1995 – Thurston Moore bis Blonde Redhead– Gimme Indie Rock – Facetten

Ich verweise immer wieder gerne auf dieses tolle Buch von Andrew Earles mit dem von der Band Sebadoh entliehenen Songtitel „Gimme Indie Rock“. In dem werden 500 Alben von US-Bands aus der Zeit von 81 bis 96 als wichtige Beispiele für den extrem heterogenen (Stil)-Begriff „Indie Rock“ vorgestellt.

Nun – für 1995 z.B. hat Earles etliche (46 – ich hab’s gezählt) Alben ausgewählt, die einerseits den Beweis liefern, dass „Indie-Rock“ inzwischen im Mainstream angekommen war. Aber dann sind da auch etliche Alben, die zeigen, WIE viel Musik aus verschiedensten Gründen doch unter dem Radar blieb. Sonic Youth, Pavement oder Green Day und demnächst die Nirvana Nachfolger Foo Fighters wurden zu household names unter Musikinteressierten. Allerdings warfen manche Indie-Fundamentalisten diesen Bands bald gern „Ausverkauf“ vor – weil sie unverschämterweise kommerziell erfolgreich geworden waren und bei Majors veröffentlichten… und nicht mehr nur von eingeschworenen Kennern gehört wurden. Dabei hatten diese Acts nur das erreicht, was eigentlich doch erstrebenswert ist… Sie konnten von ihrer Musik leben und man kam problemlos an Alben – die man lieben würde, wäre das nicht so mainstream… Andererseits waren da haufenweise Bands, die immer noch bei kleinen Labels veröffentlichten, deren Alben auch in den folgenden Jahren obskur blieben, die in den 00ern in Vergessenheit gerieten, obwohl ihre Musik nicht schlechter war, als die „etablierter Acts“. Gimme Indie Rock weist demokratisch auf Bands und Alben beider Art hin – man merkt, dass es dem Autor nicht um Credibility ging, sondern einer Leidenschaft gefolgt wurde. Ich suche für dieses Kapitel stilistisch breit gefächert Alben aus und schreibe darüber – mit dem Hinweis, dass der Interessierte Hörer auch das Buch lesen sollte. Es ist nicht übersetzt worden, obwohl es ein Standardwerk ist, das ich mir hier erlaube in den mir zutreffend scheinenden Formulierungen zu übersetzen und zu zitieren. Mir bleibt nichts anderes übrig, weil Earles‘ Worte wiedergeben, was auf den beschriebenen Alben zu finden ist und ich somit automatisch mindestens sinngemäß das Gleiche sagen würde. Wegen ihrer Menge sind nicht alle ’95er Alben aus besagtem Buch beschrieben, ich bezeichne spaßeshalber alle Alben hier mit „Gimme…. whatever“, wodurch der heterogene Begriff „Indie Rock“ mit Leben erfüllt ist. Dass mit Washing Machine eines der Alben aus Gimme Indie Rock im Hauptartikel ’95 beschrieben ist, darf nicht verwundern. Indie Rock war 1995 allgegenwärtig und immer noch voller Innovationspotential.

https://music.apple.com/de/playlist/der-gro%C3%9Fe-rockhaus-1995-gimme-indie-rock-facetten/pl.u-xlyNNDdTka7bN8Y

Sonic Youth – Washing Machine
(Geffen, 1995)

Sonic Youth sind in den Neunzigern zur Institution geworden – und das gilt auch für den „Indie Rock“… dessen Facette „Noise“ sie auch ’95 perfekt bedienen. Und dass sie als Vertragspartner dem Major Geffen musikalische Verwandschaft weiterempfehlen, sollte ihnen hoch angerechnet werden….

Thurston Moore
Psychic ♥♥♥’s

(DGC, 1995)

Gimme Noise Rock

…aber auch Solo macht ein Mitglied von Sonic Youth 1995 Indie Rock – his special sort of . In der Tat hatten Sonic Youth mit dem Album VOR Washing Machine vermutlich ein paar Fans verschreckt: Experimental Jet Set, Trash and No Star war zwar ihr bis dahin höchster Charts-Einstieg (Indie-Rock Hype eben…), aber es war NICHT ihr bestes Album – es war eher eine Verweigerung gegenüber all den zuvor bei Goo (’90) und Dirty (’92) verwandten Mittel Catchyness, Dynamik, Spannung. Nun – Moore hatte wohl Lust, all die Mittel und Erkentnisse nun eben für ein Soloalbum zu verwenden. Dass ihm hier seine Kollegen fehlten, war erkennbar. Zwar saß Steve Shelley auf dem Drum-Stuhl, aber das blinde Verständnis der BAND Sonic Youth bei den ausgedehnten Gitarren-Impro’s war naturgemäß nicht da. Und dennoch ist Psychic ♥♥♥’s erkennbar ein Werk aus Leidenschaft. Und ein Album von einem, der genau weiss, wie man Musik auftürmt, noch höher auftürmt.. und dann zusammenbrechen lässt. Bestes Beipiel dafür ist natürlich der 19-minütige Closer „Elegy for all the Dead Rock Stars“. Mit dem Titel und mit dem aus einem schlichten Thema immer weiter wachsenden Noise-Sturm ist schon fast alles gesagt. DAS war Moore’s Musik, das hatte er mit seiner Band ausformuliert und in künstlerische Höhen getrieben, die SY zur Ausnahme-Band gemacht hatte. Psychic ♥♥♥’s hat auch noch etliche weitere feine Songs – meist kurze noisige Garage-Rock-Kracher, Songs über Girls & Love. Klassisch, und mit Feedback und Lärm übergossen. Und Tracks wie der Opener „Queen Bee and her Pals“ oder der „Blues From Beyond the Grave“ sind auch ohne die Kollegen toll. Einzig der Gedanke kommt manchmal, wie das wohl mit Lee Ranaldo und Kim Gordon geklungen hätte? Aber egal – Psychic ♥♥♥’s ist so wie es ist. Und es ist auch gut genau so wie es ist. Der Fan der Band hatte vermutlich genau hiernach gesucht. Kein Wunder, dass Geffen Records das Album veröffentlichte. Psychic ♥♥♥’s erschien im Mai ’95. Im September kam dann Washing Machine. Guter Plan.

