1993 – Pearl Jam bis Sister Double Happiness – At the End of the Golden Age of Grunge

Spätestens 1991 hat sich der Begriff „Grunge“ in der Jugendkultur aufgebläht um dann – wie das mit solchen Hypes ist – nach wenigen Jahren wieder zu implodieren. Nirvana’s Nevermind und Pearl Jam’s Ten waren die Alben, die fast jeder junge Mensch zwischen 15 und 25 Anfang der 90er gehört und gefeiert haben dürfte (lies dazu das Kapitel 1991… Ein Jahr voller Grunge).

Zwei Jahre später waren Ermüdungserscheinungen zu bemerken. Nicht, weil die Musik schlechter wurde oder weil die Protagonisten der Welle schwächelten – aber der „Markt“ und die Ohren des jungen Publikums waren nun geflutet. Mit teils sehr guten, aber inzwischen auch mit einigen mediokren Alben, die an den Trend geklebt wurden. Das schadete den Bands, das schadete den Musikinteressierten, das schadete sogar der „Industrie“, die aber nicht an nachhaltiger Entwicklung von Kunst interessiert war, sondern nur den kurzfristigen Erfolg wollte und bald alle möglichen Acts vor die Wand fahren ließ. „Grunge“ war ein Kunstbegriff – sowieso. Eine Marke, die inzwischen mit bestimmten schlichten Images warb. Die meisten jungen Musiker, die in diese Trendmühle geworfen wurden, haben diesen Begriff eher gehasst. Das waren nämlich meist Leute, die – mitunter schon seit den Mitt-Achtzigern – Musik machten, die sich ganz natürlich aus den Kenntnissen um US-Hardcore, Punk, Pop, Folk etc. entwickelt hatte. Diese in den 70ern geborenen Leute waren mit den Plattensammlungen ihrer Eltern und mit den Radioprogrammen aufgewachsen, die ihnen klassische Rockmusik vorspielte. Die hatten Punk und Hardcore als Auflehnung gegen den alten Kram mitbekommen und machten jetzt Musik aus diesen Einflüssen. Musik, die man einfach als Alternative zu dem erkennen muss, was zuvor da war. Eine Mischung aus allem zuvor gehörten. Alternative Rockmusik. Mal mit einem Übergewicht im Pop, mal im Punk, mal in der Psychedelischen Musik der 60er etc… Hier findet sich also alternative Rockmusik von Bands, die man Anfang der 90er in die – noch!! – konsumfreundliche Grunge-Schublade schob. Viele dieser Bands würden bald daran leiden, dass ihnen das Anhängen an den „Grunge-Hype“ vorgeworfen wurde. Oft zu Unrecht. Lies dazu meine Beschreibung zum großartigen Nirvana-Album In Utero. Dieses Album wurde ’93 kräftig gedisst – einfach weil es Teil einer Verkaufswelle war, die der Musikindustrie gefiel, die aber so gar nichts mit Jugend, Revolte oder Freiheit zu tun hatte. Hört euch das Album heute an und ihr werdet merken, dass mit dem Hype ehrenhaften Musikern Unrecht getan wurde. Hier folgen etliche tolle Alben, die man so oder so nennen könnte. Der Begriff „Grunge“ war bloß das Etikett der Plattenfirmen. So gesehen gibt es auch nach ’93 viel tollen „Grunge“.

https://music.apple.com/de/playlist/der-gro%C3%9Fe-rockhaus-1993-grunge/pl.u-kv9llBLu7K3BYRg

Nirvana – In Utero
(Geffen, 1993)

Lies dazu im Hauptartikel 1993. Ein Album, das damals misstrauisch und voler Vorurteile empfangen wurde und erst nach Kurt Cobain’s Tod und dem Abflauen des harten Alternative Rock wirklich gewürdigt wurde. Eines, das man heute mit Recht als Klassiker bezeichnen kann.

Smashing Pumpkins – Siamese Dream
(Hut, 1993)

Auch eines der „klassischen“ Alben des Jahres 1993. Und eines, das (bis heute…) in die Grunge-Schublade geschoben wird. Dabei machte Bill Corgan einfach alternative, harte Rockmusik, die Cheap Trick und die Scorpions und einen Haufen andere uncooler Einflüsse kannte. Dass er daraus ein so fantastisches Album machte, ist ein hoher Verdienst…

Hazel – Toreador of Love
(Sub Pop, 1993)

…nur mal als Beispiel dafür, dass Alternative Rockmusik einfach bloß „unter anderem“ Grunge genannt werden kann. Hazel hatten mit Jody Bleyle eine der Köpfe der Riot Grrrl Queens Team Dresch dabei. Und machten 1993 ein Grunge-Album mit ihrer Stimme, das ich im Artikel über Riot Grrrl Alben ’93 beschreibe. Kann man drüber streiten, ob das passt…

Dinosaur Jr. – Where You Been
(Blanco Y Negro, 1993)

Und auch etliche Bands, die ich in anderen Kapiteln unter den Begriffen „Alternative“ oder „Noise“ beschrieben habe, könnte man „Grunge“ nennen. So dürften Dinosaur Jr. dasselbe Publikum gehabt haben dürften, wie Nirvana. Und die wiederum haben J Mascis Band auch bewundert Lies in einem der anderen ’93er Kapitel…

Pearl Jam
Vs.

