2007 – Marissa Nadler bis Fursaxa – Facetten des Folk von Frauen

Auch für das „Folk-Genre“ gilt: Es gibt seit langem keine „reine Lehre“ mehr. Die Zeiten, als britische Folkmusiker – oder Bob Dylan in den USA – von Fundamentalisten verachtet wurden, weil sie sich von den Vorlagen aus der Zeit der Vorväter entfernt hatten, gar elektrische Instrumente einsetzten, ist lange vorbei.

Inzwischen gibt es Mini-Genre’s wie Psychedelic Folk, Indie Folk, Free Folk, Freak Folk, Avant-Folk, British Folk, Country-Folk… du erkennst, was gemeint ist. Und Alben, die in diese Schubladen fallen, passen auch in andere Schubladen…. was erfreulich ist, weil es der Freiheit entspricht, die Musik an sich haben soll. Hier folgen einige Beispiele, die nur den Ursprung im angelsächsischen Kulturkreis und das Geschlecht der Protagonistinnen gemeinsam haben (Parallel zum Folk-von-Frauen-Kapitel in 1971 z.B.). Der feminine Folk ufert in alle Richtungen aus… ist so postmodern, wie es nach der Jahrtausendwende nun mal üblich ist. Dass eine „Indie“ Musikerin wie Polly Jean Harvey ein Folk-Album gemacht hat, zeigt, dass es keinerelei Berührungsängste mehr gibt. In den USA findet man die famose Marissa Nadler, die verträumten, pschedelischen Folk spielt… jedenfalls kann man ihre Musik so nennen, wenn man sie nicht einfach als Singer/Songwriterin bezeichnen will. Und Singer/Songwriterinnen sind sie eigentlich alle – nur dass die Folk-Einflüsse – ob US-Psychedelic-Chamber-Folk (Joanna Newsom, Jana Hunter) oder ur-britische Folkmusik (Nancy Elisabeth, Rachel Unthank…) – mal mehr, mal weniger deutlich erkennbar sind. Oder ob die Künstlerinnen Folk als Ausgangspunkt für avanatgardistische Experimente nutzen (Grouper, Fursaxa), oder ob sie eine individualistische Welt erfinden, die von allem ein paar Bestandteile beinhaltet (Joanna Newsom, Serafina Steer). Es ist eine gezwungenermaßen abwechslungreiche Auswahl. Folk ist bloß der Rahmen, der um diese Alben gelegt wurde. Folk mithin, der angelsächsische Wurzeln hat – bei dem gerne allegorische, mitunter finstere Geschichten erzählt wurden, die das einfachen „Volk“ unterhalten sollten. Nicht komplex und akademisch, sondern nachvollziehbar. Wobei – schlicht ist im Folk letztlich Nichts! Folk war (und ist wie man hier hören wird) tiefgründig und klug. Für dieses Kapitel ist der Faktor wichtig, dass Frauen einen anderen Blick auf unsere patriarchalisch strukturierte Welt haben und hatten. Und gerade in der Folkmusik Englands und Amerikas wurde dieser Blick schon in den Sechzigern klarer gesehen, als in anderen Gattungen der Populärmusik. Siehe Shirley Collins, June Tabor, Linda Thompson, Sandy Denny, Joan Baez, Judy Collins, Joni Michell etc. Das waren anerkannte Musikerinnen, deren Texte gehört wurden. Folkmusikerinnen fanden als Songwriterinnen und Interpretinnen schon früh Anerkennung. Dass das auch in den 00ern noch so war stellt dieses Kapitel mühelos heraus.

PJ Harvey – White Chalk
(Island, 2007)

PJ Harvey’s Emily Brontë-Album. Klavierlastig, 30 Minuten kurz und… sehr folky. Das war nicht unerwartet, Diese großartige Künstlerin musste regelrecht irgendwann in die dunklen Gefilde des Folk wandern. Das tat sie – und gab uns eines der besten Alben des Jahres 2007. Lies mehr dazu im Hauptartikel…

Marissa Nadler
Songs III: Birds on the Water

(Kemado, 2007)

