe Covershoot) wunderbar zusammenspielt – macht ihr neues Album noch schlüssiger. Auf ArchAndroid geht es um Liebe und die Verwirklichung einer eigenen Identität, sie stellt sich selber als Android dar, der zu einer Art Messias wird. Sie macht ein Konzept-Album, auf dem ein selbstbewusster Afro-Futurismus gefeiert wird – ein Bild der Zukunft, das in den inzwischen so zerrissenen USA eine hoch-politische Bedeutung bekommt. Unabhängig von dieser Message wird so perfekt mit den Stilmitteln R&B, Funk, Dance und Psychedelic Pop gespielt, dass jeder dachte „Wenn Prince das wüsste…“ (auf dem folgenden Album machte er mit…) Nicht missverstehen: Janelle Monáe imitiert nicht – sie nimmt den Ball auf und wirft ihn weiter. Man höre den rasanten Hit „Tightrope“, man höre den Psychedelic Pop von „Wondaland“ oder den Album-Closer „BabopbyeYa“… und das sind nur drei Titel einer Reihe gleichwertiger Tracks. ArchAndroid ist perfekter Pop mit Hirn, ein eingelöstes Versprechen und die berechtigte Hoffnung, dass da noch mehr kommen wird. Wenn Janelle Monáe die Zukunft des R&B ist, will ich mehr davon hören.
Four Tet
There Is Love In You
(Domino, 2010)
Da ist er wieder: Kieran Hebden aka Four Tet. Schon 2003 hatte er mit Rounds alles richtig gemacht. Und nach einem mittelmäßigen kam er nun wieder ein großartiges Album, das offenbar ein „Herzens-Projekt“ war. Und wieder scherte er sich nicht um stilistische Grenzen. Man muss bedenken – er hatte mit Fridge als Teenager Post-Rock gespielt, hatte Aphex Twin remixed, hatte mit dem Free-Jazz Drummer Steve Reid, mit Radiohead und letztes Jahr mit Burial gearbeitet und machte noch in diesem Jahr das Album A mit den freien Folkies von Sunburned Hand of the Man – der Typ war all over the place. So kann man There Is Love In You mit Recht einfach als EINE Facette seiner Musik betrachten. Hier wandte er sich von Folktronica zur Erforschung von Samples und elektronischen Sounds, baute aus kleinen Loops immer komplexer werdende Tracks. Und wieder gelang es ihm, seine Forschungsergebnisse warm und organisch klngen zu lassen. Der Opener „Angel Echoes“ besteht aus einem zerhackten Vocal-Sample, den langsam mehrere Soundschichten umhüllen, das neun-minütige „Love Cry“ steigert sich vom kühlen House-Track zu hitziger Club-Atmosphäre. There Is Love In You handelt vom Build-Up, Kieran Hebden ist ein Meister des Übereinander-Legens von Sounds und Rhythmen – und er hat ein fettes Sketchbook voller Ideen. „Circling“ baut auf einer kreisförmigen Melodie auf, die dann als Spirale hochsteigt, Bei „Sing“ wird natürlich wieder ein Vocal-Sample in die Mitte gestellt, um den ein harter four-on-the-floor beat stampft… Das Album sprüht vor Ideen, Hebden wollte vielleicht die großen Tage des 90ies-Dancefloor auf seine Art rekapitulieren. Das mag jedenfalls sein Konzept gewesen sein – in seinem Kopf so stattgefunden haben. Das Ergebnis ist jedenfalls intelligenter, purer Spaß.