(Epic, 1993)

Wer war wichtiger? Nirvana oder Pearl Jam? Wessen zweite LP wurde mit mehr Spannung erwartet? Hing dereinst auch vom Indie-Ethos des „Käufers“ ab. Nirvana waren ’93 schon irgendwie die Band, die „more Indie“ war – oder hätte sein sollen. Pearl Jam waren 1993 schon bekannt als im Prinzip ein bisschen ZU versierte Musiker um einen enorm charismatischen Frontmann. Eddie Vedder’s tief aus der Brust grollende Stimme ist ein Erlebnis, wurde vergeblich nachgeahmt – dessen treuherzige Moralvorstellungen waren beeindruckend – wurden aber jetzt schon oft als aufgesetzt angesehen. Das mag dem zweiten Album von Pearl Jam geschadet haben. Wie gesagt: Schon ’93 setzte Ermüdung und Unglaube in Bezug auf den Indie-Ethos der vor zwei Jahren explodierten Seattle-Grunge-Szene ein. Konnte man das in der Musik zu belegen? NEIN!! Tatsächlich haben die meisten Bands dieser „Szene“ einfach ihr Ding weiter gemacht, haben – natürlich – begonnen zu variieren, waren nicht an finanziellen Masterplänen interessiert und fanden ihren Erfolg oft auch noch unheimlich … und machten deshalb gerne etwas, das die Erwartungen unterlaufen sollte. So auch Pearl Jam mit Vs. (das Kürzel für „Versus“..) Die Hymnen von Ten wurden gebrochen. Vedder KONNTE nicht anders singen, seine Stimme kam immer noch tief aus der Kehle, klang wie kurz vor dem Ausbruch. Aber viele Songs bekamen Haken. „Dissident“ wäre zwar auf Ten nicht fehl am Platze gewesen, aber beim folgenden „w.m.a.“ erklingen Tribal-Drums und Vedder’s Stimme bleibt im Hintergrund, der Song ist deutlich gegen kommerzielle Erwägungen gerichtet. „Daughter“ war auch ein Hit, war nah am Rrrock von Ten. Aber der Opener der zweiten LP-Seite war ein punkiges Fuck Off an Label-Executives. Und mit dem danach folgenden „Rearviewmirror“ gab es den besten Track von Peral Jam. Einen, der bewies, dass diese Band schlau war: Sie versuchten nicht das Erfolgsrezept zu wiederholen, sondern eröffnete sich neue Möglichkeiten, verschob Punkte im Koordinatensystem… und blieb für mindestens vier weitere Alben interessant. Pearl Jam war eigentlich nur eine Rockband. Grunge war der zufällig Trend, in den sie hineinfielen und den sie mit einer handvoll toller Songs anschoben. Aber DAS war nicht ihre Schuld oder ihr Plan. Sie haben Glück gehabt und das Beste daraus gemacht.

Brad
Shame

(Epic, 1993)

Der Jüngste in der Band Pearl Jam war Gitarrist Stone Gossard. Da mag die Energie hekommen, die es ihm ermöglichte mit seinem Side-Project Brad 1993 ein weiteres Album zu veröffentlichen. Beachte – Gossard ist definitv einer der Architekten des Sounds of Seattle. Der Mann kannte sie Alle. Hatte mit Mark Arm von Mudhoney gespielt, hatte die Pearl Jam-Vorläufer Band Mother Love Bone mit-begründet und spielte bei Brad mit Musikern anderer Bands aus der Szene zusammen- Sänger Shawn Smith und Drummer Regan Hagar hatten ihre Band Pigeonhed, Jeremy Toback (b) machte Solo Musik, und diese vier trafen sich, jammten zusammen und nahmen in 20 Tagen ihr Debütalbum auf. Eigentlich sollte die Band Shame heissen, aber der Name war vergeben. Die Namensrechte gehörten einem gewissen Brad Wilson und der wollte einen Haufen Geld dafür.. Also nannte man sich einfach Brad… Nicht vertun… Brad klingen nicht wie Pearl Jam. Shawn Smith hat eine tolle, soulige Stimme, viel „höher“ als Eddie Vedder. Er spielt ein prägnantes Piano, die Songs sind ruhig, funky, bei Jam-Sessions entstanden – aber die Beteiligten wussten, was sie taten. Shame ist ein eigenständiges Album und der Opener „Buttercup“ ist ruhiger, schöner Nenn-es-meinetwegen-Grunge. Auch „My Fingers“ könnte eines der neuen Stücke von Pearl Jam sein. Vor allem die Gitarren sind wiedererkennbar- Aber wo Pearl Jam im Hardrock wurzeln, da stehen Brad in Soul und im Funk. Und „Screen“ ist eine wirklich glaubhafte Rock-Ballade mit Piano. Brad hatten mit Pearl Jam gemeinsam, dass sie bestimmte Bereiche des in dieser Zeit oft verachteten Mainstream in die hippe Alternative-Ecke zu schieben vermochten. Aber das war’s mit den Ähnlichkeiten. Stone Gossard hatte in der Folge wenig Zeit für Brad, daher dauerte es vier Jahre bis zum Nachfolger Interiors. Und der Erfolg der Band, die sich verständlicherweise zum Projekt um/von/für Shawn Smith entwickelte, blieb übersichtlich. Ich finde trotzdem, dass Shame ein Grunge-Album ist.