Einige Jahre jünger als PJ Harvey ist die Amerikanerin Marissa Nadler. Eine der eigenständigsten Songwriterinnen im Umfeld von Country, Folk, Dream Pop Whatever… Die musikalische Autodidaktin hatte seit 2004 zwei Alben gemacht, die sie in ihrer verträumten Düsternis unvergleichlich machten. Um eine Vorstellung von ihrer Musik zu machen, mag man sich mit den Namen íhres Tour-Packages behelfen – sie war mit dem American Primitivism-Meister Jack Rose und der Drone Metal Band Earth auf Tour gewesen. Sie würde demnächst mit dem Black Metal Künstler Xasthur arbeiten. Sie selber verband auf ihren ersten drei Alben sehr stilvoll und eigenständig Country und altertümlichen Folk mit „Gothic“ und Dream Pop. Was sofort auffiel, war ihre Stimme: Ein klarer Mezzo-Sopran, der völlig mühelos alle Gefühle zwischen Glück und endloser Trauer abdecken konnte. Eine Stimme, die den Hörer wie eine der mythologischen Sirenen ins Verderben locken konnte. Dass sie dazu ziemlich gekonnt Gitarre spielte, dass ihre Texte gerne im Ungefähren blieben, war natürlich genauso gedacht – und passt zur Musik und zur ätherischen Atmosphäre des Albums. Als Songwriterin war sie schon auf ihrem ersten Album sehr weit gewesen. Tracks wie „Dying Breed“ mit klingelnden Glocken, verhalltem Fingerpicking und einer wunderschönen, schlichten Folkmelodie, die 500 Jahre alt sein könnte. Oder das sehnsüchtige „Thinking of You“, bei dem sie mit sich selbst im Duett singt. Sogar, ihre Version von Leonard Cohen’s „Famous Blue Raincoat“ ist ohne Fehl und Tadel. Und wenn bei „Bird on Your Grave“ elektrische Gitarren gequält heulen, passt das sehr gut in ein musikalisches Konzept, das nur vordergründig niedlich scheint.Songs III: Birds on the Water mag diesem Kapitel gut als Headline dienen – Nadler’s Produzent und Begleiter Greg Weeks war auch Mitstreiter bei Mountain Home – und an diversen Keyboards half Orion Rigel Dommisse (siehe weiter unten).

Mountain Home
s/t

(Language of Stones, 2007)

…wie gesagt – auf Mountain Home treffen wir Marissa Nadler und Greg Weeks wieder. Eigentlich waren Mountain Home das Duo Joshua Blatchley und Kristin Sherer – Freunde von Greg Weeks, der gerade das Label Language of Stone gegründet hatte. Blatchley war ein virtuoser Gitarrist, Sherer spielte den Dulcimer, beide waren im selben Folk-Umfeld wie Weeks unterwegs, der holte zu den Aufnahmen die gerade produzierte Marissa Nadler, seine Frau Jessica Weeks sowie den Gitarristen Ilya Monosov von der Psychedelic Jam Band Shining Path dazu – dessen Solo-Album er auch bald für sein Label produzieren würde. Mountain Home ist genauso, wie es die Namen und die Umstände erwarten ließen. Der Trend zum Psych-Folk war virulent, die sicher etwas eskapistische Weltsicht, die jedes Folk-Album dieser Zeit prägt, findet sich hier in hohem Maße. Marissa Nadler’s Gesang, der hier immerhin ein kleines bisschen geerdeter wirkt, ist dennoch traumhaft. Dass diese Träume nicht unbedingt schön sind, passt einfach zu Folk… und hat auch schon in den 60ern dazuu gehört, als die Vorbilder der Musikerinnen in diesem Kapitel das Feld betraten, das nun noch einmal beackert wird. Und so interpretieren Mountain Home auch zwei Traditionals: „Omie Wise“ und vor Allem den Klassiker „Nottamun Town“ sind tolles Material, der Letztere wurde in den 50ern von Jean Ritchie, in den Sechzigern von Fairport Convention und von Bert Jansch gespielt. Bob Dylan’s „Masters of War“ beruht auf der Melodie, der Text ist absurd und verdreht, zeitlos. Dass aber auch die 10-minütige Eigenkomposition „Battle, We Were“ mit bedächtigem Schaukeln und dronigen Untertönen locker da ran kommt, macht dieses gerade mal 1/2-stündige Album noch kostbarer. Danach bezeichnete sich Marissa Nadler als permanentes Bandmitglied – aber Blatchley und Sherer hatten wohl keine Lust auf „Karriere“. Es blieb bei diesem einen Album.