Pavement
Wowee Zowee

(Matador, 1995)

Gimme Indie Rock

Auch für diesen Klassiker des „Indie Rock“ sind A. Earle’s Worte aus Gimme Indie Rock erhellend. Der schrieb nämlich dass „…laut dem Rolling Stone das bunte, experimentelle Stil-Büffet auf der Doppel LP Wowee Zowee Pavement’s Antwort auf den relativ großen kommerziellen Erfolg des Vorgängers Crooked Rain, Crooked Rain gewesen sein dürfte“. Nun – Steven Malkmus wiederum meinte, die Band hätte bei den Aufnahmen zuviel Marijuana konsumiert. Earles jedenfalls ist das egal und er hält Wowee Zowee für besser als den Vorgänger (…ich nicht, die Alben sind schlicht unterschiedlich) Das Album der zu dieser Zeit via Hype maßgeblich gewordenen Indie Band wurde direkt vor Sonic Youth’s Washing Machine (siehe ganz am Anfang dieses Kapitels) im Easley McCain Recording Studio in Memphis aufgenommen – und es zeigt eine Band, die einen kreativen Höhe- und Endpunkt erreicht hat – ob angestrebt oder nicht. Dass Pavement „afraid of success..“ war, zweifelt der Autor immerhin an: Eine Band, die ihr Album zunächst Dick-Sucking Fool at Pussy-Licking School nennen wollte, habe vor Nichts Angst… na ja, den Titel haben sie ja auch nicht genommen, da dürfte ihr Management dagegen gewesen sein. Egal, wie der Titel Wowee Zowee zustande kam, Pavement waren tatsächlich auf dem kreativen Zenith. Ihre Mischung aus unverbogenen anti-kommerziellen Noises und unwiderstehlichen Hooks war zur Perfektion gelangt. Mit ihrer Fähigkeit, beste Song-Ideen so sehr zu verbiegen, dass sie aus aller Banalität herausragen, ließ ihnen die Möglichkeit alle (ok – fast alle…) Facetten des „Indie Rock“ zu beleuchten, ohne banal zu werden. Ohne jemanden ungewollt zu imitieren. Pavement mögen ja bekifft gewesen sein, aber dabei haben sie ihren shit beisammen gehalten… oder bekifft sein passt zum kreativen Prozess bei der Erschaffung solcher Songs wie „Motion Suggests“ oder „Grounded“. Schließlich waren Pavement ja auch immer die Hippies unter den Indie-Koryphäen. Wowee Zowee ist ein Album, das die chaotische Seite des Indie Rock in seltsam angenehmer Ordnung zeigt. Wenn du weißt was ich meine…

Foo Fighters
s/t

(RCA, 1995)

Gimme Hardcore Rrrock

Klar. DAS ist Indie Rock – die Nachfolge-Band von Nirvana – nachdem sich Kurt Cobain umgebracht hat, muss ihr Drummer Dave Grohl den Indie Rock doch retten. Dabei war der doch erst 1990 zur Band dazugeholt worden. Nun – immerhin war er nicht der lustige Bube, wie Ringo Starr etwa, galt vielmehr als recht cool, hatte haufenweise Credibility – Hatte davor bei der Washingtoner Hardcore Band Scream gespielt. Dass er mit seinen Foo Fighters im Laufe der Jahre ein bisschen altväterlich hemdsärmelig rrrrock werden würde, war nicht so richtig abzusehen. Und den kommerziellen Erfolg (der vielen der hier genannten Bands leider nicht zuteil wurde) gönnt man doch bitte gerne!! Und dazu noch… Grohl hatte die Songs zu Foo Fighters im Laufe der letzten fünf Jahre auf dem Drum-Seat von Nirvana geschrieben.Obwohl auf dem Cover-Foto die Tour-Band abgebildet war, hatte Multi-Talent Grohl alle Instrumente (bis auf einen Gitarrenpart von Greg Dulli von den Afghan Whigs) selber eingespielt. Und – A. Earles beschreibt es korrekt – dieses Album ist kein Nirvana Abklatsch. Kein unerträglicher und ein bisschen befürchteter Grunge light. Der Vergleich mit Bob Mould’s Sugar, mit Hüsker Dü ist durchaus zutreffend. Ein Song wie „Alone + Easy Target“ ist kraftvoller Hardcore mit leichter Beatles-Schlagseite. Grohl’s Stimme ist erfreulich unsentimental, die Gitarren sind manchmal sogar fast weisses Rauschen und dass Foo Fíghters die Top 30 der US-Pop-Charts erreichte, hatte vielleicht mehr mit der Bekanntheit Grohl’s zu tun, als mit irgendeiner Form von Kommerz. Tatsächlich sind Songs wie der Opener „This Is a Call“ schlicht toller Indie Rock pur. Ohne den Namen Nirvana im Gepäck wäre das Album zugleich kredibler und erfolgloser gewesen. Es war der absolut eherenhafte Start einer erfolgreichen Karriere – und Dave Grohl ist ein großartiger Drummer!!