Pantha Du Prince
Black Noise
(Rough Trade, 2010)
Was „elektronische“ Musik angeht, sind die letzten 10-15 Jahre wohl das goldene Zeitalter: Die schiere Anzahl von innovativen Künstlern und Alben, von neuen Ideen ist unüberschaubar. Es gibt hunderte von Individualisten, die jeder für sich eine neue Facette aufleuchten lässt – und ich könnte für jedes Jahr mindestens drei bis vier Alben in den 1. Kapiteln des Jahres exponieren. 2010 gefällt mir: Four Tet’s There Is Love in You oder Flying Lotus‘ Cosmogramma und Caribou oder Demdike Stare… aber mein Album der Wahl ist Black Noise von Henrik Weber aka Pantha Du Prince. Der hatte schon 2007 mit This Bliss seine sehr eigene und elegante Art von melancholischem, sphärischem Techno präsentiert, eine elektronische Musik geschaffen, die klar, kalt und zugleich organisch klang. Für Black Noise war Weber in die Alpen gereist, hatte Feldaufnahmen gesammelt, sein Arsenal an Percussion-Sounds erweitert und ein paar Gäste aus seinen Kollaborationen mit Indie-Musikern wie Animal Collective und !!! dazu geholt. Nicht, dass Pantha Du Prince dadurch beliebig geworden wäre – seine Art, mit Dub-Bässen, Glocken und Klingeln, gedämpften Beats und Clicks, pulsierenden House Beats und verwaschenen Synthies (Höre „Bohemina Forest“) sowohl den Dancefloor als auch den „Zuhörer“ zu bedienen, war einzigartig. Dass auf „Stick to My Side“ Noah Lennox aka Panda Bear vom Animal Collective sang, missfiel manchem Puristen – das organische Element „Stimme“ kann man als Fremdkörper empfinden – oder als passende Ergänzung zu den organischen Klängen von Weber’s Samples und Sounds. Black Noise klingt (für mich) nach purem Spaß am Klang – es ist Kraftwerk mit Seele, ähnlich romantisch wie Gas‘ Pop, nur mit House-Rhythmen und im mir lieben Songformat. „Satellite Snyper“ ist tanzbarer elektronischer Pop, „Abglanz“ wiederum ist pure Ambient – und alles passt zusammen, hat den angenehmen Flow, der Black Noise zu einem Album im Sinne der Definition macht: Man kann – und ich will – bis zum Ende zuhören.
Yellow Swans
Going Places
(Type, 2010)
Dass ich Lärm mag, ist an der Auswahl der meiner Meinung nach wichtigsten Alben all der vergangenen Jahre deutlich erkennbar. 2010 ist das Jahr, in dem mit dem US-Duo Yellow Swans (Pete Swanson und Gabriel Saloman) einer der besten, produktivsten und wichtigsten Acts der Noise/Drone-Szene seine Zusammenarbeit beendet. Yellow Swans haben in den letzten zehn Jahren über 50 CD’s, Cassetten, Alben in allen möglichen Formen veröffentlicht. Mal gemeinsam mit anderen Künstlern, mal unter Aliassen, bei denen ein „D“-Wort vorangestellt wird (z.B. als Drill Yellow Swans 2005…) um die Veränderbarkeit der eigenen Musik zu kennzeichnen. Sie arbeiteten mit strengem DIY-Ethos und ihnen ist es inzwischen tatsächlich gelungen, ein Destillat aus Free Improvisation, Dub, Hardcore, Noise, Industrial und moderner Kompositions-Technik zu erschaffen. Ihre Alben waren oft nur in Miniatur-Auflagen zu bekommen, aber seit sie mit dem Type-Label zusammenarbeiten, kann man ihre Alben etwas problemloser auffinden – und Going Places wurde zu dem Album, das die Band einer etwas breiteren Hörerschaft bekannt machte. Es gibt inzwischen einige Bands, die sich mit Noise-Rock in all seinen Facetten einen Namen gemacht haben und Noise hat inzwischen weit mehr Hörer, als man meinen könnte – ist sicherlich noch immer nicht im „Mainstream“ angekommen (und wird und will das auch nicht), aber Bands wie Sightings, Mouthus, Wolf Eyes oder die Altmeister Fushitsusha aus Japan werden von den Coolen gehört. Going Places ist „traditioneller“ Noise, es gibt keine jazzigen Drum-Patterns, verträumte Stimmen oder Pop-Anmutungen, das Duo baut Wände aus Sound und benutzt dazu elektronisches Instrumentarium, Soundfragmente und Gitarren, aber wo Merzbow oder Prurient ihren Noise brutalisieren, da klingt Going Places zwar laut, aber auch warm – somit nicht nach sog. Harsh Noise. Bei „Opt Out“ steht man in einem Schneegestöber aus sich immer weiter auftürmendem Rauschen, der Titeltrack – tatsächlich das letzte Stück Musik, dass Yellow Swans produzierten – ist tatsächlich „hart“, baut sich aus immer mehr Sound-Details auf und wird ungeheuer laut, ehe er unter seinem eigenen Gewicht zusammenbricht. „Foiled“ und „Limited Space“ dagegen haben untergründige Rhythmen, bleiben im Vergleich fast sanft. Ich fand den Begriff Brown Noise ganz zutreffend. Ein komplettes Album, das als Ganzes funktioniert, ein perfekter Abschied einer Band, die Noise geprägt hat. P-S. – Das Cover wurde vom Label-Kollegen Jefre Cantu-Ledesma gestaltet – der mit seinem Solo-Album Love is a Stream in diesem Jahr ein vergleichbar gelungenes Album voller Krach gemacht hat.