Orion Rigel Dommisse
What I Want From You Is Sweet

(Language of Stone, 2007)

…ich verlasse in den Ohren mancher Dogmatiker mit What I Want From You Is Sweet wohl die Grenzen des „Folk“. Wobei Orion Rigel Dommisse (die heisst wohl wirklich so…) sich um Grenzen nicht geschert haben dürfte. Genauso wenig wie Greg Weeks – ihr Produzent und Mit-Musiker auf ihrem Debüt auf dessen Label Language of Stones. Tatsächlich ist dieses Album schwer einzuordnen, Demmisse hat einen Ansatz, der ein bisschen an die hippie-mäßig artifizielle Musik von Joanna Newsom erinnert. Alerdings – Demmisse spielt Keyboards – bis auf einen Track sind diverse Synth’s, Piano’s, Wurlitzer’s und hier und da mal ein Cello die tragenden Instrumente. Und ihre Stimme ist nicht so… seltsam, wie die von Newsome. Die Arrangements sind schlichter, dafür sind die Lyrics augefeilt und konkret. What I Want From You Is Sweet ist eine Kollektion düster-trauriger, folk-orientierter Songs. Es gibt keinen gecovertern Traditional, Ihr gern gezupftes Cello gibt den Songs oft eine verspielte Atmosphäre. Dazu hat Demmisse eine hohe, sanfte Stimme… die Texte singt wie „…when you die i’ll rearrange your bones/ Into the shape of an animal you love…“ bei der kurzen Vignette „Faceless Death“. Wenn Greg Weeks bei „Suicide Kiss (Because Dead)“ die Gitarre zum kargen Sound hinzufügt, frage ich mich, ob eine etwas weniger spartanische Ausstattung dem Album nicht vielleicht gut getan hätte. Denn die Songs sind labyrinthisch, hätten etwas Schmuck vielleicht vertragen. Und ein Song wie der Closer „Drink Yourself (To Death)“ ist schlicht sehr gut geschrieben, sehr gut getextet – „Just drink yourself to death/ So I never have to see you again/ And I know, my love, it sounds cruel/ But I’m not the one killing you“ und mag mit einem Arrangement incl. einer Gitarre oder Percussion weniger betäuben. Andererseits… DAS wollte Orion Rigel Demmisse sicher genau so haben.

Meg Baird
Dear Companion

(Drag City, 2007)

Meg Baird wiederum ist Teil der famosen Espers, deren Folk weit in die psychedelischen 60er zurückreicht. Wo sie…! mit Greg Weeks musiziert..! der mit ihr auch ihr zweites Solo-Album Dear Companion aufnimmt. Nun – Espers sind ziemlich psychedelisch. Als Koordinate mag dem Kenner der Name Comus was sagen. Aber Baird’s Solo Alben sind eine weniger benebelte Angelegenheit. Dear Companion ist – wie alle Alben hier – Eskapismus pur… könnte man sagen. Sie covert ein paar Traditionals, von denen vor Allem „The Cruelty of Barbary Ellen“ sehr beeindruckt. Wie bei Mountain Home sind die Zutaten altbekannt, und zugleich wundervoll zubereitet. Meg Baird’s Sopran ist schlicht und klar, sie singt mit Ausdruck und sie weiss, wie man eine so traurige Geschichte singen muss: Die Frau, die den Mann nicht heiraten will, aber dann, als er stirbt, vor Gram vergeht – das ist klassisches Folk-Material, da muss man die Technik zurücknehmen. Das geschieht mit sauberem Fingerpicking und gedoppelter Stimme. Wunderbar auch, wie sie Jimmy Webb’s „Do What You Gotta Do“ ins Folk-Idiom übersetzt. Und auch die eigenen Songs – „Riverhouse in Tinicum“ und „Maiden in the Moor Lay“ – passen ins Umfeld. Den Titeltrack gibt es als Opener und – a-Capella – als Closer. Meg Baird machte mit Dear Companion alles richtig. Dieses Album muss sich nicht vor Klassikern von Sandy Denny oder June Tabor verstecken. Natürlich kann man sich auch hier fragen, warum gerade in den 00ern diese Art, alte Musik neu zu interpretieren, ein Revival erlebte. Da besinnen sich seit einigen Jahren junge Musiker auf eine Zeit zurück, die einfacher scheint, die idealisiert wird. Da wurde erst mit dem Folk der 60er experimentiert und nun wird er – mit großem Respekt – deutlicher zitiert. Was herauskommt ist glaubhaft interpretierte Folkmusik – und die IST eigentlich zeitlos.

