1973 – Neu! bis Conrad Schnitzler – Als Krautrock noch „dufte“ war

Seit Ende der 60er Bands wie Can, Amon Düül oder Tangerine Dream auf der Musikszene erschienen sind, sind ein paar Jahre vergangen. Inzwischen hat auch das Ausland (zumindest das UK) – insbesondere Dank DJ John Peel – Kenntnis davon erhalten, dass die „Krauts“ (Die Weltkriegs-Bezeichnung für die „Deutschen“) inzwischen sehr eigenständige Musik machen.

Musik, die sich durch ihre Rhythmik und durch einen avantgardistischen Ansatz zwischen moderner Klassik, Experimentalmusik und Rock einen eigenen Soundkosmos geschaffen hat. Es gibt natürlich inzwischen haufenweise mittelmäßige Alben – etwa solche, bei denen progressiver Rock mit englischen Texten mit furchtbarem Akzent gesungen vorkommt (Eloy…) – aber es gibt auch ziemlich „dufte“ Musik – die bald Staub ansetzte, zwischendurch aber von Punks und von Bowie in Berlin gekannt und sogar zitiert wurde und spätestens in den 00er Jahren wieder für innovativ befunden wurde. Veränderungen in der Rezeption von Musik entsprechen schließlich Moden… Manche der hier unten beschriebenen Alben gelten als „zeitlos! – zumindest zur Zeit… und bei ein paar Alben darf man anderer Meinung sein. Dass hier mit den ’73er Alben von Tangerine Dream, Conrad Schnitzler und Klaus Schulze Alben eingepasst sind, die der Erbsenzähler NICHT unter’s Kraut mischen würde… geschenkt. Die passen dazu, denn wer Ash Ra Tempel hört, dem mag auch Tangerine Dream gefallen. Und ich habe zwei Bands in dieses Kapitel gestellt, die sich zwar aus britischen Musikern zusammensetzten, die aber in Deutschland in der damals doch recht regen Festival/Live-Szene unterwegs waren und die auch irgendwo in Deutschland residierten. Bedenke: Es war die Zeit der Kommunen, der gemieteten Bauernhöfe, auf denen eine neue Art des Zusammenlebens ausprobiert wurde. 1973 war dieses Hippie-Lebens-Modell fast ein bisschen etabliert… und ging jetzt langsam am eigenen unerfüllbaren Anspruch zu Bruch, wie in ein paar Monaten auch der Progressive Rock. Aber NOCH kam in den nach Patchouli und Gras riechenden Proberäumen manches Interessante zustande. ’73 ist der Anfang vom Ende der „golden days of Krautrock“. Und wie das mit solchen Enden oft ist – es erscheinen noch einige Meisterwerke (Can’s Future Days, Faust’s Faust IV, Tangerine Dream’s Atem (…die ordnet man der Berlin School zu, nicht dem Kautrock… ach egal), einige Acts hatten an Glanz verloren, waren aber immer noch auf hohem Niveau dabei (Amon Düül 2, Neu!), ein paar Musiker und Bands erfanden sich gerade (Kraftwerk!!). Und einige blieben obskur. Nun – auch für die gibt es dieses Kapitel. Acts wie Agitation Free oder Message sollte man sich mindestens mal anhören und ihren Hintergrund kennen. Also lies und lift off zu…

Can – Future Days
(United Artists, 1973)

Future Days ist DAS Meistewerk des Krautrock… und geht also stilistisch und in seiner Bedeutung weit über reines „Kraut“ aus Deutschland hinaus. Ist es vermessen, dieses Album neben Velvet Underground ft. Nico zu stellen? Vermutlich nicht. Denn auch hiervon haben sich Generationen von Musikern beeinflussen lassen. Beschrieben wird es daher im Hauptartikel ’73.

Neu!
Neu! 2

(Brain, 1973)

Als das Duo Neu! das zweite Album aufnahm (nach einem formidablen Debüt!) gab es schon erste Differenzen zwischen Michael Rother und Klaus Dinger. Die würden sich bald zu einer lebenslangen Haß-Liebe auswachsen. Vereinfacht: Drummer (und Gitarrist) Dinger war für mehr Experiment, Gitarrist Rother wollte mehr Melodie. Aber auf Neu! 2 blieben die beiden Ansätze noch in der Waage – was daran liegen mag, dass letztlich nur zwei neue Stücke aufgenommen wurden. Den Beiden ging nämlich das Geld aus und die Plattenfirma wollte nichts mehr nachschießen. So kamen sie zu dem (legendären) Entschluss, zwei Single-Aufnahmen aus dem Vorjahr einfach zu verfremden, d.h. langsamer (auf 32 bzw. 16 U/min) bzw. schneller (auf 78….hach ja, der Plattenspieler) abzuspielen und dann mit ein paar Tricks zu verändern. Ob das ein Fuck Off in Richtung Plattenfirma war, eine Verarschung der Hörer – oder ob es eine tolle Idee war – ist so leicht zu beantworten, wie die Frage, ob Lou Reed’s Metal Machine Music  ernst gemeint ist. Auf jeden Fall macht es die zweite Seite (auf der LP) mit den Varianten zu den Titeln Neuschnee“ und „Super“ mindestens zu einem diskussionswürdigen Stück Popkultur. Immerhin – David Bowie fand das ziemlich toll. Und letztlich stören die technischen Hintergründe weder den Flow der Musik, noch macht es die beiden Singles zu schlechten Songs – wenn man sie so bezeichnen soll, denn die Musik auf diesem Album ist eben Krautrock – d.h. es gibt endlose, hypnotische Wiederholungen, schamanischen Gesang, stoische Rhythmik… all das ist inbegriffen – und zwar auf höchstem Niveau. Neu! haben sich ihren Ruf als Innovatoren und als Speerspitze der Musikrichtung „Krautrock“ redlich verdient – nicht nur mit ihrem Debüt sondern auch mit Neu! 2. (Und auch mit Neu! ’75, sollte es jemand wissen wollen…)