Afghan Whigs
Gentlemen

(Elektra, 1993)

Den “Grunge-Faktor” der Afghan Whigs kann man genauso in Frage stellen, wie den von Brad oder Acetone oder oder oder. Es ist wie bei der New Wave der frühen 80er. Bands wurden in den Topf geworfen, in dem es gerade brodelte, wenn sie nur ein paar ähnliche Gewürze benutzten. Die Afghan Whigs entstanden 1986 in Cincinnati um den Songwriter Greg Dulli (voc, g), Rick McCollum (g) und John Curley (b). Die hatten ’92 auf Sub Pop ihr Duchbruchs-Album Congregation veröffentlicht und mit ihrem Mix aus Psychedelik, Punk und Soul ein Meisterstück abgeliefert. Dann kam der Major Elektra und bot ihnen eine Menge Geld und künstlerische Freiheit – und die Band nahm an. War das Verrat? Nicht, wenn ein Album wie Gentleman dabei herauskommt. Die Afghan Whigs entfernten sich vom Grunge-Sound (lobten die Kritiker und finde ich egal…) und schrieben ein dermaßen durchdachtes, emotionales und kluges Album mit massenhafte versteckten Untiefen, dass der Gedanke an Ausverkauf oder Kompromisse sich auflöste wie Zucker im Meer. Dass Tracks wie “Debonair” oder “What It’s Like” sehr gut geschrieben sind, ist das Eine. Aber dann sind da die Texte, die zwar Raum für Interpretation lassen, aber offenbar mit einem Konzept gedacht sind: Gentlemen handelt vom Kollaps einer toxischen Beziehung, grob gesagt davon, dass Männer zwei Köpfe haben, aber nicht genug Blut, um beide mit Blut zu versorgen. Handelt vom emotionalen Missbrauch und der vergeblichen Reue und vom ständigen Rückfall in alte Fehler und vom Alkohol, der all das noch schlimmer macht. Das kann man herauslesen – und dazu hört man einen Greg Dulli mit seiner verzweifelten Stimme und eine Band, die den Furor von Pearl Jam mit der Eleganz der Soul-Könige Temptations verbindet. Und bei “My Curse” singt Marcy Mays von den wunderbaren Scrawl (höre unbedingt deren ’93er Album Velvet Hammer!!) aus weiblicher Sicht. Gentlemen ist ein freud’scher Ausflug in die kaputte männliche Seele als daher-taumelnder Rock’n’Soul. Und damit hatten die sogar Erfolg!! Was war da los?

Tad
Inhaler

(Giant Rec., 1993)