Joanna Newsom
Joanna Newsom & The Ys Street Band EP

(Drag City, 20017)

…jetzt gehen wir zu Joanna Newsom: Das ist die Frau, die das Bild der Folkmusikerin in den 00ern geprägt hat, wie keine andere. Ob zu Recht, mag man in Frage stellen. Denn in ihrer Musik war schon im Debüt The Milk-Eyed Mender (2004) alles mögliche von Klassischer Musik über Kammermusik bis zum avantgardistischen Indie-Pop integriert. Aber natürlich hat sie auch aus den tiefen Quellen der anglo-amerikanischen Folkmusik geschöpft. Ohne Country wohlgemerkt. Und dann kam im Jahr 2006 ihr Meisterwerk Ys (Lies darüber im Hauptartikel…). Das wurde für die EP Joanna Newsom & The Ys Street Band noch einmal zitiert. Streng genommen besteht diese EP aus nur einem neuen Song und zwei Re-Arrangements. Aber dieser eine Track ist allein schon die EP wert Bei „Colleen“ geht es um die irische Sagengestalt der „Selkie“: Um eine Frau, die das Meer in Seehundgestalt bewohnt. Die – wenn ans Ufer gespült – in der Sage vom Mann gerne zur Frau genommen wird, indem der ihr das nun abgelegte Fell abnimmt, woraufhin sie ihren Ursprung im Meer vergisst. Nun – Newsom lässt die Selkie von ein paar Nonnen auffinden, die sie mit der Geschichte, sie sei eine ins Meer geworfene Hure an sich binden und zu ihrer Magd machen. Die Arme weiss nie, weshalb sie dauernd vom Meer träumt, warum sie die Pflanzen im Garten überwässert, warum sie das Bild eines Narwales so beeindruckt. Das ganze wird in einem wunderbaren – sehr „folkigen“ – Arrangement vorgetragen. Newsom’s kurze Kiekser, ihr kindhafter Gesang (der manche Menschen aufregt) ist genau dafür wie geschaffen. Man fühlt mit, dazu eine schöne Melodie, die – typisch Newsom – Komplexität und Kinderlied-haftigkeit verbindet… was will man mehr? Der Song hätte genau so auch auf Ys Platz finden können. Dass Newsom das ebenfalls sehr schöne „Cosmia“ – den Closer auf Ys – hier instrumental auf 13 Minuten ausdehnt, ist einfach eine Ergänzung. Das Original hatte Van Dyke Parks (Freund und Arrangeur von Brian Wilson von den Beach Boys) wunderbar verziert. Auf der EP wurde es von der Tour-Band instrumental erweitert. Und bleibt natürlich schön. Joanna Newsom & The Ys Street Band ist eine wohltuende Ergänzung, ein Beweis, dass Newsom ihre Musik auch ausserhalb des Studios zu meistern in der Lage war. Aufgenommen wurde die EP nach drei wegen Stimm-Problemen abgesagten Konzerten. Nun – wer klingt wie Joanna Newsom? Niemand…

Nancy Elizabeth
Battle and Victory

(Leaf, 2007)