Amon Düül 2
Vive La Trance

(United Artists, 1973)

Und noch eine… Kommune..? Band..? Wasauchimmer… die sich inzwischen verändert hatte. Amon Düül II hatten 1970 mit ihrem legendären Album Phallus Dei einen Anfangspunkt des Krautrock gesetzt. Inzwischen waren sie bei Album No. 5 angekommen und hatten einige Entwicklungsschritte hinter sich gebracht. Das heisst: Vive La Trance klingt nicht wie die Alben zuvor. Sie waren weder die Heavy-Psych-Free-Form Prometheaner der ersten drei Alben, noch gab es ein weiteres Beispiel für den Freak-Prog der auf dem Vorjahres-Album Wolf City zelebriert wurde. Das mag der Grund sein, warum Vive La Trance weniger positiv aufgenommen wurde. Die Freaks wurden nicht so befriedigt, wie sie es gewöhnt waren. Aber wer hinhört, dem mag auffallen, dass hier einiges vorgedacht wurde, was in fünf Jahren bei Acts wie Wire, Pére Ubu, Television, Magazine, Sparks, und den Talking Heads auftauchte. Man mag vermuten, dass Amon Düül auch Roxy Music gehört hatten, vielleicht auch Captain Beefheart. Aber genug der Verweise. Das Prinzip der Kommune, deren Mitglieder nach Belieben ihren Beitrag leisten, war jedenfalls noch lebendig. Chris Karrer hielt sich ein wenig zurück, Gitarrist John Weinzierl zeigte seine Kunst und Sängerin Renate Krötenschwanz Knaup betrieb bei „Jalousie“ mit völlig unverstellter Stimme Ausdrucks-Gesang. Aber die Band nahm ihre ausgedehnten Improvisationen zurück. Ein Prinzip, dem einige Krautrock-Bands in diesen Tagen folgten. Jam-Passagen wurden zurückgefahren – was sollte es denn auch, damit immer weiter zu machen. Dafür wurde nun geplant, komponiert, eine gewisse Professionalität trat an die Stelle der „Darauf-hatten-wir-eben-gerade-Bock“ Mentalität. Wobei ein ausladender Track wie „Mozambique“ durchaus in Trance versinkt (und von Bands wie Godspeed You! Black Emperor in den 00ern gehört worden sein dürfte…). Bei „Apocalyptic Bore“ ist der Akzent im englischen Text peinlich, dafür sind Tracks wie „Trap“ und „Ladies Mimikry“ ihrer Zeit voraus. Ja – Yeti von 1970 ist besser. Aber irgendwann verblüht jedes Kraut….

Faust
Faust Tapes

(Virgin, 1973)

…siehe Faust: Inzwischen war Krautrock – ich habe darauf hingewiesen – auch auf der Insel ein Thema. Tangerine Dream, Amon Düül II und Can galten bei Hippies im UK schon einiges. Und man hatte auch schon von Faust gehört – also beschloss das gerade geborene Label Virgin einen Marketing Coup, indem es das dritte Album der aus Wümme nach England gezogenen Band zum Preis einer Single (49 Pence) in die Läden brachte. Gewagt gewagt – aber sowas machte man in den frühen 70ern. Denn Faust Tapes ist (Kraut)-Avantgarde, kann sich in Konsequenz und Experimentierlust mit Can’s Tago Mago messen (Siehe Hauptartikel 1971). Tatsächlich verkauften sich so 50.000 Einheiten. Aber viele Käufer dürften sich ratlos am Kopf gekratzt haben. Man vergleicht dieses Album – und auch diese Band – manchmal mit Zappa’s Mothers of Invention. Stimmt schon. Aber die Ideen und und die Rhythmik aka Motorik waren „Kraut“. Faust hatten im alten Schulgebäude in Wümme begonnen, Ideen aus den Sessions zu den beiden ersten Alben zu sammeln und zusammenzukleben. Soundschnipsel aus Gesprächen, Filmausschnitte, Telefonansagen, Geschrei, Schritte, etliche unfertige Tracks, die später (auf CD) „Untitled“ genannt wurden. Dazwischen gab es aber auch ein paar sauber ausformulierte Stücke Musik, die man sogar „Songs“ nennen mag. „Flashback Caruso“ oder „Der Baum“ oder auch den „Dr. Schwitters Snippet“, dem man eine Vollendung wünschen würde. „Untitled“ (Track No.20), der sich nach Brian Eno anhört. Nun – diese Zusammenstellung von „unreleased Ideas“ war als Möglichkeit konzipiert, Faust kennenzulernen. Der Rote Faden mochte fehlen, aber man kann dieses Album gerade deswegen goutieren… als Experiment eben, als Faust Tapes… Und die erratische Veröffentlichungspolitik blieb ein Kennzeichen von Faust.