Green Day
Insomniac

(Warner Bros., 1995)

Gimme Pop-Punk

…wie sagt Andrew Earles in Gimme Indie Rock: …:sie hatten sicher auch Hilfe von anderen Bands, aber Metallica, Nirvana und Green Day sind das Triumvirat, das laute Gitarren in den frühen 90ern massenkompatibel machte. Green Day gelang genau das mit dem Insomniac vorangehenden ’94er Mega-Hit-Album Dookie, Die drei Alben vor Dookie waren schon ok, aber Songwriter Billy joe Armstrong lernte da noch seine Liebe zu den Sex Pistols, Bad Religion und den Beatles in Songs auszuformen. Insomniac – Album No 5 – profitierte als klischeehafte Antwort von Green Day’s unerwarteter Weltherrschaft, indem die Band jetzt heavier und kompromissloser wurde. Nun war ihre Geheimwaffe – Produzent Rob Cavallo – wieder dabei und half der Band, Wände aus Riffs zu bauen. Im Vergleich war Dookie dann doch ein (so nennt Earles das…) Haufen „locker-room dip-shittery“. Hier gibt es Präziosen wie „Geek Stink Breath“ oder die Single „Brain Stew/Jaded“ (die Earles einen der besseren Momente im Mainstream-Radio der 90er nennt. Insomniac ist IMO ein sehr kompaktes und sehr kraftvolles Pop-Punk-Album, das sich neben Alben von The Offspring oder Bad Religion nicht verstecken muss. 2004 machten Green Day mit American Idiot ein noch größeres Hit-Album und gaben – im Gegensatz zu viel zu vielen erfolgreichen Acts in den USA – einen notwendigen und gelungenen Kommentar zur politischen Situation und zur erstarkten Rechten in den USA. Schon dafür muss man diese Band respektieren. Und dann noch – Pop (Punk) ist eine Kunst. Hier wurde sie fast perkekt ausgeführt. Und auch das ist Indie Rock. Und zuletzt (… als Bemerkung für Pop-Verächter und Credibility-Wächter). Dieses Album dürfte einige sehr junge Leute 1995 dazu gebracht haben, sich bald auch NOCH lautere Gitarren anzuhören.

Guided By Voices
Alien Lanes

(Matador, 1995)

Gimme Power Pop

… dies war das Album nach dem Durchbruch (verwegene Bezeichnung für eine Indie Band, die nie aufhörte „indie“ zu sein…). Der Vorgänger Bee Thousand (siehe Hauptartikel 1994) hatte viele Hörer auf diese Band und ihre Ästhetik aufmerksam gemacht. Auf ihre Art, Power Pop in minutenkurze Lo-Fi-Songs zu verpacken. Nun waren sie beim großen Indie-Label Matador gelandet, – und reflexhaft ertönte das Geschrei, sie würden Ideale verraten. Nun – laut Andrew Earles bekam die Band die exorbitante Summe von 100.000 $ zur Verfügung gestellt, soll aber laut einem Buch über die Band ganze 10 $ ausgegeben haben, wenn man die Kosten für’s Bier abzieht. Man bediente sich einfach in 28 Songs aus dem eigenen, riesigen Lo-Fi-Archiv. Letztlich ist Alien Lanes eine tolle Ergänzung und Fortführung des unverschämt eingängigen Power Pop aus der Küche, den man auch auf Bee Thousand gehört hatte. Nur in wenigen Ausnahmefällen wurde die 2-Minuten Grenze überschritten, es gibt Songs, die einerseits nach einer Verlängerung schreien, die aber andererseits gerade wegen ihrer Kürze die nötige Würze haben. Was ist das bei „Ex-Supermodel“? Schnarcht da jemand den Rhythmus? Blöd. Aber danach haben wir den wunderbar ruhigen, mit schräger Geige verzierten Beatles-Pop-Hit „Blimps Go 90“ – der nach 1:40 Min. aus ist. Es gibt (im Gegensatz zum Vorgänger) einen stilistischen Faden, eine gewisse Einheitlichkeit in dieser speziellen Songsammlung, die klingt wie die Jam-Session der besten Garagen-Pop-Band der Welt. Noch war Robert Pollard nicht Allein-herrscher/-Songwriter bei Guided By Voices, noch gab es Songs von Tobin Sprout, sein „A Good Flying Bird“ ist eines von mindestens 20 Highlights. Dass Pollard zu der Zeit leicht paranoid war, mag man an einem Song wie „Always Crush Me“ erkennen. Und dann endet die LP mit dem kraftvollem Indie Rock von „Alright“. Das Wort ist der ganze Text. Eine tolle Facette Indie Rock – dass die Band auf etlichen Alben danach nicht mehr so toll gewesen sein soll, kann man – aber muss man nicht – finden.