Nun eine Band, die aber mal sowas von „Grunge“ war!! Tad waren Erfinder dieser Musik, galten Ende der 80er als „next big thing“. Die kamen aus dem Seattle, das 1988 noch unentdeckt und unbefleckt vom Hype war. Die hatten mit Nirvana, Mudhoney, Soundgarden und Green River schmutzig gelärmt, als die großen Labels noch in und um L.A. nach den nächsten Guns’n’Roses suchten. Und ihr ’89er Debüt God’s Balls ist eines der ganz großen Grunge Alben – Grunge, verstanden als Post-Hardcore Punk mit seinen schmutzigen Füßen im Heavy Rock von Black Sabbath und im Noise der Swans. Nun – es waren vier Jahre vergangen, Tad Doyle und seine Jungs waren immer noch im Underground, auch wenn die Informierten über sie Bescheid wussten. Und man kann sagen – Doyle hatte immer noch keine Lust darauf, sich an kommerzielle Erwägungen zu richten. Die Produktion von Inhaler übernahm Dinosaur Jr-Boss J Mascis. Der machte Alles richtig, der Sound war „klarer“, war insofern besser, vielleicht kommerzieller, die Härte aber hatte er nicht zurückgenommen. Auch der Brüll-Gesang von Tad Doyle war jetzt manchmal fast melodisch. Dazu auch noch einige tolle, irgendwie sogar „poppige“ Songs… aber die hatten Tad auch schon auf ihrem ’91er Meisterstück 4-Way Santa gehabt. Da gibt es bei „Luminol“ Akustik-Gitarrenparts, der Opener „Grease Box“ sollte eigentlich ein Hit sein, aber Tad’s Lyrics… der Typ musste doch tatsächlich über Serienmörder und Kindesmissbrauch schreiben!! Das wollten die Major-Bosse hinter Giant Records nicht haben. Und dann brachten Tad auch noch ein Poster heraus, auf dem Bill Clinton einen Joint rauchte… Das war’s dann mit dem kommerziellen Durchbruch. Und Inhaler? Ist eines der besten Grunge Alben ausserhalb der Kommerz-Blase. Hört DAS, wenn ihr wissen wollt, what Grunge was all about…

Melvins
Houdini

(Atlantic, 1993)

Wie man bei Tad sieht – es gab etliche Bands aus der „Szene“ in Seattle, die sich trotz Anbiederung der Major-Plattenfirmen und damit einhergehendem Geldregen nicht verbiegen liessen. Tatsächlich war das in der „Szene“ eher die Regel. Bands wie Tad oder eben die Melvins hatten plötzlich ein großes Studio-Budget – und machten weiter kompromisslose Musik… nur besser produziert. Bestes Beispiel (auch, weil es sich so gut verkaufte…) ist Houdini – Album No. 5 der ’83 entstandenen Grunge/Noise/Sludge Veteranen Melvins. Die beiden Köpfe der Band – Buzz Osborne und Dale Crover – waren enge Freunde von Kurt Cobain, Crover hatte bei Nirvana an den Drums ausgeholfen, man war gemeinsam getourt, Cobain wurde in den Credits als Executive Producer genannt, hat aber bei den Aufnahmen angeblich hauptsächlich geschlafen… Und auch die Bassistin Lori Black hat nichts beigetragen, Bass spielte fast nur King Buzzo. Aber die Musik, die die beiden Melvins hier sauber produziert abnboten war groß. Die Melvins hatten einen Lauf – ihr im Vorjahr bei Boner veröffentlichtes Album Lysol war schon ein Monster – Houdini weitete die Palette der Melvins noch etwas auf. Wo bislang extrem verlangsamter Punk und Noise mit Metal und absurden Lyrics durch den Schlamm gezogen wurde, da kam hier noch etwas mehr Pop dazu. Gemeint ist eine gewisse Zugänglichkeit, ein melodischer Reichtum… im Sinne einer Metal Band. Man höre nur die als Single ausgekoppelte Thrash-Orgie „Honey Bucket“. Pop ist das nur in der Hölle. Oder wie sie „Goin‘ Blind“ von Kiss covern… Das Beste aus dem Song holen und ihn zugleich mit Grunge verschmieren. Oder der laaangsame Doom von „Hag Me“, der nach Black Sabbath auf Tranquilizern klingt. Kein Wunder, dass sich die Japaner Boris nach einem Song der Melvins benannten. Houdini ist so gesehen KEIN Grunge-Album. Oder gerade Eines, wenn man erkennt, wie viel unter dieser Bezeichnung versammelt ist. Ein Klassiker.

Big Chief
Mack Avenue Skull Game

(Sub Pop, 1993)

Nun – jetzt dürfte es klar sein – Grunge ist eine ebenso heterogene Angelegenheit, wie Indie-Rock… IST Indie Rock einer bestimmten Art. Da sind z.B. Bands wie die Soul- und Funk-nahen Brad, Afghan Whigs oder Big Chief. Diese wiederum klingen, als hätten die Stooges mit Funkadelic gejammt. Big Chief waren ’89 aus verschiedenen Bands der Hardcore-Szene Michigan’s entstanden. Auf ihrem zweiten Album Mack Avenue Skull Game – nach dem relativ erfolgreichen Debüt Face (1992) – verarbeiteten sie das musikalische Vermächtnis Detroit’s auf dem Soundtrack zu einem fiktiven Film. Sie versuchten nun Funk mit Proto-Punk zu paaren. Eine Idee, die ja in gewisser Weise auch Bands wie die Red Hot Chilli Peppers erfolgreich gemacht hatte. Aber Big Chief waren ernsthafter bei der Sache, als die immer auch ein bisschen bekifften Kalifornier. Sie standen hinter dem legendären Detroit-Fanzine Motorbooty und hatten einen höchst… künstlerischen Anspruch an alles was sie taten. Und so verhoben sie sich an diesem Konzept-Album. Wobei…: Songs wie „One Born Every Minute“, das Wah-Wah getriebene „Cult to the Chase“ oder der Ambient-Funk „If I Had A Nickel For Every Dime“ und insbesondere der Beastie Boys-Punk von „Cop Kisser“ und das Miles Davis-artige „He Needs To Be Dead“ zeigten eine Band, die immerhin grandios scheitern wollte. Wer also weniger Aufwand hören will, sollte ihre vorherige LP Face suchen. Auf Album Mack Avenue Skull Game steht schon alles kurz vor dem Zusammenbruch. Und so etwas ist machmal extrem spannend. Dass sie damals als „Grunge“ bezeichnet wurden, ist genauso dem Hype zu verdanken, wie bei vielen anderen Kollegen… Siehe:

Pond
s/t

(Sub Pop, 1993)

Portland – das war die Aussenstelle des Sub Pop Labels. Da holten die Label-Verantwortlichen sich Bands wie Hazel, The Spinanes oder Sprinkler her. Und auch Pond kamen von dort. Klar, dass dieser Band aus der gerade mal 3 Stunden von Seattle entfernten Stadt gut in den Sub Pop-Rooster passten. Ein Trio mit lärmenden, klingelnde Gitarren, ein leicht gestresst klingender Sänger, die typischen, leicht verschleppten Rhythmen. Und Sub Pop war ein kluges Indie Label – genug Unterschied zu den Erfindern des Seattle Sound. Pond haben auf allen Alben/Songs einen deutlichen Hang zum Psychedelic Pop. Man mag das beim Debüt Pond noch auf den Produzenten und Co-Frontmann der Posies, Jon Auer, zurückführen. Deren Power Pop war in dieser Zeit schließlich auch sehr feiner Saccharin-Grunge. Man höre deren ebenfalls ’93 erschienenes fantastisches Album Frosting on the Beater… Da gab es tatsächlich Ähnlichkeiten – und das ist ein hohes Lob! Aber Pond waren eine Band mit eigenem Profil. Die machten die Musik, die ihre Generation (unter anderem) eben bevorzugte. Pop mit Hardcore-Wucht und klassischem Gitarre, Bass, Drums-Sound. Und – eben auch hier – einigen sehr gelungenen Songs. Schon der Opener „Young Splendor“ ist fein, „Agatha“ ist hart und süß, „Spots“ dürfte einer der besten Songs der Grunge-History sein – wenn man ihn kennen würde. Den Dreien wurde das gleiche Schicksal zuteil, das die Bands der nun folgenden Alben ereite. Sie machten ein weiteres, sogar besseres Album (The Practice of Joy Before Death, 1995) – aber Grunge wurde da schon in Grund und Boden gedisst. Und die Band versank nach einem dritten, ebenfalls sehr guten Album in dem unverdienten Vergessen, dem ich sie jetzt entreisse. Übrigens – in den Credits von Pond stehen u.a….

Love Battery
Far Gone

(Sub Pop, 1993)

Und auch hier – warum hatte diese Band dann nicht den Erfolg anderer Acts? Da käme als Grund höchstens der Overload in Frage. Die Band war ’89 VOR dem Hype in Seattle entstanden, die Musiker kamen von Bands wie Mother Love Bone, Skin Yard, den U-Men oder Room Nine. Acts, die Musik gemacht haben, die man als Grunge VOR dem Hype bezeichnen darf… weil sie alle „alternative“ harte Rockmusik gemacht haben. Mit Ron Nine hatten sie einen Sänger mit Bühnenpräsenz und Personality, sie hatten gute Songs und einen Sound, der – na ja – eben in diese Zeit passte, aber durch einen großen Schuss Psychedelic Rock auch eigenständig war. Dazu noch der Umstand, dass sie bei Sub Pop waren. Eine Tatsache, die in dieser Zeit beachtet wurde. Nun – im Vorjahr hatten sie mit Dayglo ein Album gemacht, dass ihnen einige Beachtung einbrachte. Aber dann rief ein Major Label an, dann wurde man sich aber doch nicht einig und Sub Pop veröffentlichte den Rough Mix von Far Gone, dann waren die Psychedelik-Anteile etwas zurückgefahren worden und das Album hatte einen Sound, der den Bandmitgliedern nicht gefiel und das Besetzungskarussell drehte sich… All das sind Faktoren, die damals den Fluß gestört haben und wenn man Far Gone heute hört, fällt es auf, wie sehr die Drums im Vordergrund sind, aber der Ex Skin Yard-Drummer Jason Finn ist toll und Bruce Fairweather, der bei Temple of the Dog Gitarre gespielt hatte, war ein famoser Bassist. Sprich – ich vermute, der Hype tat der Band nicht gut, das vorherige Album hatte Erwartungen geweckt, die Love Battery garnicht erfüllen wollten und das war Alles. Denn Songs wie „Half Past You oder „Nebraska“ sind wirklich toll. Wieder ist da diese Verbindung von Härte, Lärm, sehr melodischen Songs und den treibenden Rhythmen, die viele Grunge Bands hatten Und immer noch Psychedelic-Untertöne. Mit etwas Glück… Aber dann wechselten sie zu Atlas Rec., machten ein wunderbares Album (Straight Freak Ticket, ’95), das aber mangels Promotion komplett unterging und wurden letztlich zur vergessenen Seattle Kult-Band. Hört sie euch an, ehe ihr Hype schreit.