…auch nicht die in Manchester’s Folk-Szene etablierte Nancy Elizabeth Cunliffe. Man muss in dieser Zeit darauf hinweisen: Die hatte nie vor, sich an Joanna Newsom anzuhängen. Die ebenfalls von ihr gespielte Harfe ist nun einmal ein Instrument, das in der schottischen und irischen Folkmusik genutzt wird. Dazu bereicherte sie ihre Musik noch mit Instrumente wie Gitarre, Dulcimer, Bouzouki, Glockenspiel, Melodika, Harmonium – alles von der Multi-Instrumentalistin gespielt. Dass bei den Fähigkeiten noch etliche weitere Musiker mittaten, war fast erstaunlich. Und dennoch quillt Battle and Victory nicht über. Es ist ein Singer/Songwriter-Album, das große Inspiration aus der englischen Folkmusik bezieht (…wie Alles hier…). Wie etwa das Harmonium den Tribal-Rhythmus von „I Used to Try“ unterlegt (und klingt, wie ein Dudelsack), das ist eindeutig „folky“. Es ist freilich nicht der Folk, den US-Bands wie Espers spielen. Die Britinnen in diesem Kapitel berufen sich meist auf ältere Traditionen, lassen den Psychedelik-Geist in der Flasche (Siehe bei beiden folgenden Alben). Battle and Victory wurde in den entsprechenden Folk-Zirkeln hoch geschätzt, und auch ausserhalb dieser wurde ihr einfallsreiches Songwriting gelobt. Wie sie bei „The Remote Past“ die Harfe, einen Cello-(?)Drone, die elektrische Gitarre und ihre gedoppelte Stimme einsetzt, das ist kunstvoll, wenn auch nicht so Kate-Bush-artifiziell, wie es Joanna Newsom dieser Tage war. Das Album mag etwas zu clean produziert sein und Elizabeth‘s Stimme ist nicht kristallin, sondern ungekünstelt. Aber wenn man Songs wie den Walzer „Coriander“ zweimal gehört hat, bleiben sie hängen. Und das von akustischer Gitarre getragene „Weakened Bow“ ist delikat. Battle and Victory ist nicht traditionelle britische Folkmusik… es ist Britischer Folk in moderner Form. Womit das Album einer Entwicklung folgte, die seit dem Folk-Hype in den USA auch im United Kingdom immer stärker wurde. Siehe…

Rachel Unthank & The Winterset
The Bairns

(EMI, 2007)

Dass diese Band die Speerspitze des traditionelleren Folk aus dem UK bilden würden, war nach ihrem zweiten Album The Bairns (schottisch für „Kinder“) offensichtlich. Noch stand der Name der älteren Schwester Rachel auf dem Cover, aber Becky Unthank sang auf dem kompletten Album unfassbare Harmonie-Vocals. Die Stimmen der beiden Schwestern unterscheiden sich sehr – aber zugleich entstehen Harmonies, die unkopierbar und zauberhaft sind. Die Beiden wuchsen im County of Durham auf – nahe der schottischen Grenze und im historischen Northumbria. Ihr Vater George Unthank war Sänger bei der Folk-Band The Keelers – so wurden sie von klein an von der lokalen Variante schottischer Folkmusik – der Musik Northumbria’s – beeinflusst. Sie haben den traditionellen Clog-Dance drauf, den sie bei „Lull II: My Lad’s a Canny Lad“ zu Gehör bringen. Sie lernten in schöner britischer Folk-Tradition etliche Tunes von alten Leuten, dokumentieren das im CD-Inlay, und hatten nach dem gefeierten 05er Debüt Cruel Sister nun den erfreulichen und nicht mehr ganz so überraschenden Durchbruch. Es mag an ihrer fehlerlosen Verbindung klassischen Materials mit Kompositionen ihrer Pianistin Belinda O’Hooley und der bemerkenswerten Version von Robert Wyatt’s „Sea Song“ liegen. Die Tatsache, dass diese jungen Folky’s eben NICHT dogmatisch an ihr Material herangingen. Dass Songs wie der Opener „Felton Lonnin“ so gelungen sind, ist einer Kombination verschiedener Faktoren zu verdanken: Es ist ein uralter „Lullabye“ mit dunklen Untertönen, der Text ist schwer zu verstehen, weil teils im Northumberland-Akzent, sie fügen Strings und Bass hinzu und Percussion sind Becky’s High-Heels… und das Ganze bezeichnet Rachel humorig als Glamfolk. The Bairns ist ein eigenständiges, modernes und stilechtes Folk-Album, das unabhängig von Trends funktioniert. Bald benannten sie sich in Unthanks um – und machten 2009 mit Here’s the Tender Coming ein Album, das ich in die Gruppe der „Wichtigsten…“ gehoben habe.

Serafina Steer
Cheap Demo Bad Science

(Static Caravan, 2007)