Bardo Pond
Bufo alvarius, amen 29:15

(Drunken Fish, 1995)

Gimme Psychedelic Noise

…jetzt aber mal ein Sprung ins kalte Wasser: Bardo Pond ist eine Band, die mit allen Extremitäten in der noisigen, drone-igen Ecke des Indie Rock steht. Earles nennt die Stilbezeichnungen Drone-Rock, Free-Rock, Noise-Drone und stellt die korrekte Beziehung zu den Neuseeländern The Dead C her (deren Musik man kennen sollte, auch wenn man sich nach dem Anhören von Harsh 70s Reality womöglich nur noch Fleetwood Mac’s Rumours anhören mag). Nun – ganz so schwer und ausserhalb normaler Pop-Strukturen ist Bufo alvarius, amen 29:15 nicht. Dieses Bufo Alvarius ist ein Sekret, das aus der Haut der Coloradokröte abgesondert und gewonnen als eines der stärksten natürlichen Halluzinogene gilt – und damit ist ein Teil der Musik schon beschrieben. Dazu noch die Beobachtung, dass Bardo Pond sich auch von britischen Psychedelic Shoegaze-Acts wie Spacemen 3 und Loop beeinflusst sahen… so klingt diese Musik wie ein garagiger Malstrom aus Gitarren, die immerhin aber nicht formlosen Dead C-Noise erzeugen, sondern einen Strom aus Harmonien über harte Felsbrocken schicken. Und dann kommt noch der spannende Faktor Isobel Sollenberger dazu: Die hat eine engelhafte Stimme und spielt manchmal mit einer schwer effektbeladenen Flöte gegen diesen Strom an. Und ja – DAS funktioniert hervorragend – das erzeugt eine Spannung und eine mitreissende Kraft, der man sich nicht widersetzen kann. Dass auch das Indie Rock ist, ist ja klar. Ein Track wie „Absence“, oder der mit knapp über vier Minuten fast normale „Back Porch“ sind in ihrer Kombination von Elementen und mit ihrer konsequenten Verweigerung aller Kommerzialität beeindruckend. Die CD-Version des Albums hat am Ende die 29:15 Minuten „Amen“ dabei – perfekter Drone Rock und daher der Titel. Solch pschedelischer Noise ist der Sinn dieses Buches. Hier tut sich eine ganze Welt auf.

Bailter Space
Wammo

(Matador, 1995)

Gimme Noise Rock

Achtung! Andrew Earles hat mit Bailter Space eine neuseeländische Band in sein Kompendium aufgenommen. Aber immerhin waren die vier Musiker seit 1993 New Yorker – wenn man sich da durchgesetzt hat ist man offenbar auch Amerikaner. Zumal Bailter Space stilistisch eine gewisse Nähe zu Bands wie Dinosaur Jr. und Sonic Youth haben – sprich, wer die mag, wird Bailter Space auch zu schätzen wissen. Dass Bailter Space aus den neuseeländischen Noiseniks Gordons hervorgegangen waren, konnte man immer noch bemerken – ihre Lautstärke bei Konzerten war legendär. Aber die Band um Alister Parker und John Halvorsen hatte inzwischen ein geschicktes Händchen für unwiderstehliche Hooks. Wammo ist „fast“ Pop! Wären da nicht die Drehungen, wäre da nicht die Lust am Lärmen und eine Kraft, die man im Indie-Pop nicht finden wird… und auch nicht im gerade kommerzialisierten Grunge. Man kann rechtens vermuten, dass Bailter Space sich damit selber im Wege standen – zumindest was größeren Erfolg anging. Egal – wer sie mit Wammo kennenlernte, bekam ihr zugänglichstes Album: Die beiden ersten Tracks – „Untied“ und „Splat“ – sind alles, was Indie Rock in den 90ern so großartig gemacht hat. Sind laut, hart, kompromisslos und zugleich süß und reichhaltig wie eine Sahnetorte. Und davon gibt es mehr: „Retro“ und „Glimmer“ sind ungeheuer cool. Ein bisschen verdreht und LAUT. Da sind ja nicht nur diese krachenden Gitarren, auch Brent McLachlan’s Drums donnern jede Segichtigkeit hinweg. Dieser Kontrast machte die Band aus, gab ihnen – in Kombination mit ihren wirklich „schönen“ Songs und Harmonien – über Jahre eine Eigenständigkeit, die anderen Bands einfach fehlte. Man muss alle sechs Alben von ’88 bis ’97 sowie das ’81er Debüt der Gordons hören. Danach mag man einen Tinitus haben, aber es war schön.

Caustic Resin
Fly Me to the Moon

(Up, 1995)

Gimme Psychedelic Rock

…oder nehmen wir mal eine Band, die indie-mäßig die Stooges mit Grateful Dead vereint. Caustic Resin entstammten der selben Szene wie Treepeople und deren erfolgreiche Nachfolger Built to Spill. Ihr Leader Brett Netson war Bassist bei beiden Bands des Ober-Gitarren-Bartes Doug Martsch gewesen. (Ganz witzig – sein Nachfolger bei Built to Spill hieß Brett Nelson!! Beachte das „t“ und das „l“…). Netson war nach Seattle umgezogen, hatte vielleicht gehofft sich an den Grunge Trend anhängen zu können und war mit dem Debüt gescheitert. Dass Er & seine Band sich dann zusammenriss und ein solches BRETT von einem Proto-Metal Album zusammenbauten, ist ehrenwert. Im Januar ’95 hatten Martsch und Netson noch eine Split-EP veröffentlicht, Fly Me to the Moon war dann aber doch ein anderes Ding. Das Album ist enorm ausladend, Doppel-Vinyl, wenn man das teure Stück findet. Dieses Format wäre zu empfehlen, weil 16 Songs naturgemäß lang werden und beim Umdrehen des Vinyl’s die nötige Unterbrechung erfolgt. Es ist in vieler Hinsicht altmodische Musik. 70er US-Hard Rock – da hatten Netson, Tom Romich Jr. (b) und James Dillion (dr, g) sicher neben den Stooges wohl auch Grandfunk Railroad oder Mountain gehört – UND natürlich neue Bands wie Soundgarden. Aber Fly Me to the Moon bietet beeindruckende, glühende Hitze – der Bass und die Gitarren summen und brummen und explodieren ein ums andere Mal in Sound-Protuberanzen. Die Melodien sind verträumt, ein bisschen duster, bis die untergehende Sonne sie grellrot aufblitzen lässt. Songtitel wie „Kill You If You Want Me To“, aber auch „I Feel“ oder „Summertime of Your Life“ stellen die psychedelische janus-köpfigkeit der Band gut dar. Man kann (und soll) sich vermutlich in den Songs verlaufen. Es ist schwer in dieser schlierigen Masse den Höhepunkt zu finden. Aber hört euch die knapp acht Minuten von „Damaged Animal“ an. Psychedelic as fuck!!