Faust
Faust IV

(Virgin, 1974)

…denn gewiss auch in der Hoffnung auf weitere Verkäufe kam noch im September 1973 mit Faust IV ein weit konsistenteres Album heraus – das aber nicht den ersehnten Erfolg brachte. Dabei ist Faust IV wohl DAS Album, um diese Band und ihren eigenständigen, sehr experimentellen und zugleich sehr delektablen Umgang mit Rockmusik kennenzulernen. Dass der erste Track „Krautrock“ heisst – und damit ein ironischer Seitenhieb auf Hörer und Kollegen war – kann man sehr zu Recht vermuten. Ja – diese Band hatte viele Eigenschaften, die Rockmusik aus der Bundesrepublik in den letzten paar Jahren vom Anglo-amerikanischen „Rock“ emanzipiert hat. Sound-Experimente kannte man, motorische Rhythmen kannte man, langgezogene Jams kannte man. Aber Faust waren – tatsächlich! – immer noch en bisschen anders als Can, Neu!, Amon Düül II, Cluster, Popol Vuh… geh die Liste durch. Sie waren allein. In ihrer Art, Ideen zu formulieren. Ihr Produzent Uwe Nettelbeck war von Velvet Underground, John Cage, Zappa und den britischen Freigeistern um Henry Cow beeinflusst. Und er züchtete daraus mit dieser fähigen Band eigenes Kraut. Elektronisch verfremdet, mit Jam-Passagen, mit Störgeräuschen, mit schrägem Humor, in diesem Fall mit ein paar recht freundlichen Songs. Da beeindruckt „Jennifer“ mit regelrechter Pop-Melodik. Dann spielen Faust bei „Läuft… Heisst das es läuft oder es kommt bald… Läuft“ wieder mit Kommentaren aus dem Studio, um dann in einen freundlichen Folk-Song abzubiegen, der sich mit kosmischen Sounds ins Unheimliche verlängert. Man kann darauf wetten, dass später Acts wie This Heat oder Portishead Faust kennen, Faust IV ist IMO eines der fünf besten Kraut-Alben – gerade WEIL es die Grenzen des Genre’s überschreitet.

Agitation Free
2 nd

(Vertigo, 1973)

Unbekannter und womöglich weniger experimentell war die Berliner Band Agitation Free auf ihrem Album 2nd. Aber was hieß das schon in dieser Zeit. Das vorherige Album Malesch war von ihrer vom Goethe Instititut organisierten Reise nach Ägypten, Zypern und Griechenland beeinflusst gewesen – und passte damit in die meisten Hippie-Kommunen. Dann hatten sie im Programm der Olympischen Spiele in München mitgetan, jetzt kam ein Album, das dem Trend hin zum konzentrierteren Jam folgte. Will man Vergleiche bemühen – und das kann man gerne tun – dann klangen Agitation Free nun wie eine deutsche Version von Grateful Dead. Vor allem die ausgedehnten Gitarren-Impro’s von Lutz Ulbrich und Stefan Diez dürften hunderte von Freaks mit seligem Lächeln haben wegdriften lassen. Aber Obacht! Songs wie „First Communication“ und „Laila, Part I“ bzw. „Laila, Part II“ sind mitnichten bloß abgehobenes Gedudel. Da war Struktur drin, da gibt es ein festes Fundament aus Bass und Drums, das fast an… nun ja – Grateful Dead denken lässt… Nur hatten Agitation Free keinen Country und keinen Blues im Erbgut. Das hier ist Krautrock, Spacerock, Psychedelik in deutsch. Gänzlich ohne Gesang, dafür mit ein paar feinen Melodien, um darauf und darüber zu improvisieren und mit einigen netten, experimentellen Synthesizer Einsprengseln, die heute noch fast modern klingen. Man bedenke – Agitation Free waren Berliner, sie kannten die Musiker von Tangerine Dream… tatsächlich war ihr vorheriger Drummer Christopher Franken seit ’71 bei Tangerine Dream prägendes Mitglied. Dass die zweite Seite der LP etwas ruhiger, meditativer und synth-lastiger war, hat manchem Hörer wohl missfallen. Danach kam noch ein Live-Nachschlag und dann war Schluss mit Agitation Free. Ihr 2nd ist „underrated

Walter Wegmüller
Tarot

(Die Kosmischen Kuriere, 1973)

Natürlich gibt es auch kultigen Krautrock. Tarot vom bildenden Künstler und Biennale Tokyo ’61-Teilnehmer ist sowas. Wegmüller war musikalisch eher talentfrei, aber er hatte ein Konzept und Kontakte- Er hatte das sog. Zigeuner-Tarot erschaffen, das ihm in der Kunstwelt einige Reputation verschaffte… und ’72 holte er in Berlin die Creme de la Creme der deutschen Krautrock-Szene zusammen, um ein Album für sein aktuelles Thema aufzunehmen. Das Label Kosmische Kuriere (Nachfolge-Label von Ohr – siehe Tangerine Dream) half, und ein Cast kam zusammen, dass den Krautrock-Kenner erfreuen dürfte: Klaus Schulze, Manuel Göttsching, Hartmut Enke und Harald Grosskopf, (allesamt ’73 bei Ash Ra Tempel), Jerry Berkers und Jürgen Dollase von Wallenstein… Das war versammelte Kraut-Kompetenz. Die hatten sich teils schon beim etwas verunglückten Ash Ra Templel + Timothy Leary-Album Seven Up getroffen. Nun setzten diese Musiker sich zusammen und jammten mit Tarot-Karten. Wegmüller sprach zwischendurch mit schweizer Akzent, beschrieb in esoterisch verbrämten Worten den Sinn der jeweiligen Tarot-Karten. Logischwerweise kam es bei 22 Karten zu einem Doppelalbum – aber einige Tracks blieben angenehm unter der Vier-Minuten-Marke und wenn es – wie bei „Die Entscheidung“ und „Der Wagen“ mal zu einem längeren Jam kam, dann war der diszipliniert genug, um nicht auszulaufen. Tarot balanciert auf dem schmalen Grat zwischen „lächerlich“ und „genial“. Die Musiker spielten mit offensichtlichem Spaß, mit Inspiration und Können um einen ganzen Haufen von Songideen herum. Aber die Deklamationen von Wegmüller sind sehr in der Hippie-Zeit und ihrer Ausdrucks-Tanz-Ästhetik gefangen. Tarot bietet tolle Musik, Thema und Spoken Word-Texte muss man im Kontext ihrer Zeit sehen. So haben wir ein Album, das polarisiert. DAS macht Krautrock oft…