Als Serafina Steer erstmals Joanna Newsom gehört hat, dürfte sie ein bisschen frustriert gewesen sein. Und es ist ein bisschen einfach, sie in dieses Kapitel, in diesen Zusammenhang zu setzen. Aber das Debütalbum der Londoner Songwriterin IST in mancher Hinsicht nah an der Musik von Joanna Newsom. Und damit ist nicht der Sound der Harfe genannt. Die ist auf Cheap Demo Bad Science ziemlich präsent, aber Steer’s Stimme ist bei weitem nicht so schockierend, ihre Songs sind durchaus komplex – Komponieren an der Harfe und am Klavier mag zu gewundenen Songs führen – aber sie hat eine Art Folk-Einflüsse mit moderner elektronischer Musik zu verbinden, die dieses Album sehr eigenständig werden lassen. Dass sie als Opener Brian Eno’s „By This River“ wählt, mag bezeichnend sein. Die restlichen zehn Tracks sind allesamt Eigengewächse. Und spätestens da zeigt sie, wie weit sie davon entfernt ist, ein Newsom-Klon zu sein. Man kann sich nicht vorstellen, dass Newsom Worte singen würde, wie „Bring it on, wanker! Bring it on, wanker…!“ beim häuslichen Drama von „Council Flat“. Songs wie „Peach Heart“ oder „Curses Curses“ sind bei weitem nicht so hoch-artifiziell, wie die Epen von Newsom. Dafür spielen sie in einer Realität, die genau beobachtet wurde. Und die Melodien zu diesen Stories sind fast erschreckend einfallsreich – sind ungewöhnlich. Wer solche Songs schreiben kann, muss nicht verglichen werden. Ob Cheap Demo Bad Science überhaupt mit dem Begriff „Folk“ kategorisiert werden kann, wäre eine berechtigte Frage. Die Harfe… ok. Aber Steer’s Songs sind höchstens folk-verwandt. Was AUCH für die Songs von Joanna Newsom gilt. Ich halte es wie immer so, dass ich vermute, dass jemand, der Unthanks, Newsom und Nadler mochte, Serafina Steer’s Debüt aus ählichen Gründen mögen könnte. Aber dieses Album passt auch sehr gut ins Kapitel über Singer/Songwriter. Höre nur das wunderbar elektronische „Curses Curses“. No Folk at all.

Jana Hunter
There’s No Home

(Gnomonsong,2007)

Jetzt könnte es Dogmatikern zu viel werden? Jetzt kommen drei Künstler und ihre 2007er Alben, die sich stilistisch immer weiter vom „Folk“ wegbewegen… wobei: WAS ist dennn Folk? Nehmen wir die Texanerin Jana Hunter. Die war befreundet mit Freak-Folk Posterboy Devendra Banhart, hat mit dem 2005 eine Split-EP gemacht und ihr sehr gelungenes, etwas demo-haftes Debüt Blank Unstaring Heirs of Doom auf dessen Label Gnomonsong veröffentlicht und versuchte jetzt auf There’s No Home alles ein bisschen besser zu organisieren. Die Musik auf diesem Album fällt zu Recht unter den angesagten Begriff Freak Folk. Es ist die Musik, die vielen Musiker/innen inzwischen via Hype die Möglichkeit gab, Aufmerksamkeit zu bekommen… Sprich – Der Freak Folk-Hype war ein Grund für das Erscheinen etlicher toller Künstler/innen – und ist somit eine Basis für dieses Kapitel. Letztlich ist Jana Hunter – wie Devendra Banhart – eine Songwriterin, die in einigen stilistischen Wendungen US-Folk belehnt, der wiederum historische Wurzeln in Europa/England hat. Jana Hunter’s Stories sind düster und gespenstisch, sie setzt ihre kühle Alt-Stimme effektiv ein, lässt sich hier und da gesanglich begleiten. There’s No Home ist dezent instrumentiert, meist ihre Gitarre und eine Lap-Steel oder ein Synthesizer. Schön ist das mit Lap-Steel und Fingerpicking veredelte „Regardless“. Dafür wird „Pinnacle“ von einem Feedback-Drone unterlegt und Hunter murmelt Beschwörungen. Bei ihr hört man, dass sie mit Country aufwuchs, „Oracle“ könnte ein Traditional von der Carter Family sein. Mit ihrem zurückhaltenden aber selbstbewussten Gesang und mit einigen wirklich schönen Songs machte sie sich in der Freak-Folk-Szene einen guten Namen. Aber nach diesem Album wandte sie sich der Band Lower Dens zu. Das war dann definitiv kein „Folk“ mehr.