Fugazi
Red Medicine

(Dischord, 1995)

Gimme Post-Hardcore

Fugazi – das ist wieder einer dieser Mitte der 90er absolut etablierten Acts des „Indie Rock“. Die Washingtoner um den Dischord-Label Macher Ian MacKaye sind einer der Kern-Acts des US-Hardcore, ihre Vorläufer Minor Threat haben die Ästhetik und die politischen Fundamente des Hardcore in ihrer Zeit zwischen ’80 und ’83 DEFINIERT. Und dass Ian MacKaye danach mit Fugazi weiter ging, die Ideen und Ideale nicht im Status Quo bleiben ließ, sondern mit dieser Band nun seit ’86 auf zwei EP’s und drei LP’s Grenzen einriss, war allein schon Grund genug, Fugazi zu verehren. Und so mag man verzeihen, dass Red Medicine durchaus ein bisschen zerrissen ‚rüberkommt. Die Roots, die diese Musiker im Hardcore hatten, waren natürlich unüberhörbar, aber der Indie-Hype hatte ihnen die Möglichkeit gegeben, Stilgrenzen zu ignorieren. Dabei barsten sie immer noch vor Kraft. „By You“ – der Opener der zweiten LP-Seite – dauert fast ungebührliche fünf Minuten. Sowas wäre bei Minor Threat undenkbar gewesen, aber so gibt es zwingend auch zurückgenommene Passagen. Aber dann wird wieder mit einem Furor rück-gekoppelt, der Sonic Youth Freude gemacht haben dürfte. Red Medicine ist experimentell – und das kam NICHT überraschend. Man bekam Experimente in Dub zu hören, („Version“) klugen Post-Hardcore wie das großartige „Bed for Scraping“ oder den New Wave/Dub Closer „Long Distand Runner“…. und sogar harten Pop beim feinen „Target“. Und heraus kam ein Album, das über 40 Minuten dauerte. Diesen Weg würden sie weiter beschreiten und im nächsten Jahrtausend mit dem fantastischen Klassiker The Argument bis zu Ende gehen. Siehe Hauptartikel 2001

HUM
You’d Prefer An Astronaut

(RCA, 1995)

Gimme Shoegaze-Rock

…auch hier zitiere ich aus Gimme Indie Rock: Laut A. Earles sind Hum eine der Bands, die im Zuge des Nirvana/Indie Rock Hypes in den Genuss eines Major Vertrages kam. Die diesen Genuss nach der Implosion des Hypes allerdings auch schnell bereut haben dürften. Der recht große MTV-Erfolg ihrer auf You’d Prefer an Astronaut enthaltenen Single „Star“ bedeutete, dass Hum – gemeinsam mit Bands wie den Breeders, Pavement, den Flaming Lips oder Helmet – den Charts für einen kurzen Moment Niveau und geschmackvollen Noise bescherten. In den Jahren bis ’95 war das Quartett aus Champaign/IL durch ein paar Line-Up-Changes gegangen, nun kam eine kurze Zeit und zwei Alben bei RCA, während derer die die Band stabil blieb. Hum spielten einen Indie Rock, der sich irgendwo zwischen slow– und mid-tempo bewegte. Mit Shoegaze-Gitarren-Wänden, die eine fast ungehörige, metallische Härte hatten. Der Sound von You’d Prefer an Astronaut ist in gewisser Weise zeitlos geblieben, Hum hatten angeblich großen Einfluss auf die gerade aufkeimende Emo-Szene, ihre Single kam in den USA auf Platz 28 in den Mainstream Charts (!), das Album verkaufte sich, aber der keinen Deut schwächere Nachfolger Downward is Heavenward (…sahen die da was voraus…?) versank mit dem Indie-Hype. Hum reformierten sich immer wieder mal – und tatsächlich..! 2020 gab es mit Inlet ein neues Album. 25 Jahre nach …Astronauts, wieder kein bisschen schlechter – nur ein bisschen langsamer – und immer noch recht zeitlos klingend. Wer hören will, WIE facettenreich der Begriff Indie Rock ist, wird (auch) hier fündig werden. Und wer weiss, vielleicht wird dieses Album und sein Nachfolger noch mal veröffentlicht.

