Das Wichtigste aus 2006 – Religiöse Konflikte, Wetter-Extreme und Saddam’s Ende – Joanna Newsom bis Natural Snow Buildings

Im Iran und Irak, in Israel, im ganzen Nahen Osten ist die politische und gesellschaftlich/religiöse Situation enorm angespannt. 2006 ist das Jahr, in dem jeder gegen jeden irgendeinen Kampf ausficht, das Jahr, in dem die meisten Journalisten in Ausübung ihres Berufes umkommen und ein weiteres Jahr in dem Hunderte durch politisch und religiös motivierte Selbstmordattentate sterben müssen und in dem in der westlichen Welt diverse Attentatsversuche vereitelt werden.

Derweil ziehen sich immer mehr Länder aus dem Irak-Krieg zurück. Die Akzeptanz für diesen Krieg sinkt und sinkt. Am Ende des Jahres wird Saddam Hussein, der ehemalige Staatschef des Irak hingerichtet. Die Stimmung zwischen konservativen Moslems und weniger religiösen Menschen wird weltweit immer schlechter, insbesondere Mohammed-Karikaturen in europäischen Zeitungen führen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die klimatischen Verhältnisse werden weltweit merklich immer schlechter – es kommt zu Extrem-Wetter Katastrophen durch Stürme und Schneeschmelzen, zum Elbe-Hochwasser in Deutschland, zum Hitze-Notstand in New York – eine Entwicklung, die sich schon seit Jahren fortsetzt. Sogar ein paar Politiker werden unruhig. In diesem Jahr sterben der legendäre Ex-Pink Floyd Musiker Syd Barrett und Arthur Lee (von Love). Musikalische Highlights gibt es auch in diesem Jahr in allen möglichen Genres: Ob Folk, Post Punk, elektronische Musik, Metal, Post Rock, Screamo, klassische Singer/Songwriter…. Da sind die Alben von Joanna Newsom, Brand New, Burial, da ist der enorm erfolgreiche Retro-Soul von Amy Winehouse, das Debüt der durch das Web bekannt gewordenen Arctic Monkeys etc. Aber wirklich innovativ ist mal wieder kaum jemand. Gute Musik zuhauf, persönliche Favoriten sind die Alben von Rachel Unthank und ihrer Folk-Familie, von Joanna Newsom und Corrina Repp. Folk von Frauen in verschiedenen Varianten… und ein stundenlanges Folk/Drone Monster von den obskuren aber majestätischen Natural Snow Buildings. Tatsächlich gefallen mir aus ’06 viele sehr „noisige“ Alben… siehe Liars, siehe The Goslings. Und welche Musik gefällt mir nicht? Ich mag die Scissor Sisters nicht, deren „I Don’t Feel Like Dancin’“ aber auch irgendwie gut ist, ich kann nichts mit Rihanna oder Nelly Furtado anfangen, deren Musik mir einfach ZU geplant ist – genau wie Justin Timberlake, den toll zu finden irgendwie hip zu sein scheint. Und ganz langweilig, aber enorm reich sind Hit-Lieferanten wie James Blunt, der singenden Soldat mit Quäkstimme, oder die Teenie-Popper Tokio Hotel. Also – Nichts davon, dafür lieber….

Doofe 2006er Playlist: Joanna Newsom, The Goslings und Natural Snow Buildings kann man allesamt nicht bei Spotify finden. Diese also anderswo suchen oder auf den Link klicken

Joanna Newsom
Ys

(Drag City, 2006)