Deathspell Omega
Paracletus
(Norma Eavngelium Diaboli, 2010)
So völlig fern der Psychedelic-Welle dieses Jahres ist der chaotische, furchterregende, dissonante Black Metal der Franzosen Deathspell Omega nicht. Es ist wieder eine Band, die erneut beeindruckt: DO haben mich 2007 mit Fas – Ite, Maledicti, In Ignem Aeternum überzeugt, 2010 erscheint der letzte Teil einer Trilogie über das Verhältnis zwischen Mensch, Gott und Teufel. Das Wort „Paracletus“ ist eine andere Form des griechischen „Parakletos“ = Heiliger Geist… und man kann annehmen, dass Deathspell Omega’s geheimnisvolle, ungenannte Mitglieder diesen nicht sehr positiv betrachten. Sie sind erkennbar in den Texten der Bibel bewandert und verhöhnen und hassen mit theologischem Hintergrundwissen. Sie sagen: Der Mensch wird von Gott gezwungen, gegen seine innersten Triebe und Grundsätze zu handeln. Und wieder – wäre dieses Konzept Alles, dann hätte ein schriftliches Pamphlet gereicht – aber dem Teufel sei Dank ist ihre Wut/Häme/Kritik so durchdacht wie ihre scheinbar so chaotische Musik. Wobei Paracletus sogar ihr konventionellstes Album seit Prä-Trilogie Tagen ist. Nach wie vor ist ihre Musik Black-Metal-aggressiv, die Gitarren rasen, brechen mal in dissonante Post-Punk Gefilde auf, sind dann aber wieder das weisse Rauschen ihres Genre’s. Die klaren weiblichen Vocals des Vorgängers, die Choral-Passagen und die unheimlichen Momente absoluter Stille sind Geschichte – Die Songstrukturen sind nach wie vor komplex, Rhythmen wechseln im Minuten-Takt, aber es gibt Passagen, die erholsam nah an der Konvention bleiben (man höre die ersten zwei Minuten von „Dearth“) Gesungen wird in Französisch, Latein und Englisch – teils mit Black Metal un-üblicher Verständlichkeit – und all das ist so mitreissend, dass man sich der Wucht nicht entziehen kann. In gewisser Weise ist Paracletus (für Deathspell Omega) eine notwendige Rückkehr zu den Wurzeln des Black Metal – ohne die inzwischen erarbeiteten Charakteristika der Band zu verraten. Es ist dann also eine Frage des Geschmacks, ob man dieses Album oder seinen Vorgänger bevorzugt. Ich würde ja die komplette Trilogie empfehlen… PK
Deerhunter
Halcyon Digest
(4AD, 2010)
Deerhunter sind (bei mir) schon mit ihrem 2008er Album Microcastle in die Riege der „Klassiker“ gehoben worden – ob zu Recht, wird sich in kommenden Jahrzehnten zeigen (…aber das gilt für alle Alben, die seit Beginn der 00er-Jahre entstanden sind…) Ihr nachfolgendes Album Halcyon Digest könnte man als schlichte Fortsetzung von Microcastle herabwürdigen – und täte der Klasse von Bradford Cox‘ Songs und dem wunderbaren und ein bisschen zufälligen Konzept seiner Musik unrecht. Auch Halcyon Digest ist dunkel, fiebrig, wie ein Traum, der ins alptraumhafte abgleitet. Bandkopf Bradford Cox hatte sich nach eigener Aussage mit der Inkosistenz von Erinnerungen beschäftigt – wie sehr diese sich im Laufe der Zeit zum Guten oder auch zum Schlechten verändern. Insofern bezeichnete er den Album-Titel Halcyon Digest (etwa „Eine Sammlung friedlicher Erinnerungen“) selber als irreführend. Schon auf