Nudeswirl
s/t

(Megaforce, 1993)

…und wer so alles im Zuge des Hypes hochgespült wurde… Da waren z. B. Nudeswirl aus New Jersey. Und sofort muss ich klarstellen, dass diese Band – genausowenig wie viele andere – niemanden imitierte. Nudeswirl spielten einfach eine eigenständige Art Alternative Rock, die nun das Label „Grunge“ augekelbt bekommen hatte. Ähnlich wie Love Battery oder Pond oder Nirvana oder Mudhoney oder oder oder. Nudeswirl waren seit dem Ende der 80er in New Jersey aktiv, hatten 1989 ein Independent-Album veröffentlicht, das man sich allein schon deshalb anhören sollte, weil sie da schon mehr nach Grunge klangen, als Nirvana auf ihrem damaligen Debüt Bleach. Musiker wie Perry Farrell (Jane’s Addiction), The Edge oder John Frusciante haben diese Band immer wieder gerne gelobt, Tool nannten sie als Einfluss. Die Songs auf Nudeswirl sind düster, haben Tribal-Rhythmen, kreischendes Feedback und tief rollende Bässe. Die Stimme von Shane M. Green klingt ein bisschen wie die von Perry Farrell, nicht ganz so quengelig, erdiger. Bestes Beispiel für ihren Sound ist „Now Nothing“ mit ruhigen Passagen, mit enormen Gitarren und sehr viel Atmosphäre. Das darauf folgende „Three“ beginnt fast chaotisch. Aber immer wieder fängt die Stimme die Ausbrüche der Band ab – und genau das macht das Album spannend. Man mag bemängeln, dass Nudeswirl keine großen Songwriter waren. Die hatten Spaß am Noise, an der Atmosphäre. Aber es ist in Zeiten des Alternative Rock ein allgemeingültiges Phänomen: Nicht jeder hatte die Ideen eines Cobain oder Corgan. Dass Nudeswirl unbeachtet blieben, ist wohl der der Masse an Veröffentlichungen geschuldet. Und vielleicht dem Umstand, dass sie mit Megaforce (u.a. Metallica waren bei denen gewesen…) ein ausgesprochenes Metal-Label im Rücken hatten, dem die Indie-Fraktion vorwarf, auf den Trend-Zug aufzuspringen. Denn es gab noch eine andere Band, mit denen Nudeswirl Tour, Label und Missachtung teilten….

MindFunk
Dropped

(Megaforce, 1993)

MindFunk waren ein Sammelbecken für Musiker von Bands wie M.O.D., Celtic Frost, Nirvana (ja – Jason Everman war auf Bleach an der Gitarre…) und Chemical Waste – eigentlich ware damit Musiker dabei, denen man “Alternative” nicht zwingend zutraute. Die Band hatte sich erst Mindfuck genannt, hatte für ihr Debüt auf dem Major Epic Records ihren Namen in MindFunk ändern müssen, wurde mit jenem Album irgendwo zwischen Nirvana und Funk-Metal des Trend-Hoppings verdächtigt. Dann wurden sie von Epic gedroppt, gingen auch noch zum Metal-Label Megaforce und betonten scheinbar den Grunge-Faktor… und so warf man der Band vor, ein Fähnchen im Wind zu sein. Nun – tatsächlich klang Sänger Patrick Dubar auf dem sinnig betitelten Doppelalbum Dropped wie Layne Staley von Alice in Chains. Und die Band nahm den Funk fast komplett aus dem Rhythmus. Dazu verlangsamten sie ihre Songs auf Black Sabbath-Tempo und ließen deren kurzangebundene Gitarrensoli erklingen… Und die Moralwächter schrien “Opportunisten!!”. Dabei wurde aber ausser Acht gelassen, dass hier etliche wirklich hervorragende Songs zusammenkamen, dass dass das Album mit einer Stunde nicht einmal zu lang war. Dropped ist ein enorm heavy Grunge Album, näher an Doom und Metal, als Soundgarden oder Alice in Chains, und der Verdacht, dass dumme Imitatoren am Werk waren, war unfair. Das waren gestandene Musiker, deren Musik technisch virtuos war – und das kann man heute gewiss unvoreingommener genießen. Der Opener “Goddess” walzt gewaltig los, ein Song wie “Zootiehaed” ist nicht wirklich mit anderen Bands zu vergleichen. Der massive Bass, die gequälten Gitarren, das machten nicht viele so – höchstens die Stoner Kyuss klangen vergleichbar, waren aber keine so guten Songwriter und weiter vom Grunge entfernt. Dass MindFunk bei einem Metal-Label waren, passte perfekt. Und die 8 ½ Minuten von “Hollow” sind toller Doom-Grunge. MindFunk machten ein weiteres gutes Album, dann gingen sie auseinander und die Musiker wanderten ab zu Ministry, Old und Triptykon.