Das mittelalterliche Portrait ist von Benjamin A. Vierling

Als Ys 2006 herauskam, wurde es sofort und einhellig als DAS Ereignis des Jahres gefeiert. Joanna Newsom hatte schon zwei Jahre zuvor mit The Milk-Eyed Mender ein ungewöhnliches und auch ungewöhnlich schönes Album gemacht, eines, das sicher – insbesondere wegen ihrer Stimme – polarisierte, dessen schiere Musikalität aber selbst der größte Verächter ihrer gewöhnungsbedürftigen Stimme nicht verleugnen konnten. Dass sie aus einer Hippie-Famile stammte, dass sie Harfe spielte und eine durchaus elfenhafte Schönheit besaß – all das trug natürlich dazu bei, dass man neugierig war, was als nächstes kommen würde. Und dann hatte auch noch der weise alte Van Dyke Parks seine Hände beim neuen Album im Spiel, ebenso wie die Indie Koryphäen Steve Albini und Jim O’Rourke – und Bill Callahan (Smog) war dabei, der Leonard Cohen der Internet-Generation! Ys musste zwingend gut und vor allem ungewöhnlich werden. Es ist für sich alleine gesehen schon keine geringe Leistung, dass diese Erwartungen erfüllt wurden. „Ys“ ist der Name einer Stadt in der Bretagne, deren Reichtum so legendär war wie die Schönheit ihrer Königstochter, und die dann vom Ozean verschlungen wurde – und unter solch bedeutsamen Mythen macht Joanna Newsom es auch nicht. Aber die Texte behandeln nicht einfach nur Märchenhaftes, sie schicken den Hörer natürlich in Phantasiewelten, kehren dann aber erfreulicherweise doch immer wieder auf die Erde zurück, lassen Spielraum für Imagination und Interpretation (was man ihnen auch vorwerfen mag…) und sind vielleicht auch einfach nur vokaler Hintergrund, der sich einem klaren Konzept unterwerfen soll. Das Album ist ein Gesamtkunstwerk, das durch seine Individualität besticht. Und wer sich auf den Reiz der Stimme von Joanna Newsom und ihr klassisches Harfenspiel einlässt, das so delikat von Van Dyke Parks Orchestrierungen untermalt wird, der kann die Klasse von Ys nicht mehr leugnen. Natürlich ist die musikalische Ausführung superb, Alles wird bis ins Detail ausgeschmückt – das Cover des Albums ist nicht nur in dieser Hinsicht bezeichnend – „Only Skin“ mit seine fast 17 Minuten Dauer mag manchem zuviel sein, das ganze Album ist sehr barock, mit seinen Varianten und Veränderungen in der Textur, mit seinen ruhigen und dann wieder voluminösen Passagen, das Songwriting ist versponnen – aber wer hätte unter solchen Voraussetzungen etwas anderes erwartet ? Der 12- minütige Eröffnungstrack „Emily“ mit dem fast erschreckend abrupten Vocal-Einsatz ihrer Stimme und mit Texten, die zwischen Fantasiebildern und Konkretem wechseln ist bezeichnend für das ganze Album: „That the meteorite is a source of the light, and the meteor’s just what we see… You came and laid a cold compress upon the mess I’m in. Threw the windows wide and cried, ‚Amen, Amen, Amen…'“ Tatsache ist, es ist eines diese unerklärlichen Alben in der Tradition etwa von Van Morrison’s Astral Weeks oder Robert Wyatts Rock Bottom – Ausdruck purer Individualität und nur in seiner Ganzheit verständlich. Kein Wunder, dass es in fast allen Publikationen abgefeiert wurde. Es ist ein Meisterwerk im klassischen Sinne.

https://joannanewsom.bandcamp.com/album/ys

Amy Winehouse
Back To Black

(Island, 2006)

Ob Musik einen künstlerischen Anspruch erfüllen kann, und zugleich kommerziell extrem erfolgreich sein kann ? Es gibt etliche Beispiele dafür, und mich hat solch ein Erfolg dann immer eher gefreut, als Zweifel an so etwas diffusem wie „Glaubwürdigkeit zu erwecken. In den 00er Jahren war dieses Album der Soul-Sängerin Amy Winehouse eines dieser Exemplare. Back to Black ist einerseits natürlich völlig altmodisch – mit einem Vintage-Sound, mit einer Soul-Stimme, die sich an Vorbilder aus den 60ern und an altem Reggae/Ska und dem Sound der Girl-Groups der Mitt-Sechziger orientiert und die Hochleistungs-R&B-Sängerinnen der Zwischenzeit – der 80er und 90er komplett ignoriert, mit Songs, die so sehr nach altem Soul/R&B oder Ska/Reggae klingen, dass man vermuten möchte, sie entstammen den Federn der altvorderen Songwriter – das allein könnte man ja schon als Kunststück bezeichnen – zumal die Vermischung der Einflüsse so mühelos gelingt und in solch hitparadentauglicher Form aus-geführt wird, dass gar nicht auffällt, dass hier disparate Elemente in eine ganz neue Form gegossen werden. Das funktioniert natürlich vor Allem, weil Amy Winehouse’s Stimme mit einer unglaublichen Mühelosigkeit alle erforderlichen Emotionen aufruft, ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Die Hitsingle „Rehab“ war wirklich nicht erst im Nachhinein nachvollziehbar, die Frau, die sich bei „Love Is a Loosing Game“ selber aufgibt, konnte man sich auch vor Bekanntwerden von Amy’s katastrophaler Beziehung zu ihrem zeitweisen Ehemann/ Drogenlieferanten vorstellen. Und die Stärke und Coolness, die sie bei „Tears Dry on Their Own“ hätte man ihr erst im Nachhinein gewünscht – 2006 dachte man noch, da wäre alles vorhanden. Back to Black ist ein Album voller fantastischer Songs, meinetwegen postmodern -aber geschmackvoll, stylish, voller Versprechen auf Mehr davon und der jahrelange Niedergang der so entsetzlich öffentlichen Person Amy Winehouse ändert nicht das Geringste an seiner Qualität. Sie starb letztlich zu Niemandes Überraschung im Jahr 2011, ohne diese Versprechen einlösen zu können. Um zu erkennen wie traurig das ist muss man nur noch einmal zuhören… und noch einmal… und noch einmal…