Microcastle ging es um Vereinzelung, es war ein düsteres Album, Halcyon Digest ist weniger depressiv, man könnte es treffender als melancholisch bezeichnen. Die Band lässt ihre Kenntnis um Shoegaze, Folk und Pop immer wieder in anderen Facetten aufschimmern, zitiert die Everly Brothers und natürlich My Bloody Valentine, lässt aber auch die eigenen Lo-Fi Wurzeln immer wieder durchscheinen. Mal liegt das Gewicht auf erdigen Sounds („Coronado“), mal schimmert die Band wie einer der typischen 4AD-Dream-Pop Diamanten a la Cocteau Twins („Helicopter“) – und immer bleiben sie als Deerhunter erkennbar. Bradford Cox‘ Songwriting ist inzwischen zu großer Klasse gereift. Wenn er im Album-Closer „He Would Have Laughed“ an den kurz zuvor verstorbenen Jay Reatard erinnert, ist da keinerlei weinerliche Sentimentalität zu hören – nur Würde, Trauer und ein bisschen Trotz. Dass dieses Album bei allem thematischen Anspruch ein herz-ergreifendes Hör-Erlebnis ist – vom sparsamen, mit rückwärts aufgenommenen Percussion und verwaschenen Gitarren veredelten Opener „Earthquake“ bis zum beschriebenen Abschluss – zeigt die Klasse dieser Band. Auch hier glaube ich an bleibenden Wert.
Liars
Sisterworld
(Mute, 2010)
Auch diese Band taucht hier erneut auf. Das Avantgarde-Trio Liars aus New York hat mich schon 2006 mit Drum’s Not Dead beeindruckt. 2010 kam Sisterworld in diversen Varianten + Zusatz-CD als Album No. 5 heraus. Diesmal waren sie nicht in Berlin, sondern in LA – und machten wieder den Aufenthaltsort zum Thema: „We’re interested in the alternate spaces people create in order to maintain identity in a city like L.A….. Sisterworld is Liars’ own space, completely devoid of influence, somewhere remote from the false promises and discarded dreams amassed in LA. In it Liars explore the underground support systems created to deal with loss of self to society“ So weit, so gut. Das Schöne an der Musik von Liars ist – sie mögen kopfschwere Konzepte als Ausgangspunkt nutzen, die Ergenbinsse mögen uneasy listening sein – aber man kann das Konzept auch vergessen und seinen unheiligen Spass mit ihrer Musik haben. Sie spielen mit Elektronik, Noise, Post-Punk, sie klingen gewalttätig, finster, zynisch – und ihr Wahnsinn hat Methode. Sie sind typische Post-Millenials, weil sie die experimentelle Musik seit The Velvet Underground kennen ohne zu imitieren – was sie mit anderen klugen Bands ihrer Zeit verbindet. Schon der Opener „Scissors“ ist böse: Sänger Angus Andrew erzählt von der schwer verletzten Frau, die er findet und auf irgendeinen Parplatz bringt… um ihr zu helfen?… Sie zu töten? Der Song beginnt mit Chören und Strings, um dann in Noise-Rock zu explodieren. Ein Prinzip, dass die Drei öfter nutzen, um ihr Thema akustisch zu untermalen. Es ist nicht Alles nur hart, sie erschaffen auch Momente unheilivoller Ruhe, aber oft entwickelt sich daraus eine Explosion von Gewalt. „Drip“ hat Industrial-Sounds, ein dräuendes Klavier, getriebenen Gesang – ist so unheimlich, wie das ganze Album. Dessen Ruhe wird gefolgt vom Gewalt-Pamphlet „Scarecrows on a Killer Slant“ mit der Aufforderung: „Stand them in the street with a gun / AND THEN KILL THEM ALL!