The Lilys
Eccsame the Photon Band

(spinArt, 1995)

Gimme Shoegaze

Keine einfache Sache, das hier: Andrew Earles lobt das dritte Album der Washingtoner Band sehr. Aber er sagt auch ganz klar, dass diese Band – bzw. der Sänger/Songwriter und Gitarristen Kurt Heasley mit austauschbarem Peronal – seit ’92 und auch nach ’95 schlicht all over the place ist. Das ’92er Debüt In the Presence of Nothing war eine extrem gekonnte Pastiche der besten My Bloody Valentine-Momente. Dann hatte er sich Pavement-artigem Indie Rock vorgenommen – nun kam eine Verbindung von Meddle-Ära Pink Floyd, gepaart mit 10CC Pop und weiteren insbesondere atmosphärisch ausgefeilten Vorbildern. Wobei ich sagen muss – wenn Heasley und seine Lilys irgendwas „imitiert“ haben sollten, dann aber so gut, dass die Vorbilder zurückbleiben. Eccsame the Photon Band ist selber ein Vorbild für etliche Bands, die dann später als „Dream Pop“ getaggt werden würden. Es ist in die 90er gehobene psychedelische Atmosphäre, die hier entsteht, es sind Songs, um die ihn die Hälfte aller Indie-Bands beneiden müssten. Es sind noch Spuren des Shoegaze Sound da – aber die sind weit weit weg von MBV. Die Lilys haben ihre eigene minimalistische Version von Shoegaze er- und ge-funden. Hinter der Distortion lauern die Songs nicht, sie fallen über dich her. „The Turtle Which Died Before Knowing“ etwa HAT Rückkopplungen. Aber da ist ein massives Schlagzeug und eine Melodieführung die überdeutlich vor den Sounds steht und Vocals, die jemand singt, der wach ist. Es ist ja allein schon ein Ding, das solche Musik aus den USA kommt. Aber es ist ein Jammer, dass dieses Album nicht wirklich wahrgenommen wurde und die Lilys in Europa Unbekannte geblieben sind. Ein bisschen hilflos und sehr traurig nenne ich Eccsame the Photon Band ein Shoegaze/Dreampop Meisterwerk, das gehört gehört.

Low
Long Division

(Vernon Yard, 1995)

Gimme SlowCore

Wer es nicht weiss – Low hatten im Jahr zuvor mit I Could Live in Hope den SlowCore (fast) allein definiert. Sie hatten einen Minimalismus geprägt, den andere versucht haben mögen zu imitieren, aber das ist nie gelungen. Und wo auf dem im Hauptartikel ’94 beschriebenen Klassiker noch hier und da ein Licht der Hoffnung schimmerte, da herrschte auf dem schnell nachgeschobenen Nachfolger Long Division nun kühle Dunkelheit. Earles beschreibt die Stimmung mit den Worten „…dieses Album führt eine subtile, unter der Oberfläche lauernde Bedrohlichkeit in Low’s Ästhetik ein und macht Long Division zu einem der größten Downer abseits von Doom Metal. Definitiv nicht zu empfehlen für schlechte Tage und Post-Breakup Hör-Sessions.“ Wohl gesprochen – wobei man die unzweifelhafte Ästhetik der im Grunde so einfachen Tracks betonen muss. Long Division ist eben auch ein wirklich „schönes“ Album – in seiner Ruhe, in den wunderbaren Gesangs-Harmonien von Alan Sparhawk und Mimi Parker, die mit einer Stehtrommel, einem Becken und einem Besen alles macht, was für diese Musik nötig ist. Wieder einmal muss ich darauf verweisen, dass hier das Songwriting das nicht ganz so geheimen Geheimnis ist. Da ist der Opener „Violence“, der mit dermaßen langgezogenen Chords und Gesangsspuren (Sparhawk und Parker sind ausgebildete Vokalisten, die haben einen langen Atem…) in eine desolate Welt einführt. Da ist „Throw Out the Line“, das vergeblich Hoffnung weckt, da ist „Swinging“ mit den wunderbar traurigen Zeilen „…She’s a sinker/ I should have taught her how to swim…„. Und als vorletzter Track das majstätische „Stay“, bei dem jedes Wort, jeder Ton für sich steht. Ein Lob an den Produzenten (Kramer), der diese Band in all ihrer Schönheit einfing. Und der Hinweis, dass Low sich in genau diesem langsamen Tempo kontinuierlich weiterentwickelte und zu einer festen Größe im „Indie Rock“/Sub Genre SlowCore wurde.

Palace Music
Viva Last Blues

(Domino, 1995)

Gimme Alternative Country-Folk

Nach SlowCore passt der Hinweis, dass A. Earles auch Künstler dem Indie-Rock zuordnet, die man auch Singer/Songwriter nennen kann. Enter Will Oldham aka Palace Brothers aka Palace Music (…demnächst Bonnie „Prince“ Billie…). Bei seinem dritten Album arbeitete Oldham als Palace Music mit dem Hardcore-erprobten Ex-Big Black Mann Steve Albini zusammen. Der hatte kurz zuvor mit Nirvana’s In Utero ein seinerzeit sehr polarisierendes Album aufgenommen und Kurt Cobain genötigt so hart und rau wie irgend möglich zu klingen. Bei Viva Last Blues machte Albini es anders: Er ließ die Songs dieses Meisters seiner Kunst im eigenen Licht strahlen. Nicht zu sehr, nicht hochglanz-poliert, aber so, dass Oldhams Songwriting regelrecht erblühen konnte. Bei dessen vorherigen – sehr guten – Alben war mancher Song hinter den klapprigen Arrangements und Oldhams wankelmütiger Stimme verborgen geblieben. Hier war das Anders, hier sang er im Opener „More Brother Rides“ mit sicherer Stimme – als wolle er über dieses eigene, neu entdeckte und ungewohnte Instrument obsiegen. Dazu kam die konzentrierte Instrumentierung und Albini’s trockener Sound – alles war neu hier. Nun standen die Texte der Schönheit der Arrangements nackt gegenüber und es wurde noch deutlicher, dass Oldham Musik machte, die weder konservativer „Americana“ war, noch Folk, noch Indie Rock. Der Mann war sehr glaubhaft in einer eigenen Welt unterwegs (das würde auch so bleiben…) und ihm gelang es, Hardcore und Punk-erprobte Hörer auf ganz andere Töne aufmerksam zu machen. Da gab es seltsame sexuellen Anspielungen bei „The Mountain Low“, da legte die Band bei „Work Hard/Play Hard“ unvermittelt los wie Crazy Horse. Hätte Viva Last Blues noch ein durchgehndes Konzept, so hätte es so etwas werden können wie das Hipster-Album In the Aeroplane Over the Sea. Jedenfalls ist auf diesem Album mit „New Partner“einer von Will Oldahms schönsten Songs über verlorene Liebe.