Grouper
Cover the Windows and the Walls

(Root Strata, 2007)

Grouper -das ist die aus Portland stammende Liz Harris. Und das Album Cover the Windows and the Walls ist in diesem Kapitel dasjenige, das am weitesten ausserhalb der Grenzen des „Folk“ navigiert. Grouper (den Namen hatte sie in der Kommune bekommen, in der sie aufwuchs…) hatte in den Jahren zuvor drei Ambient-Alben gemacht. Drone, Tape Music, Field Recordings, mit experimentellen Musikern gearbeitet… aber sie ließ auch immer Ausläufer in alte Folk-Waisen sprießen. Diese sehr freie und fantasievolle Musikerin hatte – ganz postmodern – keine Berührungsängste mit anderen Musikrichtungen. In dieser Zeit und für dieses Album tränkte sie jede Melodie, jeden Gedanken in Reverb. Man kann es so ausdrücken, das Cover the Windows and the Walls so klingt, als wollten My Bloody Valentine sich als Psychedelic-Folk Band ausgeben. Natürlich sind alle Songs selber geschrieben – sie nutzt keine Traditionals (obwohl ich mir das gut vorstellen könnte…), sie bewegt sich im Schneckentempo voran und ein Track wie „Down to the Ocean“ dürfte den Bagpipe-Folkie ggf. überfordern. Ein wummernder, betäubender Drone, ohne Melodie, nur Stimmung. Immerhin hebt Grouper im folgenden „Heart Current“ ihre Stimme. Aber die verschwindet auch bald in Echo-Kammern, die Melodie mag schlicht sein, mag irgenwie sogar als Folk-Song begonnen haben, aber der Sound geloopter Gitarren und rauschender Synthesizer legt sich über die Melodie und lässt sie zerfliessen… was auch so gewollt ist. Grouper experimentierte in dieser Zeit mit Sounds… aber sie hatte den Folk-Song (eigener Prägung) entdeckt – und im folgenden Jahr kam mit Dragging a Dead Deer Up a Hill ein glaskleres Psychedelic Folk Album aus diesem Experimentierlabor heraus. (Lies dazu im Hauptartikel 2008). Und Nein – dies ist kein Folk-Album, Man mag das großzügig Psychedelic Folk nennen, aber DAS Feld wird auch nur an den Grenzen berührt. Und trotzdem…

Fursaxa
Alone in the Dark Wood

(ATP/R, 2007)

…kommt zuletzt auch Tara Burke – die sich Fursaxa nennt. Die ist in den Freak/Free Folk Kreisen der 00er eine anerkannte Größe. Und ihre Alben haben mit dem, was man unter traditionellem Folk versteht, so gut wie Nichts zu tun. Nun – sie nannte ehrlicherweise Krautrock, mittelalterliche Musik, Renaissance-, Minimal- und Weltmusik als Einflüsse. Spannend wird es, wenn man sich ihre vielen Alben anhört und feststellt, dass sie mit eigentlich einfachen Mitteln einen sehr distinktiven Sound und Style geschaffen hat. Sie arbeitet mit vielfach übereinander geschichteter Stimme, mit akustischer Gitarre, Dulcimer einem billigen Casio Keyboard und Akkordeon. Und – natürlich – sie ist keine Songwriterin, die mit Marissa Nadler verglichen werden kann. Tracks wie „Nawne Ye“ klingen eher wie Beschwörungen der Ureinwohner der Great Plains. Hier ist es einzig ihre Stimme, die zu einem rhythmischen Chant anhebt. Da ist das darauf folgende „Sheds the Skin“ schon näher an Melodie – auch wenn es nur zwei Akkorde sind, die wortlosen Gesang unterlegen. Erstaunlich ist auch, wie abwechslungsreich die 13 Tracks auf Alone in the Dark Wood bleiben. Es sind oft gespenstische Vignetten von knapp zwei Minuten Länge. Tracks, die genau den Titel des Albums wiedergeben. Dass sie damit auch folk-gewöhnte Ohren erreichen kann, ist nur eine Vermutung. Die letzten beiden Alben in diesem Kapitel haben nur wenige mit „Folk“ verbundenen Eigenschaften. Keine durchdachten Songs, die vielleicht sogar über Jahrhunderte weitergegeben wurden. Keine uralten, immergültigen Weisheiten die in blutige Geschichten gehüllt wurden. Free und Freak Folk lehnte sich genauso an Krautrock, Free Jazz und andere experimentelle Musik-Gattungen an wie an Folk (ob aus den USA oder dem UK…). Immerhin haben Musikerinnen wie Fursaxa eine unakademische Haltung mit etlichen Folkmusikern gemeinsam. Dennoch -die Überschrift dieses Kapitels mag manchem Leser für Fursaxa und Grouper nicht passen. Pech gehabt…