Ash Ra Tempel
Join Inn

(Ohr, 1973)

Wie gesagt – Gitarrist und Ash Ra Tempel Kopf Manuel Göttsching war mit seinen Bandmitgliedern für die musikalische Seite von Walter Wegmüller’s Tarot verantwortlich gewesen. Davor hatte er mit LSD-Papst Timothy Leary, mit Wegmüller und seiner Band ein sehr trippiges Album mit dem Titel Seven Up aufgenommen, das MIR schlicht nicht so gut gefällt, wie das während der Aufnahmen zu Tarot entstandene Join Inn. Ash Ra Tempel hatten einen Lauf. Mit Hartmut Enke (b) und der Sängerin Rosi Müller hatte Göttsching eine eingespielte Truppe, die in den Wochen im Studio von Dieter Dierks in Pulheim bei Köln wahrscheinlich genau die richtige Dosis Drogen und Inspiration erhielt. Zumal Klaus Schulze (dr, Synth) neben seiner Solo-Karriere (siehe weiter unten) hier auch nochmal freundlich mittat. Man bekommt mit Join Inn archetypischen Karutrock: Zwei jeweils eine LP-Seite-lange Tracks, Improvisationen über ein Thema, bei dem die Musiker sich nach Herzenslust austoben dürfen. „Freak’n’Roll“ ist ein 19-minütiger harter Jam. In den man regelrecht hineingeworfen wird. Schulze rastet an den Drums aus, Enke’s Bass-Lines sind richtig „heavy“, Göttsching haut Gitarrenriffs heraus, um die ihn jeder Psychedelic-Act aus den USA beneiden würde. Dazu schwirren Synthesizer-Sounds im Ohr herum, die Allem eine zusätzliche Outer-Space-Dimension geben. Man mag sich vorstellen, dass dieser Jam Stunden gedauert hat, eben nur ein Teil aufgenommen wurde.Das ist ein bisschen, wie bei Can’s „Yoo Doo Right“: Man kann jederzeit einsteigen, die Musiker sind im Wahn und zugleich voller Konzentration bei der Sache. Und wie jeden Psychedelic-Jam kann man auch diesen langweilig finden. Mir scheint, dass die Musiker sich hier nicht mehr in Ehrfurcht vor einem Guru (T. Leary) verneigten und dadurch befreit aufspielen konnten. Die 24 Minuten von „Jenseits“ sind mit den sanften Worten von Rosi und den Synth-Drones von Schulze noch typischer für das, was sich damals junge Briten und Amerikaner unter Krautrock vorgestellt haben dürften. Join Inn sind zwei Psychedelic-Jams in Perfektion. Die muss man so hinnehmen und so sind sie auch gut.

Brainticket
Celestial Ocean

(RCA Victor, 1973)

Krautrock aus der Schweiz…? Brainticket wurden 1968 vom in Basel lebenden Belgier Joel Vandroogenbroek mit ein paar schweizer und britischen Musikern gegründet und sind damit nicht wirklich „Kraut’s“. Aber das sind Nektar und Sweet Smoke ja auch nicht, und dennoch passt ihre Musik in diese Schublade und ist ihr Publikum das gleiche. Zumal der eigentlich im Jazz beheimatete Keyboard-Virtuose Vandroogenbroek sich massiv von Acts wie Amon Düül und Tangerine Dream beeinflusst sah. Dass das ’71er Debüt Cottonwoodhill zum Einen sehr empfehlenswert ist, zum Anderen sehr kontrovers betrachtet wurde, weil es faktisch die Vertonung eines LSD-Trips ist -was manches Label bedenklich fand – soll erwähnt sein. Ein fast ebenso abgespace’ter Freak Out war der ’72er Nachfolger Psychonaut. Der CDU-affine Teil der Gesellschaft fand Brainticket bedenklich – und durfte ein bisschen aufatmen, als nun mit Celestial Ocean die Drogen vielleicht etwas weniger hart waren… oder sich Gewöhnung eingestellt hatte. Für Spezialisten ist Celestial Ocean kein „Trip“ mehr, sondern nur noch so was ähnliches: Nenn‘ es „Space Rock“ (der mit Krautrock parallel läuft…). Vandroogenbroek hatte sich – ganz en Vogue – ein Konzept zurechtgelegt, hatte im alt-ägyptische „Buch der Toten“ Themen gefunden und nutzte nun ausgiebig Synthesizer und weitläufige Klangflächen, um spannende, leicht abgehobene Songs auszubreiten. Es ist die Mischung aus Soundschwaden, dann aber auch wieder konzisen „Song“-Ideen, die das Album erstaunlich genießbar machen. Der Opener „Egyptian Kings“ ist nachgerade majestätisch, bei „Jardins“ ertönt die Sitar, „To Another Universe“ klingt nach Robert Wyatt mit sanfter Flöte, zwischendurch gibt es Spoken-Word Passagen, die bedeutungsvoll sein müssen. Angenehm, dass hier nicht zum Selbstzweck soliert wird, sondern eine dunkle, manchmal verträumte Atmosphäre geschaffen wird. Celestial Ocean ist erstaunlich eigenständig. Ein wenig old school Krautrock eben, den derjenige probieren sollte, der Tangerine Dream zu breit findet.