Arctic Monkeys
Whatever Poeple Say I Am, Thats What I’m Not

(Domino, 2006)

Cover-Foto – Alexandra Wolkovicz

Bei Acts wie den Arctic Monkeys fällt es schwer anzuerkennen, dass sie ihren Erfolg wirklich verdienten haben, dass sie kein bloßer Hype waren. Sie waren eine der ersten Bands, die ihre Fanbase und den darauf folgenden Plattenvertrag via Internetpräsenz/Downloads erhielten. Daß sie dann auch ausserhalb der Internet-Community erfolgreich wurden, nahmen ihnen viele Fans aus Underground-Tagen übel. Und Leute, die sich eines besonders exquisiten Geschmacks rühmen, konnten den kommerziellen Erfolg dieser Band nicht wirklich gutheißen… hatten die Arctic Monkeys doch tatsächlich Mainstream-Erfolg. Und das mit Musik, die zu gleichen Teilen Strokes-Lässigkeit, die Wucht von The Jam mit deren Britishness – freilich versetzt in die 00er Jahre – miteinander verband. Das waren somit alles Teile, die eigentlich völlig unhip waren. Man bedenke: Die Strokes galten unter Geschmackswächtern inzwischen als Langweiler, ihr New York-Charme war uncoole Pose – und Bands wie The Jam oder The Clash waren Punk-Frühgeschichte. Die Möglichkeit, dass die Arctic Monkeys aus Überzeugung die Sprache verwendeten, in der ihre Geschichten vom „Spaß haben in einer Welt, die um sie zusammenbricht“ am besten zu verstehen waren, wurde bald zynisch verneint. Aber bei dieser Band war das Ziel nicht Innovation. Whatever Poeple Say I Am, Thats What I’m Not ist mit voller Absicht Garagen-Rock, nicht so rasant wie die Ramones, mit Geschichten über die eigene Generation, so dass diese ihnen gerne zuhörte. Und vor Allem – mit konzisen, dynamischen Song-Perlen wie „The View From the Afternoon“, mit Dance-Club Einflüssen bei „I Bet You Look Good on the Dancefloor“, mit catchy Melodien wie „When the Sun Goes Down“, erzählt mit dem unverstellten Northern Accent von Sänger Alex Turner. Die musik hat Stil und der Erfolg war verdient. Wer das nicht sieht oder anerkennt, der hat populäre Musik nicht verstanden – oder will sie nicht verstehen

Brand New
The Devil and God Are Raging Inside Me

(Interscope, 2006)