“… In einem Land, so gewalttätig wie die USA, sind solche Lyrics womöglich fragwürdig – aber sie sind zugleich ein Abbild einer Realität, die viele US-Amerikaner nicht sehen wollen. Liars sind und waren Unruhestifter, ihre Musik zu schlau für den Mainstream. Aber man kann sie auch für ihre konsequente und intelligente Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten der Realität lieben. Wer zuhört, wird dabei auch noch musikalische Qualitäten und einen Stilwillen entdecken, der beeindruckend ist. Sisterworld wurde nicht mehr so gefeiert, wie die vorherigen Alben – die Klasse der Liars wurde zur Selbstverständlichkeit. Ich denke, es ist eines der besten Alben seiner Zeit.
Ariel Pink’s Haunted Graffiti
Before Today
(4AD, 2010)
Ariel Marcus Rosenberg aka Ariel Pink macht schon seit Ende der 90er Musik. Er hat einen Haufen sehr unterschiedlicher Alben, EP’s und Singles auf Mini-Labels, als Cassetten oder Download veröffentlicht. Er hat irgendwann jedes Feld zwischen Lo-Fi, Power Pop, Psychedelic, Garage, Synth Pop und Folk irgendwie beackert und wurde dann Mitte der 00er Jahre bekannter, als er auf Paw Tracks – dem Label der ähnlich eklektizistischen Animal Collective – sein Album Doldrums veröffentlichte. 2010 zündet er die nächste Stufe seiner Karriere – er kommt bei 4AD unter und macht mit seiner Band Haunted Graffiti ein Album, das in gewisser Weise seine bisherige Karriere zusammenfasst. Die Nerd/Kenner-Zeitschrift The Wire bezeichnet die Musik des exzentrischen Einzelgängers als „Hypnagogic (= hallizunativen) Pop“ und bewertet Before Today in ihrem Jahres-Poll hoch. Eine andere Bezeichnung für diese Musik wäre Chillwave – gemeint ist Musik, die einerseits ein Anachronismus, andererseits aber hochmodern ist. Dass Ariel Pink seine Tracks zunächst alleine am Laptop zusammenbaut, dass er aus dem unerschöpflichen Baukasten Internet und Streaming-Dienste schöpfen kann, dass die Vermischung aller Kenntnisse zu „neuer“ Musik führen kann – das ist möglicherweise das „Moderne“ an Chillwave/Hypnagogic Pop… Aber (für mich) gilt erneut – ob modern oder altmodisch – was zählt ist der Song: Und DA haben Ariel Pink’s Haunted Graffiti einiges zu bieten, was durchaus auch vor 35 Jahren beeindruckt hätte. Das Kreiseln bei „Round and Round“ ist psychedelisch, die Sounds erinnern an den Soft-Rock von 10CC, auch „Fright Night“ klingt nach den Sparks und nach XTC, wenn sie psychedelisch werden – und damit wieder nach ’67 und dem UFO-Club. Und trotz (oder wegen) all der Bezüge sind all das Songs, auf die jedes Vorbild stolz sein könnte. Man mag sich als Auskenner in den Dekaden vor 2000 an Beach Boys, Steely Dan, Eagles, Fleetwood Mac und Earth, Wind and Fire erinnert fühlen, aber der Multi-Vitamin-Saft der da entsteht, ist in seiner Kombination neu und schmackhaft. Dass Before Today zum Bedauern alter Fans nun besser produziert, mit „echten“ Musikern eingespielt und von einem etablierten Label veröffentlicht ist, halte ich persönlich für erstens verdient und zweitens vorteilhaft.