Embryo featuring Charlie Mariano
We Keep On

(BASF, 1973)

Hier haben wir die Art Krautrock, die letztlich dem Ruf dieser Musik geschadet hat: Erbarmungsloses Gegniedel, „groovige Mussik“ von instrumentalen Könnern, die sich in Improvisationen ohne Sinn verlieren. Wobei man ganz sicher sagen muss, dass das zu Beginn noch mit der Lust und Kraft betrieben wurde, die allem Anfang innewohnt. Der virtuose Multi-Instrumentalist Christian Burchard hatte die Band (natürlich) 1969 gegründet, hatte mit namhaften Jazzmusikern aus den USA gearbeitet (Mal Waldron und hier Charlie Mariano) und sah Embryo eher als fluktuierendes Kollektiv an, denn als feste Band. Hier trafen sich Alle, die mal so richtig zeigen wollten, was sie konnten. Auf We Keep On, dem ersten von drei Alben in ’73, war das immerhin noch frisch, noch sinnig, passte auch in die Zeit, hat vermutlich jedem Jazz-Fusion Fan Freude bereitet. Die Musik hier ist purer Jam-Band Jazzrock. Und natürlich ist das Saxophon des Charles Mingus-Mitstreiters Charlie Mariano virtuos und schön. Und das Gitarrenfeuerwerk von Roman Bunka beim Opener ist beeindruckend. Und wenn der dann beim zweiten Track „Flute and Saz“ an genau der brilliert, dann ist das toll und weist den Weg in Richtung Weltmusik, den Embryo in den kommenden Jahren gehen würden. Noch gehen die (in diesem Fall…) vier Musiker immerhin nicht komplett im sinnlosen Gedaddel verloren. Noch gibt es freaky Improvisationen und ein bisschen Song. Aber man muss den Sinn dieser Musik hinterfragen, wenn man sowas wie den „Hackbrett-Dance“ hört. Embryo und We Keep On IST typischer Früh 70er Kraut-Jazzrock. Noch neu, noch nicht komplett abgenutzt. Es ist ein Album, das eine Typologie erfüllt, die schnell langweilig werden würde. Hier sind immerhin einige tolle Tracks dabei…

Embryo (featuring Jimmy Jackson)
Steig Aus

(Brain, 1972)

…was auf dem im April ’73 veröffentlichten Nachfolger Steig Aus nochmal ganz gut gelang. Der zugegebenermaßen sehr einfallsreiche Percussionist Burchard hatte ’71 und ’72 etliche Sessions mit verschiedenen Gästen aufgenommen und baute daraus im Laufe dieses Jahres noch zwei weitere Alben, von denen das noch im Dezember ’73 veröffentlichte Rocksession das weniger interessante ist (…und deswegen hier nicht auch noch beschrieben wird…). Hier war Burchard’s Freund Mal Waldron dabei, ein legendärer Pianist der US-Jazz Community, der 1962 mit The Quest gemeinsam mit Eric Dolphy ein fantastisches Album gemacht hat. Steig Aus gilt Vielen als Höhepunkt in der riesigen Diskografie von Embryo. Es zeigt – besser noch als We Keep On – wo Burchard mit Embryo hinwollte und der Opener „Radio Marrakesch/Orient Express“ sagt es auch im Titel – Embryo erfanden gerade jazzige Weltmusik. Die passt zum Eskapismus vieler (nicht nur deutscher) Hippies, die inzwischen gerne den Trip nach Indien, Marokko, Ägypten, Guam, Whatever machten bzw. gemacht hatten. Um Inspiration, sich selbst und billige Drogen zu finden, um spirituell erleuchtet zu werden. Aber ich will Burchard und Embryo nicht diskreditieren: Diese Band tourte weltweit – auch in Nordafrika und Indien – und saugte Ideen auf. Spielte mit lokalen Musikern, tat etliches für Musik(er) aus Afrika und Asien und hatte schon Anfang der 70er ein Können und Wissen versammelt, das in ihre Alben einfließen MUSSTE. Roman Bunka etwa war auch wieder dabei und konnte nicht nur E-Gitarre, sondern auch die Saz perfekt bedienen. Der auf dem Cover ge-featurte Amerikaner Jimi Jackson hatte mit seinem Mellotron ebenso großen Einfluss auf dieses rein instrumentale Album, wie Bassist Dave King und Geiger Edgar Hofmann. Will sagen – hier findet man drei lange, inspirierte Jams, bei denen bewiesen wird, dass die Einflüsse orientalischer Musik auf den (Kraut)-Rock durchaus auch sinnvoll sein konnten. Wie so oft bei Jam-Band Musik… wenn der Spaß wirklich hörbar wird und man sich darauf einlässt, dann ist die Musik spannend. Aber das Konzept hält nicht lange, wird schnell akademisch und zur reinen Leistungsschau. Hier ist das noch erträglich, wer mehr will, soll sich auch Rocksession anhören. Mir reicht’s ab hier.

Message
From Books and Dreams

(Bellaphon, 1973)