Cover-Foto – Nicholas Frior. Art Direction J. Noto

Achtung ! Jetzt kommt Emo – und das heißt, der Sänger jammert, er fühlt sich von Allen missverstanden, denkt an Selbstmord, trägt vermutlich meist schwarz und hat die Haare vor’m Gesicht – soviel zum Klischee, das sich vielleich erst einmal aufdrängt, wenn man The Devil and God... hört. Dazu ist die Musik auch noch wenig im Emotional Hardcore verwurzelt, die Vorbilder heißen eher R.E.M. oder Modest Mouse. Aber man beachte: Tiefe Emotionen waren immer Voraussetzung für großer Musik, dass es zu dieser Zeit – Mitte der 00er Jahre – eine Welle von Bands gab, die Indie-Rock mit desperaten Lyrics machten, die mit einem Image auftraten, das Elemente aus Gothic, New Romatic und vielleicht auch ein bisschen Hardcore verbanden – und dass dabei unter genau diesem Etikett Bands wie Fall Out Boy bei einem sehr jungen Publikum Erfolg hatten, hat dazu geführt, dass eine ganze Stilrichtung diskreditiert wurde. Aber vielleicht kann man mit einem gewissen zeitlichen Abstand einer Band wie Brand New nun mit offeneren Ohren zuhören. Sänger/ Gitarrist und Songwriter Jesse Lacey jedenfalls weiss genug über kluges Songwriting, über Dynamik und Spannungsbögen, um Songs zu schreiben, die zeitlos im besten Sinne des Wortes sind. Schon das vorherige Album Deja Entendu (2003) war beachtlich gewesen, The Devil… ist nahezu perfekt. Dass die Musiker zur Zeit der Aufnahmen vom Tod von Familienmitgliedern und Freunden regelrecht verfolgt wurden, dass Lacey eine Jugend in einem streng religiösen Elternhaus hinter sich hatte – all das spiegelt sich in den Texten wieder und mag Grund für diese simple Zuordnung sein. So behandelt „Limousine“ den Tod einer 7-jährigen aus der Heimatstadt Lacey’s, die bei einem Autounfall ums Leben kam. Lacey beschreibt den Unfall aus verschiedenen Perspektiven. Der Albumtitel bezieht sich auf den an einer bipolaren Störung leidenden Musiker Daniel Johnston, Der Titel des besten Songs des Album lautet „Jesus“, ein um eine simple Gitarrenfigur aufgebaute theatralische Tour De Force mit einem der besten Outro’s der Rock-Historie. Ja, Theatralik spielt in der Musik von Brand New eine tragende Rolle, das haben sie mit Bowie, Queen, Roxy Music und Metal gemeinsam. Es ist die perfekte Mischung aus tiefsten Emotionen (um das Wort nochmal zu benutzen) und durchdachten Songs und es ist letztlich kaum verwunderlich, dass The Devil… auch zu dieser Zeit – trotz stilistischer Uncoolness – von etlichen Independent- Medien abgefeiert wurde. Dass die Band wenig Erfolg hatte, liegt an ihrer Weigerung, bei den üblichen Publicity-Ritualen (Video’s. Interviews etc) mitzumachen. Wer wirklich wissen will, wie Emo in Gut klingt, sollte hier zuhören, und wer Emo nicht mag: The Devil and God Are Raging Inside Me IST eigentlich gar kein „Emo“, sondern Hardcore und noch viel mehr.

Liars
Drum’s Not Dead

(Mute, 2006)

Die Liars: Ein Avantgarde-Trio aus L.A. das mit seinem Debüt scheinbar auf der Post-Post-Punk Welle der frühen 00er Jahre mitschwamm, den Part von Gang of Four übernahm, aber beim zweiten Album einen seltsamen Schritt Richtung tribalistischer Hexen-Mythen machte und nun nach Berlin ging, um in den alten Ost-Berliner Planet Roc Studios ihr drittes Album Drum’s Not Dead aufzunehmen. Auch dieses Album hat ein Konzept, das mir aber etwas rätselhaft geblieben ist. Laut Wikipedia sind „Drum“ und „Mount Heart Attack“ zwei fiktionale Charaktere die sich wie Yin und Yang gegenüberstehen, Drum ist die Kreativität, Mount Heart Attack die Destruktion… irgendwie ist es egal, denn die Musik die dabei entsteht – zugleich elektronisch, symphonisch und von bis ins Mark gehenden Rhythmen angetrieben – entschädigt für nicht (be)greifbaren Hintergrund. Bei den Aufnahmen im ehemaligen Ost-Studio wurden die verschiedenen Räume und ihre jeweilige spezielle Akustik genutzt, um eine differenzierte Atmosphäre zu verschaffen, die Songs sind extrem rhythmisch – der Rhythmus – „Drum“ gem. Konzept – ist das prägende Element. Dazu kommen verzerrte Gitarren, Angus Andrews unirdischer Falsett-Gesang, Drones und immer wieder tribalistische Ausbrüche – alles Elemente, die man natürlich mal hier, mal dort gehört haben mag, die aber hier so zusammengesetzt sind, dass sie ein völlig neues, unterschwellig bedrohliches Ganzes bilden. Der Opener „Be Quiet, Mr. Heart Attack“ wird von vielen als bester Song der Liars bezeichnet, für mich steht das komplette Album in einem Stück wie ein großer Felsklotz als Manifest in der musikalischen Landschaft. Wenn ich es beschreiben muss, kommen immer Vergleiche zum Einsatz: Radiohead ohne Prätention, Sonic Youth im neuen Jahrtausend, Gang of Four aus dem Urwald… und all das beschreibt es nicht. Man höre einfach den Drone bei „Hold You, Drum“, man beachte, wie perfekt der Closer „The Other Side of Mr. Heart Attack“ klingt…Es ist ein schwieriges, aber ein lohnendes Album. Lustig, dass das vorherige Album der Liars – They Were Wrong, So We Drowned – 2004 verrissen wurde – nach diesem Meisterwerk aber verstanden wurde.