Paw
Dragline

(A&M, 1993)

Auch so eine Band, der zum eigenen Schaden der Button “Next Nirvana” angeheftet wurde. Paw kamen aus einem Nest in Kansas, waren 1990 entstanden und hatten die Aufmerksamkeit einiger A&R-Geier erweckt, was zu einer Art Wettbieten um den Plattenvertrag führte. Sänger Mark Hennessy nannte die Musik, die er mit seinen Freunden Grant (g) und Peter Finch (dr) und dem Bassisten Charles Bryan machte ganz ehrlich “Southern Rock”. Nicht falsch: Paw kannten Sounthern Rock, kannten Lynyrd Skynyrd, aber eindeutig auch Black Sabbath und Black Flag. Man höre nur das tolle “Jessie”, das die Härte von Hardcore und Metal mit glühenden Steel Gitarren verbindet. Hennessy’s sehr krafvolle Stimme, dazu die Art, in der diese Band durch die Tracks donnert – das ist eigentlich purer Hardrock. Dazu haben sie süffige Melodien – auch der Begriff Southern Rock war richtig.. Ich würde Dragline spaßeshalber als eine Art Southern Grunge bezeichnen. Auch Paw wurde der Hype angelastet, dazu kam noch ihr bärbeißiger Sänger, der ein bisschen im Gegensatz zu den Slackern und Disfunktionalen bei anderen Grunge Bands stand. Und wenn Songs Titel haben wie „Lolita“ oder „One More Bottle“, dann mag das so manchen Indie-Hörer davon abgehalten haben, sich dieser Band zuzuwenden. Dragline war vielen einfach ein bisschen zu ölverschmiert, zu erdig, ländlich und schmutzig. Und so entging zu vielen Indie-Kids eine Band, die einige tolle Songs mit Wucht gemacht haben. Immerhin gab es ’95 ein weiteres gutes Album und 2000 sogar noch einen Nachschlag. Aber da waren Paw nur noch eine lokale Attraktion.

Acetone
Cindy

(Hut, 1993)

Ein kleiner Schritt raus aus „Grunge like Seattle…?“ Acetone kamen aus LA, und was sie im Laufe ihres Bestandes gemacht haben, hat mit „Grunge“ eigentlich auch nicht viel zu tun. Oder sagen wir mal – …hat mit Grunge soviel zu tun, wie Neil Young & Crazy Horse auf deren ’91er Album Ragged Glory.(lies im Kapitel 1991… Ein Jahr voller Grunge) Heisst: Wer jenes Album mochte und gerne Nirvana und Pearl Jam konsumierte, dem sollte Acetone’s Debüt Cindy aber sowas von gefallen haben…. wenn er es bemerkt hat. Dass Acetone hiernach den Country-Anteil erhöhten und zu einer MACHT im Slowcore wurden, will erwähnt sein. Und daher – Cindy hat wirklich Country-Sentiment. Zumal, wenn das Trio langsam losschaukelt, wie beim betäubten Opener „Come On“. Da klingen sie aber auch ein bisschen nach Velvet Underrground. Dafür aber legen sie bei „Sundown“ los wie Crazy Horse, sind aber hörbar 25 Jahre jünger als die Veteranen. Der Garagen-Rock Flair und die melodischen „uuuuh’s“, die Marsch-Trommeln, das zerfetzte Gitarren-Solo…. DAS kann man auch in die Grunge-Schublade legen. Oder „Sundown“: Das ist die Acetone-Version von Isaac Hayes‘ Version von „Walk on By“, gefiltert durch die Mudhoney-Brille. Man kann erkennen, dass Acetone noch ihren Stil suchten, noch ihre Plattensammlung durchspielten. Die mochten offenbar The Velvet Underground, Black Sabbath, Neil Young und die Beach Boys. Und Cindy ist die Konsequenz daraus. Das schöne 7+-minütige „Louise“ ist ein wunderbar simpler, bekiffter Ride entlang der pazifischen Westküste Und „Don’t Cry“ ist Neil Young pur. DAS ist dann nicht Grunge. Höchstens Alternative Rock… und der ist Grunge. Dass ihre folgenden Alben immer meisterlicher wurde, dass ihr Bassist, Sänger und Hauptsongwriter zugleich in Depressionen versank und sich 2001 umbrachte ist eine andere Geschichte, die in anderen Kapiteln erzählt werden muss. Hört das Meisterwerk Acetone von 1997…