Beach House
Teen Dream
(Bella Union, 2010)
In der Einleitung deute ich es an: Psychedelic Rock/Pop ist – wie seit seit Jahren -auch 2010 omnipräsent. Bei Janelle Monáe, bei Pantha Du Prince, selbst in Kanye West’s HipHop-Gemischtwaren-Laden wabert psychedelischer Nebel. Jedenfalls hätte ich unter die meiner Meinung nach besten Alben dieses Jahres ohne weiteres mit Tame Impala’s Innerspeaker ein anderes Neo Psychedelic-Referenzwerk neben Ariel Pink’s Before Today und Deerhunter’s Halcyon Digest stellen können. Aber ich habe das dritte Album von Beach House ein ganz kleines bisschen lieber als das Debüt von Tame Impala. Zumal Erbsenzähler Teen Dream eher Dream Pop nennen dürfen, was ein bisschen – nur ein bisschen – was Anderes ist, als Psychedelic Pop. Das Duo aus Baltimore war für die Aufnahmen zu Teen Dream in eine New Yorker Kirche gezogen (wie dereinst die formidablen Cowboy Junkies), und baute die dortige Atmosphäre sehr gelungen in den eigenen Sound und die passenden Songs ein. Ihre Musik war schon immer sanft, verträumt, aber auch hymnisch und ein bisschen gespenstisch. Und gerade die letzten beiden Charakteristika wurden nun hervorgehoben. Der große Kirchen-Raum schwingt im Sound des Albums mit, Hall und Echo bringen Stimmen und Instrumente auf verschlafene Distanz. Dass Sängerin/ Keyboarderin Victoria Legrand und Background-Sänger/ Gitarrist/ Keyboarder Alex Scally mit Reduktion umzugehen wussten, dass sie inzwischen zu tollen Songwritern in ihrem Metier gereift waren und auf diesem Album die Versprechungen der beiden vorherigen Alben einlösten, bringt Teen Dream in die Reihe der 12 wichtigsten Alben des Jahres 2010. Beach House arbeiteten wieder mit den für sie so typischen Drum-Machine-Rhythmen, Victoria Legrand’s Stimme erinnerte an eine emotionale Nico, sie war sich ihrer individuellen Stärke bewusst. Obwohl das Album aus einem Guss ist, würde ich die Single „Norway“, „Lover of Mine“, „10 Mile Stereo“ und den Opener „Zebra“ besonders hervorheben. Dass man mit einem so reduzierten Sound so reiche Musik machen kann, erstaunt mich immer wieder. Teen Dream ist sicher ein spezielles Album – das ist keine Konsens-Musik – und in ihrer Verschlafenheit kann man auch gelangweilt versinken. Aber das ist so bei „Dream-Pop“ und WENN man zuhört…. Ich denke, auch das hier hat zeitlose Qualität.
Und wieder: Die Auswahl – ich nenne es mal „Honourable Mention’s…
Natürlich kann man wieder andere Alben favorisieren und ihnen den Status „classic to be“ zuteil werden lassen: Tame Impala’s Innerspeaker Flying Lotus Cosmogramma, LCD Soundsystem’s This Is Happening oder Gorillaz‘ Plastic Beach, Das Debüt der Grindcore-Macht Nails, die Noise-Rock Könige Daughters, deren Album man kaum in physischer Form finden kann, oder noch schlimmer/besser – der experimentelle Emo-Core der freiwillig obskuren Brave Little Abacus – die ihr wunderbares Album Just Got Back From The Discomfort – We’re Alright nur auf Youtube veröffentlicht haben… warum auch immer. Man kann fast jedem Künstler hier oben einen Konkurrenten an die Seite stellen. Die Welt ist voller Wunder und das hier ist eine subjektive Auswahl.