KARP
Suplex

(K Rec., 1995)

Gimme Sludge

Nun mal zu etwas ganz Anderem: KARP (steht für Kill All Redneck Pricks) waren eine Band aus Tumwater, Washington. Ein Trio, das an der High School zusammengekommen war um seine Begeisterung für Black Sabbath, Hardcore, Flipper und die Melvins in Töne zu fassen. Damit waren sie nicht ganz allein, aber immerhin doch so weit ausserhalb aller kommerziellen Bereiche, dass drei ihre Alben auf dem Washingtoner K Records Label nur in den USA veröffentlicht wurden. Sprich – in Europa ist auch ihr zweites Album Suplex kaum zu finden. Schade eigentlich. Weil – diese Art Musik ist ihrer Zeit voraus gewesen – und wurde auch noch recht eigenwillig ausgeführt. Man bedenke – Flipper waren (und blieben) tiefer Underground, die Melvins waren zwar ein zuletzt mal kurz in die Major-League gerutscht, aber die Konsequenz von KARP hatten die schon konzeptuell nicht. Und auch die gestrengen Kollegen von Neurosis waren kommerziell keinesfalls auf den Spuren von Nirvana. Die Songs auf Suplex basieren auf tieeefem Bass zu verzerrten Gitarren, harten Drums und seltsam infantilem Geschrei. Manche der Songs hören sich an wie Nursery Rhymes für einen Splatter Movie mit Zombie-Kindern. Da ist ein Überfall wie „Lorch-Miller“ (der Name des Band-Fotografen), der unheimlich, lächerlich, zum fürchten und fürchterlich kraftvoll ist. Da ist „Shotzie“, der auch wieder etwas „Albernes“ in all seiner wilden Wucht mit-transportiert. Diese drei Musiker hatten offenbar Humor, waren nicht dystopisch, sondern ironisch unterwegs. Dazu haben ihre Songs auf diesem zweiten Album für den noch neuen Stil „Sludge-Metal“ ein fast unanständiges Tempo. Suplex ist eigenartig, es mag auch damit zu tun haben, dass KARP live oft mit gänzlich anders-gearteten Bands wie Bikini Kill oder Unwound auftraten. Letztlich gab es damals einfach wenige Bands, die etwas vergleichbares machten. Man mag sich an dem dumpfen Sound stören – aber der war gewollt. Und wenn man laut genug aufdreht, hört man alles. Dass der Bassist Jared Warren 10 Jahre später bei den Melvins mitmachte, passt ganz gut.

U.S. Maple
Long Hair in Three Stages

(Skin Graft, 1995)

Gimme Deconstructed Rock

Und nun mal was ganz komplexes: Ich würde es so einführen – bei U.S. Maple versuchten vier Chicago’er Hardcore Noise-Punks mal einfach Rockmusik auseinanderzunehmen und ganz falsch neu zusammenzuschrauben. Die Vergleiche mit Captain Beefheart kamen reflexhaft – werden auch von A. Earles in seinem Artikel über Long Hair in Three Stages gezogen. Ich will beisteuern, dass sich bei der ’95 formierten Band vier Musiker aus dem Noise-Rock Umfeld trafen. Die kamen von den Mercury Players und Shorty (deren Album sollte man sich anhören…) und hatten sich genau DAS vorgenommen: Alles, was “Rock” ist auf links drehen. Sie sagten das selber so: “We’re just a Rock’n’Roll band that builds things in a different way”. Und ja – das Ergebnis ist zunächst wirklich seltam – mag auch anstrengend sein. Aber beim Weiterhören stellt man fest, dass man beginnt, sich in diesen atonalen Rock-Songs zurechtzufinden. Die Harmonien sind nicht so, wie man sie kennt. Al Johnson’s heisere Stimme singt nicht, sondern stößt Textzeilen hervor. Und die Band rumpelt virtuos durch seltsam verschobene Rhythmen, die Gitarre von Mark Shippy und Todd Rittmann sind am ehesten Free Jazz – dass die beiden im Umfeld der freien Improvisation weitermachen würden, ist logisch. Aber bei U.S. Maple war die Affinität zum Hardcore-Punk, die viele Indie-Musiker gemeinsam haben, noch deutlich zu erkennen. Und ein Song wie “The State is Bad” ist bei allem Chaos dennoch nachvollziehbar. Und U.S. Maple hatten auch irgendein Körperteil im Blues. Da passte es, dass ein Song “Letter to ZZ Top” heisst. Die vier nachfolgenden Alben sind allesamt toll… wenn man einmal in diese Disharmonien hineingefunden hat.