Die frühen 70er sind auch die Zeit des harten psychedelischen Rock (Heavy Psych) und natürlich gab es das auch in Deutschland. Krautrock IST mitunter genau Das – hart und psychedelisch. Siehe Bands wie T2, Captain Beyond (beide USA),Stray, Groundhogs (UK), die Flower Travellin‘ Band (Japan) oder die (zumindest teilweise deutschen) Frumpy und Message. Letztere waren 1968 in Düsseldorf entstanden. Dort hatten sich der virtuose Bassis Horst Stachelhaus mit den beiden Briten Allan Murdoch (g) und Tommy McGuigan (voc, sax) und noch ein paar deutschen Freunden zusammengetan. Insbesondere Horst Stachelhaus erwies sich schnell als Könner mit Stil und seine Band erspielte sich schnell einen hervorragenden Ruf als Live-Band. ’72 bekamen sie die Möglichkeit ein tolles Debütalbum (The Dawn Anew is Coming) auf dem deutschen Bacillus-Label zu veröffentlichen. Ob ihre Musik und ihr noch besseres zweites Album From Books and Dreams „Krautrock“ ist..? Wenn man Rockmusik aus der BRD in den 70ern so nennt, dann ja. Message hatten in Deutschland ihre Fans, traten hier auf, und – wie geschrieben – Krautrock hat viele Gemeinsamkeiten mit Psychedelic Rock, mit Hard Rock, mit Progressve Rock. Und all das bekommt man auf From Books and Dreams in perfekter Form geboten. Die Rhythm Section spielt mit Wucht, die Songs sind lang und komlex, die Gitarrensoli dem Zeitgeist entsprechend feurig, McGuigan’s Stimme ist gut, ein bisschen bluesig – und natürlich hat er nicht den entsetzlichen Akzent, den man bei Bands wie Eloy erleiden muss. Vor allem die beiden über 10-minütigen „Epen“ „Dreams and Nightmares (Dreams)“ und „Dreams and Nightmares (Nightmares)“ haben Alles, was der Progressive Rock-Fan hören will. Diese Band brannte und machte hier ein Meisterstück des… Krautrock?, Progressive Rock?… Egal. Es passt hier hin. Und dass sie mit Allan Freeman zeitweise einen Keyboarder hatten, der in Hamburg eine eigene Band gegründet hatte, führt zu ebendieser Band namens….

Nektar
Remember The Future

(Bellaphon, 1973)

…Nektar entstanden 1969 in Hamburg, und setzten sich komplett aus britischen Musikern zusammen, die zuvor auf dem europäischen Festland getourt hatten. Mit dem Debüt Journey to the Center of the Eye und A Tab in the Ocean (beide 1972) waren sie vor Allem in der BRD erfolgreich, denn insbesondere ihre Live-Auftritte mit aufwändiger Lightshow kamen beim deutschen Publikum gut an. Dazu die Musik, die Pink Floyd Anno ’70 sozusagen fortsetzte, die Fans der britischen Psychedeliker mit frischem Stoff versorgte… Nektar schienen auf dem Weg, Stars zu werden. Allerdings machten sie den Fehler, sich zu sehr auf ihre Jam-Band Fähigkeiten zu verlassen. Anfang ’73 hatten sie mit …Sounds Like This eine Doppel-LP veröffentlicht, die nirgendwohin führte. Gekonnt, aber mit wenig Sinn. Die Art Musik, die es ’73 haufenweise gab, die aber langsam langweilig wurde. Aufgebläht wie Yes‘ Tales from Topographic Ocean – was viele ja auch toll finden… Das Ende eines Stils hat manchmal auch schöne Blüten und der konzentriertere Nachfolger Remember the Future zeigte ein letztes Mal, warum und womit Bands wie Nektar zumindest eine Zeitlang beeindrucken konnten. Auch hier gab es ein Konzept, zwei Tracks, die sich über jeweils eine LP-Seite erstrecken durften – und damit freilich auch ein paar Längen. Nun versuchten Nektar auch den US-Markt zu erobern (erfolgreich – das Album erreichte Platz 13 der US-Album-Charts). Es gab Gesangsharmonien, die ins AM-Radio passten… aber es gab eben auch das konzentrierte Spiel einer Band, die ihr Album in gerade mal drei Tagen aufgenommen hatte. Die von Frank Zappa gelobt worden war, die ihr Science-Fiction-Konzept nicht auslutschte, sondern zum Anlass nahm auch ein paar feine Songideen auszuformulieren. Mit Remember the Future wurden Nektar in den USA wahrgenommen und hatten eine Zeit lang lang Erfolg. Dies ist für mich ihr letztes wirklich gelungenes Album. Wer mehr ProgRock dieser Art braucht, der höre noch ihr ’75er Album Recycled. Aber 1975 gab es von Patti Smith oder Brian Eno spannenderes…

Sweet Smoke
Darkness to Light

(Harvest, 1973)

Da wären noch… Sweet Smoke. Die Story hinter dieser Band ist so naiv-trippige wie es das Cover illustriert. Entstanden waren Sweet Smoke in New York, 1968 waren die jungen Studenten in der Karibik gelandet und hatten dort sechs-stündigen Konzerten ihren Jam-Sound entwickelt. Dann wollten sie nach Amsterdam – die europäische Kiffer Hauptstadt war bei Hippies sehr angesagt. Sie flogen nach Deutschland… und durften nicht in die Niederlande einreisen. So strandeten die fünf Bandmitglieder in Emmerich am Rhein. Der Bildhauer Waldemar Kuhn besorgte ihnen eine Bleibe und begann sie zu managen (ganz locker, ey…) – sie spielten bei etlichen Festivals mit und nahmen 1970 mit Conny Plank ihr Album Just a Poke auf. Und – nochmal typisch – danach gingen die Bandmitglieder auf einen Indien-Trip und bekamen nicht mit, dass ihr Debüt langsam zum Erfolg wurde. Als sie 72 wieder in Deutschland ankamen, zogen sie nach Sulzheim in Unterfranken und nahmen ihr zweites Album Darkness to Light auf. Man mag die Musik beider Alben heute belächeln – es ist trippiger, peaciger Hippie-Raga Rock mit Jazz-Einflüssen und Kinderlied-Charme – aber diese Band hatte das lose Improvisieren wahrlich drauf. Und sie mischten ihrem Kraut hier auch eine gewisse Disziplin bei. Man bekam nun pro LP-Seite je zwei kurze Tracks und einen Jam und es war offenbar gewissenhaft komponiert worden. Natürlich waren Raga-Einflüsse herauszuhören (wie bei Embryo oder Agitation Free…). Insbesondere auf „Kundalani“ wurden offenbar hinduistischen Chants eingebaut. Aber die Musiker kannten immer noch Jazz und ihr Psychedelic Rock war ausgefeilt. Songs wie der kurze Opener „Just Another Empty Dream“ faszinieren mit einer Mischung aus Komplexität und Naivität. Vielleicht gerade wegen der kindlichen Unschuld ist Darkness to Light besser gealtert als das zuvor beschriebene Album von Nektar etwa. Und „Kundalani“ könnte auch in den 00ern entstanden sein – und ist auch noch toll musiziert. Diese Band sollte man wiederentdecken, wenn gerade wieder eine Welle Psychedelik über die Gesellschaft schwappt.