Burial
s/t

(Hyperdub, 2006)

Was „elektronische Musik“ inzwischen leistet? Sie kann inzwischen die gleichen emotionalen Extreme anrühren, die früher anscheinend nur mit Hilfe von Stimme und Gitarre erreicht wurden. Dabei haben Dubstep oder dessen Weiterentwicklung Future Garage ihre Wurzeln im Techno, in Musik mithin, die ausdrücklich Emotionen aussparen will. Und Burial (das Alias, hinter dem sich der Brite William Emmanuel Bevan verbirgt) hat auch noch – entgegen dem oft angenommenen Prinzip der meisten elektronischen Musik – (s)einen völlig eigenen Stil – ob soundmäßig, oder ob bezüglich seiner Corporate Identity incl. sich gleichenden Sleeves etlicher formidabler EP’s. Das erste „Album“ – nach einer wundervollen EP titels South London Boroughs aus 2005 – ist der düstere Soundtrack zu einer Fahrt durch die kalten Industrie-Vororte und die Slums einer dystopischen London. Vocals werden nur noch als kurze Cut-Up Samples eingesetzt, Sirenen, Regentropfen, dazu bass-schwere, gedubbte Sounds, die sich in den Magen graben. Darüber gehetzte Rhythmen, Melodie-Fragmente, die dem Album gerade soviel beunruhigende Zugänglichkeit verleihen, dass man nicht verzweifelt, Wie ein einzelner Mensch so viele Ideen, so viele Sounds zu einem kohärenten Ganzen verbinden kann, ohne einmal den Faden zu verlieren, bleibt mir ein Rätsel. Bevan/Burial muss wohl ein Genie sein. Und es gibt auch echte Schönheit – „Forgive“ zum Beispiel ist fast schmerzhaft schön – erinnert in seinem Minimalismus an Eno und besten TripHop zugleich. Burial ist zweifellos ein Meilenstein, der aber nur erster (bzw. zweiter) Schritt auf einem langen Weg – siehe Untrue im folgenden Jahr etc pp… Kein Wunder, dass das schlaue Wire Magazin dieses Album als bestes 2006 auswählte.

The Knife
Silent Shout

(Rabid/V2, 2006)

The Knife direkt nach Burial – das ist mitnichten zu viel elektronische Musik. Zum Einen basiert im neuen Jahrtausend ein großer Teil der interessanten Musik auf elektronisch erzeugten Klängen – was zum Zweiten darauf hinweist, wie breit das Spektrum dieser Klänge ist. Die schwedischen Geschwister Karin Dreijer Andersson und Olof Dreijer machten schon seit 1999 zusammen Musik – Synth-Pop, wenn man es so einfach bezeichnen will. So lange mithin, dass sie 2006 schon aus einem reichen Fundus aus selbst entwickelten Sounds schöpfen können – einen eigenen Stil entwickelt haben, der – siehe Burial – auf seltsame Weise hoch emotionale und zugleich kalte Musik entstehen lässt. Sie sind Herren ihres eigenen Labels – Rabid – haben eine gewisse Reputation, die sich mit Silent Shout massiv vergrößert und sie können „Songs“ schreiben: Da ist zum Beispiel „Like a Pen“ – eine 80er Synth-Pop Ode ins neue Jahrtausend gebeamt, da ist das hüpfende Titelstück, modernistisch und zeitlos zugleich, da ist „We Share Our Mothers Health“, klinisch und lebendig, und das sind nur drei Singles. Da sind Album-Tracks wie das seltsam beruhigende „From Off to On“ in all seiner minimalistischen Schönheit oder „Forest Families“ mit perfektem Vocals von Karin Dreijer – ein Vorgriff auf ihr Fever Ray Album. The Knife machen Pop-Musik, sie versuchen nicht gewollt intellektuell zu klingen, Silent Shout ist nicht bewusst Avantgarde – aber weil das Album so ungewöhnlich klingt, ist es natürlich zugleich in hohem Maße avantgardistisch – obwohl die Sounds sich durchaus an Synth Pop aus den 80ern anlehnen. Und genau so nehmen sie die Musik des kommenden Jahrzehnts vorweg. Kein Wunder also, dass Silent Shout von allen Wissenden abgefeiert wurde.