Blonde Redhead
s/t

(Smells Like Rec., 1995)

Gimme Experimental Noise Rock

Und so schlage ich den thematischen Bogen zurück zu Sonic Youth: Die ’93 in New York entstandene Band Blonde Radhead wurde auf ihren ersten beiden Alben von Steve Shelley produziert und auf dessen Label Smells Like Records veröffentlicht. Und ja – natürlich waren die vier – Kazu Makino (g, voc), Toko Yasuda (b), Amedeo (g, voc) und Simone Pace (dr) – stilistisch nah an Sonic Youth. So WAR Noise Rock Mitte der 90er, zumal Noise Rock aus New York… von einer Band, die sich nach einem Song der New Yorker No Wave Experimentalisten DNA benannt hatte. Die Kunst ist dann doch, diese Suppe mit eigenem Geschmack zu versehen. Und DAS machten Blonde Redhead schon auf ihrem gleichnamigen Debüt. Die Balance der männlichen und weiblichen Stimme – oft in Einem Song – war delikat. Man beobachte das etwa bei „Astro Boy“, einem Song, der auch die Zugänglichkeit hat, die Sonic Youth oft bewusst vermieden. Dass Blonde Redhead das dann wieder unter Noise und Rückkopplungen vergruben – na ja, die haben eben den Lärm geliebt. Man mag sich einfach vor Augen halten, dass die vier Musiker schlicht 10 Jahre jünger waren, musikalisch anders sozialisiert waren, Noise für sie keine Revolution oder Wissenschaft war, sondern Leidenschaft – und das Tool, um ihre Teenage Angst in Musik zu fassen. Manche sagen, Blonde Redhead sei noch ziellos, zeige eine Band bei der Suche. Mag sein. Aber das Ergebnis war beachtlich und glaubwürdig und ganz einfach toll…

Blonde Redhead
La Mia Vita Violenta!“

(Smells Like Rec., 1995)

Gimme Experimental Noise Rock

…und A. Earles hat vielleicht deswegen erst das im September ’95 nachgeschobene zweite Album „La Mia Vita Violenta!“ in seinem Buch genannt. Es wäre besser, ausgereifter… „Gereift“ mag stimmen. Aber es ist in meinen Ohren nicht „besser“. Hier betonten die nun selber produzierenden Musiker ihre Alleinstellungsmerkmale nur mehr – das Interplay zwischen Kazu Makino’s und Amedeo Pace’s Stimmen war jetzt austariert und wurde betont. Die Gitarren-Rückkopplungen wurden etwas ‚runtergefahren, dafür wurde jeder Song offenbar bewusst in ein barockes Chaos gestürzt. Das fängt schon beim tollen Opener „(I Am Taking Out My Eurotrash) I Still Get Rocks Off“ an, der eigentlich mindestens zwei verschiedene Songs sein könnte. Das folgende „Violent Life“ könnte nie von Sonic Youth sein – hat aber ein paar von deren repetitiven Gitarrenspuren. Bei „U.F.O.“ stoßen Kraut-Rhythmen auf NY-Noise – und das ist eine wunderbare Paarung. Dazu der kluge Einsatz von Gitarren, die nicht der Dekonstruktion dienen, sondern Rückkopplungen und Akkorde bewusst einsetzen. Das war eine Form von Virtuosuität, die SY nie anstrebten. Nur wer sich oberflächlich mit dieser Musik befasste, konnte noch den unfreundlichen Begriff SY-Clones benutzen. Blonde Redhead waren jetzt weit weg von Sonic Youth. Und mir scheint, sie wollten das auch unbedingt. Veränderung wurde zum Prinzip: Die späteren Inkarnationen von Blonde Redhead klingen sehr anders, als auf den ersten Alben. Aber ihr hohes Niveau haben sie lange gehalten. Das 2004er Album Misery is a Butterfly ist was ganz anderes. Schöner, progressiver Kammer-Pop. So wurde Veränderung zum Prinzip.

Weitere Gimme Indie Rock Einträge…

…sind in A. Earle’s Buch für das Jahr 1995 die Folgenden:

Archers of Loaf – Vee Vee

Band of Susand – Here Comes Success

Bowery Electric – s/t

Cap’n Jazz – Burritos….

Cat Power – What Would the Community Think

Cheater Slicks – Don’t Be Like You

Don Caballero – 2

Gaunt – Yeah, Me Too

The Geraldine Fibbers – Lost Somewhere…

Helium – The Dirt of Luck

Jessamine – s/t

Laughing Hyenas – Hard Times

Lorelei – Everyone Must Touch the Stove

Love 666 – American Revolution

Mercury Rev – See You on the Other Side

Mudhoney – My Brother the Cow

Oblivinas – Soul Food

Polvo – Celebrate the New Dark Age

Sea and Cake – Nassau

Sleater-Kinney – s/t

Smog – Wild Love

Steel Pole Bath Tub – Scars from Faling Down

Team Dresch – Personal Best

Thomas Jefferson Slave Apartments – Bait and Switch

Truly – Fast Stories… from Kid Coma

Uncle Wiggly – Non-Stuff

Unwound – The Future of What

Versus – Dead Leaves

Vertical Slit/V-3 – Photograph Burns

Aber viele (nicht alle…) dieser Alben setze und beschreibe ich in andere(n) Zusammenhänge(n). Streng subjektiv erlaube ich mir, bloß die 17 hier beschriebenen Alben in ihrer ausgedachten Reihenfolge im Zusammenhang mit dem titelgebenden Buch zu stellen. Ich denke mir – wer Pavement hört, sollte auch mal Palace Music, Low und U.S. Maple hören, Von Green Day und den Lilys ganz zu schweigen. Um zu erkennen, dass das Buch Gimme Indie Rock eine tolle Sache ist und um zu erkennen, dass Indie Rock ein breites breites Feld ist. Sehr breit. Ganz ungeheuer breit. Und es wird immer breiter…