Kraftwerk
Ralf & Florian

(Philips, 1973)

Kraftwerk sind natürlich bekannt (und machten NIE Krautrock). Diese Düsseldorfer Institution steht für die Entstehung elektronischer Popmusik, für den lift off von Synthesizern aus esoterischen Schwaden in tanzbaren Synth-Pop. Aber diese Band hatte eine Geschichte VOR dem Hit-Album Autobahn aus dem Folgejahr. Kraftwerk existierten immerhin seit 1970 – und bei ihnen hatten die beiden zerstrittenen Neu! Köpfe Klaus Dinger und Michael Rother gelernt, wie man konzeptuelle Musik macht (behaupte ich mal…) 1973 waren die beiden Kraftwerk-Gründer Ralf Hütter und Florian Schneider-Esleben mit dem Produzenten Genie Conny Plank ins neue eigene Studio gegangen, um ihr drittes Album aufzunehmen. Dass dieses und die beiden vorherigen Alben heutzutage (2023) NICHT zu bekommen sind, ist ein musik-kulturhistorischer Skandal. Ich meine, die drei ersten Kraftwerk-Alben gehören zur deutschen Hochkultur, wie im Bereich der bildenden Kunst frühe Werke von Gerhard Richter oder Joseph Beuys. Aber die Band verweigert die Veröffentlichung. Und ja – Ralf & Florian ist nicht wie die Referenzwerke ab Autobahn. Man hört Kraftwerk im Rohzustand, noch nicht völlig artifiziell… und deswegen so interessant. Die beiden Kraftwerker setzten hier erstmals den Synthesizer ein – aber noch waren das Versuche, die lieblich klangen, denen nicht die Kälte und gewollte Künstlichkeit kommender Alben innewohnt. Bei der „Ananas Symphonie“ ertönte erstmals eine der typischen Vocoder-Stimmen. „Elektrisches Roulette“ hat nicht nur einen Kraftwerk-typischen Titel, es ist mit seiner schlichten Synth-Melodie und den künstlichen Percussion auch seiner Zeit weit voraus. Die humanoiden Robboter tanzen noch nicht so oft, manchmal klingen Ralf & Florian nach Proto-Ambient… und DAS mag den Herren nicht mehr gefallen. Weil es eine andere Form von Romantik entstehen lässt, als die Maschinen Romantik von „Das Model“. Aber die Jungs waren Mitte Zwanzig, die technischen Möglichkeiten des gerade aufgebauten Kling Klang Studios mussten noch erkundet werden und die teuren Synthesizer waren – wie gesagt – gerade erst angeschafft worden. Nun – Künstler dieser Art mögen ihre Frühwerke verachten. Wir Hörer aber mögen auch die Facetten, die betriebsblinde Musiker inzwischen verachten. Die Schönheit ist schließlich im Ohr des Hörers, nicht nur in dem des Musikers. Ralf & Florian ist ein subtiles, sehr eigenwilliges Album von einer Band, die sich dann logisch weiterentwickelt hat.

Tangerine Dream
Atem

(Ohr, 1973)

Ganz anders als Kraftwerk… Tangerine Dream machten natürlich auch keinen „Krautrock“. Sie sind – das kann man mit Fug und Recht sagen – die Begründer einer eigenen Kategorie in der populären Musik. Manche nennen ihre Musik Progressive Electronic, Unter-Schublade Berlin School. Denn Ende der Sechziger hatten in Berlin um den Kern Tangerine Dream etliche Musiker (Conrad Schnitzler, Klaus Schulze, der ewige TD-Bandkopf Edgar Froese, der Agitation Free Drummer Christopher Franke und Manuel Göttsching aka Ash Ra Tempel etc…) begonnen, den damals enorm teuren Synthesizer für Musik einzusetzen, die zwischen Klassik, Krautrock, Experiment und Psychedelik changierte. Inzwischen waren Tangerine Dream die Referenz in dem, was man in dieser Zeit „Elektronische Musk“ nannte. Dabei waren ihre vorherigen drei Alben sogar noch relativ nah am konventionellen „Rock“ gebaut. Da hatten Drums und Gitarren noch durchaus den Sound bei (Kraut-typisch-langen) Tracks bestimmt. Aber seit Klaus Schulze 1971 gegangen war und seit Edgar Froese – selber Gitarrist – nun das Mellotron für sich entdeckt hatte, wurden Tangerine Dream langsam zum Elektronik-Act. Bedenke: Synthesizer waren enorm teuer, und auf Atem spielte ihn hauptsächlich der Pianist Peter Baumann. Drummer Christopher Franke hatte beim über eine LP-Seite dauernden Titeltrack wirklich enorm zu tun. Erst nach ein paar Minuten verwandelt sich das Stück in einen pulsierenden Drone. Atem ist das letzte TD-Album für das Ohr-Label. Die waren Edgar Froese zu hippie-affin und zu experimentell. Gerne nahm er im folgenden Jahr das Angebot von Virgin Records an und machte ab da zugänglichere Musik. Das komplette Album Atem ist (auch für heutige Hörgewohnheiten) sehr experimentell und durchaus auch düster. Tangerine Dream erzeugten Stimmungen – und die waren nicht unbedingt nur positiv. Da ist auch das von Froese gestaltete Cover durchaus passend. Die Träume, die mit Songs wie der Mellotron-Orgie „Fauni-Gena“ vertont wurden, waren unbehaglich. Atem ist eingerahmt vom experimentellen Meistestück Zeit und dem Referenzwerk für Synthesizer-Musik Phaedra. Das mag seinen Ruf gemindert haben. Allein ist es ein wunderbar dunkles Drone-Album, das zeitlos geblieben ist.