J Dilla
Donuts

(Stones Throw, 2006)

J Dilla, Jay Dee, James Yancey, in seiner kurzen Karriere arbeitete dieser Produzent unter verschiedenen Namen, den Moniker Jay Dee änderte er zuletzt in J Dilla um, um Verwechslungen auszuschließen. Egal, er war jedenfalls einer der einflussreichsten HipHop Produzenten, die Liste seiner „Klienten“ liest sich wie ein Who’s Who des Soul/HipHop: Erykah Badu, Roots, D’Angelo, Common, Pharcyde, DeLa Soul, A Tribe Called Quest, Madlib etc pp…und er war vor Allem Innovator. Donuts nahm der vier Jahre zuvor mit dem Moschcowitz-Syndrom – einer seltenen Bluterkrankung – diagnostizierte J Dilla hauptsächlich im Krankenhaus mit einem Boss SP 303 Sampler und einem kleinen Plattenspieler auf. Es ist ein Instrumental-Album mit 31 Stücken, die eine beeindruckende Show seiner Fähigkeiten darstellt, die aus den diversesten Sounds und Tonschnipseln etwas komplett Eigenes und vor Allem Neues zusammensetzt. Es gibt Samples von Old School R&B, Soul, Zappa, Kool & the Gang, Supremes, Temptations etc, und er lässt diese Samples sich überlagern, verfremdet sie, verlangsamt, legt Beats darüber, erschafft wie ein Free- Jazz Musiker Schichten aus Sounds und macht dadurch etwas komplett unerhörtes. Das Album ist wegen seiner Dichte an Ideen anstrengend, es ist tatsächlich so, als würde man einem extrem talentierten DJ dabei zuhören, wie er die von ihm geliebte Musik auf einem einzigen Album zusammenfasst. Und vielleicht ist Donuts ja auch genau das. Dass er 31 Tracks von maximal 90 Sekunden Laufzeit zusammenstellte, und dass er selber gerade mal 31 Jahre alt wurde, dürfte seinen Grund haben.Ihm war jedenfalls klar, dass er sterben würde und drei Tage nach dem Release des Albums starb Yancey tatsächlich, Donuts wurde zum Vermächtnis, das von etlichen Künstlern zitiert – und auch benutzt – wurde. Das wiederum war gewiss auch in seinem Sinne.

Scott Walker
The Drift

(4AD, 2006)

Man könnte ja meinen, Künstler wie Scott Walker veröffentlichen nicht in regelmäßig Platten – sie „äußern“ sich in Abständen. Walker hatte seit dem letzten Album – Tilt – elf Jahre vergehen lassen, machte nun mit The Drift in dreißig Jahren gerade mal sein drittes Album, aber man konnte dankbar sein, dass er überhaupt noch etwas sagte… bzw. eine Plattenfirma ihm die möglicheit gab, sich zu äußern. Er hatte sich seit dem ’84er Album Climate of Hunter vom kommerziellen Pop-Musikbetrieb verabschiedet, und es war klar, und dass es bei seiner Vorstellung von Musik schwierig sein würde, eine veröffentlichungswillige Plattenfirma zu finden. Aber immerhin hatten in den letzten Jahren bekanntere Künstler seinen Namen hier und da gedropt… aber Walker machte es weiterhin niemandem leicht. Wer will, kann The Drift durchaus auch der Kategorie „Kunstkacke“ zurechnen. Auf jeden Fall ist es harter Stoff – es geht um politische Verbrechen in Europa und den USA, da wird bei „Clara“ die Hinrichtung des nationalsozialistischen Diktators Mussolini und seiner Geliebten Clara Petacci behandelt und dazu ein Stück Schweinefleisch mit dem Baseballschläger bearbeitet, da erklingen String-Arrangements, die an Angelo Badalamenti und David Lynch erinnern und Gitarren klingen – wenn eingesetzt – nach Sludge und Swans. Drift ist definitiv keine Rockmusik, das Instrumentarium wird im Sinne Neuer Musik oder meinetwegen der Avantgarde eingesetzt… „Jesse“ zitiert Elvis‘ „Jailhouse Rock“´, aber Walker beschreibt den Song als seinen Kommentar zu 9/11 und benutzt dabei das Motiv des totgeborenen Zwillingsbruders der amerikanischen Ikone. Und dann ist da „Cue“ die epische, 10-minütige Studie über eine sich ausbreitende Pandemie, mit dem Klang von Holzkisten, aus denen etwas ausbrechen will, mit kreischenden Violinen und unmenschlichen Stimmen – ein Song wie der Abstieg in Dantes‘ Hölle – und seit 2019 von erschreckender Bedeutung. Ja, The Drift ist nicht düster, es ist vielmehr unheimlich – und ein bisschen prätentiös, aber das ist gewollt und genau so auch richtig. Walker’s Bariton erinnert kaum noch an die Zeiten mit den Walker Brothers oder an seinen gloriosen und existenzialistischen Pop-Alben Scott 1 bis 4 der Jahre vor 1970 – aber zugleich kreist die Musik um diese Stimme – man höre nur den mit akustischen Gitarren versehenen Closer „A Lover Loves“, der sogar ein gewisses Maß an Humor verrät, wenn zwischen den Verses ein sanftes „pssst, pssst, pssst“ erklingt. Walker ist einer der Musiker, die nur die Musik machen, die sie wollen, und die bei dem was sie tun nur nach sich selbst klingen. Ulkigerweise erreichte das Album dank guter Kritiken und der Mithilfe des ehrenwerten 4AD Labels tatsächlich Rang 51 in den britischen Charts. Na also, es geht doch…