Sister Double Happiness
Uncut

(Sub Pop, 1993)

Zuletzt noch eine Band, die zwar als Grunge-Act bezeichnet wird, die aber eigentlich nicht neben Bands wie Nudeswirl oder Pearl Jam passt… weil sie aus san Francisco kam, weil sie einen sehr tief im Blues verwurzelten Sound und Sänger hatte. Gary Floyd’s Stimme und Intonation hätte jeder Bluesrock Band der End-Sechziger gut gestanden . Dazu Ben Cohen’s heulende Slide… Dass Sister Double Happiness aus den Hardcore-Punk-Bands Pop.O.Pies und Dicks hervorgegangen waren, war auf ihrem dritten Album Uncut kaum noch herauszuhören. Nun – wer hier mitgelesen hat, dürfte erkannt haben, dass „Grunge“ nur ein Wort war. Dass das Seattle-Label Sub Pop einen viel weiteren Horizont hatte, als die Musikpresse und ein davon verdummtes Publikum erkennen konnte. Also ist Uncut tatsächlich ein Bluesrock-Album. Von Musikern, die Punk durchaus noch in ihrem Blut haben. Wodurch etliche Songs eine Wucht haben, die für Blues in den 90ern regelrecht ungebührlich scheint. Wer dieses Album damals gehört haben mag – zumal auf dem Label und mit dem Wissen um die Hardcore-Punk Vergangenheit der Bandmitglieder – dürfte überrascht und vielleicht auch enttäuscht gewesen sein. Gary Floyd war zu Dicks-Zeiten wegen seiner offen zur Schau gestellten Homosexualität und seinen offensiven Ansagen gegenüber dem Macho-Publikum der Hardcore-Szene legendär gewesen. Das hatte einst die Tatsache überblendet, dass er ein hervorragender Blues-Shouter war. Hier wurde der Faktor betont. Dazu hatten SDH noch einige gute Blues-Tunes: „Doesn’t Make Sense“ oder das rasante „Ashes“ sind virtuos und voller Leidenschaft gespielter… Bluesrock. Grunge? Also wenn ich Grunge mit Blues vermische, mag dabei Uncut herauskommen. Oder auch nicht. Uncut hatte ’93 Käufer und Hörer, die sich für Grunge interessierten. Aber nur, wenn die über den Alternative Rock Rand geblickt haben, hat ihnen diese Band gefallen. Der Erfolg hielt sich in Grenzen. Stattdessen hörten viele Indie-Kids lieber Fake-Grunge von Bands wie Candlebox. Da wäre Uncut weit besser gewesen…

Und zuletzt der Hinweis…

Die Ära des Grunge endet nicht hier und jetzt. Auch ’94, ’95, ’96, ’97… erscheinen noch etliche fantastische Alben, die den Genre-Tag „Grunge“ aufgedrückt bekommen können. Dass die Musik, die so genannt wird, sehr heterogen ist, habe ich deutlich gemacht. Viele Bands und Acts machen auch nach ’93 weiter, Mudhoney, Pearl Jam, Alice in Chains, Soundgarden, die Screaming Trees oder die Smashing Pumpkins haben ’93 ihr Pulver noch nicht verschossen, sondern laden gerade ihre Flinten. Das „Ende des Golden Age of Grunge“ postuliere ich in diesem Kapitel eher wegen der Kommerzialisierung dieser Art von Musik durch Bands wie Candlebox, Staind oder gar Nickelback. Das sind Acts, die sich insbesondere an den Rock und an die Stimme von Pearl Jam bzw. Eddie Vedder ankoppeln (lassen) und Grunge light damit gut verkaufen und so eine Art der Alternativen Rockmusik banalisieren, die das eigentlich nicht verdient hat. Dass die Wurzeln dessen, was man bis heute als „Grunge“ verachtet, in ehernhaften, revolutionären Bands wie den Stooges und Black Sabbath stecken, sollte man immer beachten. Dass Neil Young zu seinen besten Zeiten und Hardcore-Könige wie Black Flag, Hüsker Dü und die Minutemen als Väter des Grunge gelten, kann man bei all den Alben in diesem Kapitel erkennen. Und dass diese Einflüsse den Alternative Rock bis weit in die 00er prägen, hört jeder, der die Ohren öffnet. Da kommt noch einiges, was man auch „Grunge“ nennen könnte. Und der ist eine tolle Spielart der Populärmusik.