Klaus Schulze
Cyborg

(Kosmische, 1973)

Und da ist er wieder: Klaus Schulze – der Musiker, der bei Tangerine Dream begann, der mit Ash Ra Tempel und mit Walter Wegmüller 1973 zwei definitive Kraut-Alben veröffentlicht hatte und der danach auch noch die Zeit fand, ein Dopple-Album mit eigener Musik zu veröffentlichen. Man bedenke, dass er „eigentlich nur Drummer“ war. Aber er hatte die Orgel und den Synthesizer gemeistert und er wusste, wie man mit einem kompletten Orchester umgehen konnte – und machte mit seinem zweiten Solo-Album Cyborg den Kollegen von Tangerine Dream mal ganz locker vor, wie „Elektronische Musik“ weitergehen könnte. Dieses Album ist die Antwort auf Tangerine Dream’s Zeit, aber Schulze nahm alle „organischen“ Instrumente = Percussion, Bass, Gitarren ‚raus und schob Wände aus Orgel- und Synth-Drones durch glaziale Landschaften. Cyborg ist weiter als Atem, es nimmt vorweg, was Tangerine Dream (immerhin mit eigenen Ideen und im eigenen Stil) in den kommenden Monaten machen würden. Natürlich gibt es hier vier jeweils 23 bis 26-minütige Brocken zu verdauen. Cyborg braucht Zeit und Ausdauer, die dröhnenden Berge, die bei „Synphära“ und „Conphära“ über den Hörer walzen, sind beängstigend und schieben sich ziemlich langsam voran. Aber Schulze schaffte es (auch auf den folgenden Alben) immer wieder, eine gewisse Spannung zu erhalten. Man hört sozusagen gelähmt zu, wie diese Soundwälle sich verschieben, mit rhythmischem Pulsieren umgruppieren, von kleinen Klang-Insekten zersetzt werden. Dass er ein ganzes Orchester als Variation im Sound einsetzte, zeigt, dass der Mann groß dachte. Und dann sind alle vier Tracks auch noch leicht zu diffenernzieren. Er hatte Ideen genug für die kommenden 10 Jahre, für Meisterwerke wie Timewind (’75), Mirage (’77) und vor allem X (’78). Ohne Schulze kein Jean-Michel Jarre und keine Stars of the Lid.

Conrad Schnitzler
Rot

(self released, 1973)

Mit seinem ersten Solo-Album Rot zeigte sich der Beuys-Schüler, Elektronik-Pionier, Tangerine Dream-Mitbegründer und Ex Kluster Boss Conrad Schnitzler ein weiteres Mal völlig kompromisslos. Seine Musik ist nicht „schön“ – da sollte man mal das 70er Kluster-Album Klopfzeichen hören… und sie soll auch nicht „schön“ sein. Er machte auch auf seinem ersten (self-released…) Solo-Album Industrial im Sinne des Wortes – so würde man es heute jedenfalls nennen – und die Sounds hier sind eindeutig kalt, maschinell – auch wenn sie auf andere Art hergestellt worden sein mögen. Dass diese „Musik“ ihrer Zeit voraus war ist eine interessante Überlegung, denn ja: Es gibt heute, da ALLES gehört werden kann, auch einen Markt dafür. 1973 allerdings war Schnitzler wegen der unkommerziellen Art der Musik gezwungen, dieses Album selbst verlegen. Tatsache ist, dass auch ’73 experimentelle Musik fast jeder Art in der Musikindustrie quasi nicht stattfand. Und was hier geboten wurde, war Kunst, nicht Popmusik – denn Popmusik durfte in den Ohren der Plattenfirmen-Entscheider nicht „anspruchsvolle Kunst“ sein. Eine Denkweise, die sich inzwischen kaum geändert hat. Also: Rot ist anstrengend. Genau wie der Nachfolger Blau von ’74. Dass diese Musik (für dieses Kapitel) unter dem Etikett „Krautrock“ firmiert ist Schnitzlers Teilhabe an Bands/Projekten mit Tangerine Dream und Kluster geschuldet – und natürlich dem zweiten Track dieses Albums (das heute erhältlich ist – liebevoll Re-released etc…) Schnitzler nannte das Monster auf der zweiten LP-Seite nämlich „Krautrock“. Aber wer hier Musik ähnlich der von Can oder Neu! erwartet, der wird möglicherweise enttäuscht. Und auch Tangerine Dream klingen…. na ja ….weit verträumter als das hier. Es ist Pionierarbeit im Bereich elektronischer Musik. Und zwar hervorragende… PS: Mayhem-Gitarrist Øystein Aarseth war bekennender Fan von Schnitzlers Musik. Der Black Metal Pionier lernte Schnitzler in den Neunzigern kennen und dieser gab ihm Musik mit um diese bei seiner Debüt EP zu benutzen…