Wolves in the Throne Room
Diadem of 12 Stars

(Vendlus, 2006)

Spätestens ab diesem Album gab es im Black Metal die Option, etwas Anderes zu machen als die barbarischen Black Metal Acts Skandinaviens oder gar die dumpfem NSBM Bands der USA. Wolves in the Throne Room waren drei Musiker, die ohne „Corpse Paint“ und die sonst im BM üblichen Pseudonyme a la „Necroslaughterer“ o. dgl. auskamen. Nathan und Aaron Weaver und Rick Dahlin sagen selber, sie spielen Black Metal, der die Energie der Landschaft ihrer Heimat -der Pazifik-Küste des Nordwestens der USA widerspiegelt. Sie nannten als Einflüsse Old School Black Metal wie Burzum, Bands wie die Amerikaner Weakling und die Sludge-Hardcore Pioniere Neurosis, aber auch Folkmusik und Elektronik Pioniere wie die Krautrock Band Popol Vuh. Auf ihrem fantastischen Debüt Diadem of 12 Stars kann man sich trefflich auf die Suche nach all diesen Einflüssen machen – und manchmal wird man sogar fündig. Black Metal ist sicher ein hermetisches Genres, bei dem für den Nicht-Initiierten so ziemlich alles gleich klingt – Songs und Texte verschwinden hinter Wällen aus Noise, der Gesang wird herausgekreischt, die Geschwindigkeit ist so hoch, dass die Musik vorbeizurasen scheint, und all das prägt auch Diadem of 12 Stars – aber den drei Musikern gelingt es auf vier überlangen Stücken dennoch, erstaunlich differenziert zu klingen. Schon der Opener „Queen of the Borrowed Light“ hat nicht nur ein paar famose Riffs, es gibt auch überraschende Tempowechsel, irgendwo im Mix erklingen gar klare Stimmen, zugleich bläst der Song die Ohren frei. „Face in a Night Time Mirror (Part 1)“ wird von einer klaren und wunderbar unkitschigen Folk Passage unterbrochen, gesungen – nicht gekreischt – von Jamie Myers von der Progressive-Metal Band Hammers of Misfortune (man beachte deren diesjähriges Album The Locust Years), es gibt Passagen, die an Post-Rock erinnern, bei denen es der Band gelingt, nicht in allzu formalistische Posen zu verfallen. Die Basis ist und bleibt eindeutig Black Metal mit rasantem Tremolo Picking und höllischem Tempo. Irgendwie schafft es der Band, unterschiedlichste Einflüsse organisch und glaubwürdig in ihren Black Metal einzufügen, dabei nicht den Faden zu verlieren und diese Einflüsse ihrer kompromisslosen Musik unterzuordnen – wodurch die vier Stücke regelrecht abwechslungsreich werden. Das finale, über 20-minütige Titelstück mit Neurosis-artigem Beginn und völlig ausgerastetem Ende ist dann Katharsis und Höhepunkt. Durch all das ist Diadem of 12 Stars eines der Alben, die Black Metal vom Stigma des Brutal/Hermetischen befreit. Noch im selben Jahr kamen die Wolves beim Qualitäts-Label Southern Lord unter.

The Goslings
Grandeur of Hair

(Archive, 2006)

Oh du unglaublicher, wunderbarer Lärm: Die Goslings aus Florida (immerhin die Heimat wohlhabender US-Rentner und des Death Metal) haben ’77 Live von den japanischen Noise-Terroristen Les Rallizes Dénudés, Loveless von My Bloody Valentine (zu Beiden siehe Hauptartikel ’91), und Earth 2: Special Low Frequency Version (siehe Hauptartikel ’92) in einen gusseisernen Topf geworfen, darauf einenTribal Drumming-Session veranstaltet und daraus eines der lautesten und „heaviesten“ Alben aller Zeiten gemacht. Vergesst meine metallischen 2006er Favoriten Wolves in the Throne Room. Die sind leise gegen dieses Monster. Sollte man unvermittelt in diesen Orkan geraten, dann denkt man, das ist purer Noise. Ein Effekt, den man auch beim Hören von Funeral Doom Bands wie Esoteric erlebt. Aber The Goslings – die Geschwister Max Soren (g) und Leslie Soren (voc) + Gäste an Drums und zusätzlicher Gitarre – halten, obwohl sie für Grandeur of Hair sogar den Noise Spezailisten James Plotkin als Produzenten hatten, ihre Tracks bewusst Lo-Fi. Dabei durchschießt diese Tracks eine eigenartige psychedelische Schönheit, die bei Tracks wie „Sanibel“ und dem 10-minütige „Overnight“ alle Vergleiche mit den oben genannten Alben obsolet machen. Dies ist, wie so oft in meinen Hauptartikeln „das anstrengende Album“. Auch wenn Scott Walker’s The Drift anspruchsvoller scheinen mag, eine solch konsequente Verweigerung aller gepflegten Schönheit gibt sonst nicht mehr. Und dennoch – oder gerade deswegen – ist Grandeur of Hair strahlend schön. Augen und Ohren mögen danach bluten, aber das passiert, wenn man auf der Sonnenoberfläche steht und den Stürmen lauscht. Dabei gibt es sogar ein sanftes Stück hier: „Windowpane“ ist ein chilliges Stück Solo-Gitarre, eine Art „Stille Nacht“, gebadet in Rückkopplungen. Dann geht es wieder in melodie-trunkenen Noise. Dies IST ein schwieriges Album, das Unvorbereitete schockieren wird. Aber es ist wunderschön, wenn man die Ästhetik erkannt hat.

https://www.youtube.com/watch?v=4vz-2nVlD1E

Natural Snow Buildings
The Dance of the Moon and the Sun

(Digitalis, 2006)

Und hier das nächste Album, das kaum einer kennen mag, das ich selber aber für überragend halte. Erstmal die Kurzfassung: The Dance of the Moon and the Sun ist eine massive, zweieinhalbstündig ausufernde Song-, Mantra- und Drone-Kollektion, die vom Transzendentalen bis zum Betäubenden reicht, ohne dabei an versponnener Pracht zu verlieren… Aber ich will es gerne besser erklären: Natural Snow Buildings sind die beiden Franzosen Mehdi Ameziane und Solange Gularte, die sich als Studenten in Paris in der Bibliothek kennenlernten, in diversen Bands zusammenspielten ehe sie dann zusammenzuleben und gemeinsam eine ganz seltsame Form der Musik zu kreieren begannen. So weit, so banal. Ihr x-tes Album The Dance of the Moon and the Sun ist natürlich – siehe oben – extrem lang: 25 Tracks, vier davon teils weit über 10 Minuten lang, und man bemerkt schnell, dass hier so gut wie Alles improvisiert ist, dass den Klängen hinterhergespielt wird, dass der Kosmos, aus dem Songs wie „ Rain Serenade“ oder „All Animals in the Form of Water“ ein schamanistischer sein muß. Zugleich haben die Beiden einen Hang zum Horror-Genre (Einer der Songs heißt „John Carpenter“), was bedeutet, dass definitiv nicht alles nur „Blümchen und Schmetterlinge“ ist. Trance und Raga rutschen in Albtraum und Verzerrung, schon das erste Stück „Carved Heart“ führt den Hörer auf eine lange Reise in einen mal folkig- schönen, mal elektronisch verzerrten Klangkosmos. Hand-Drums und Finger Cymbals geben ein Rhythmusgerüst vor, und unter Allem liegt ein Drone, der gerne mal bedrohlich anschwillt. Auf der ganzen Länge von The Dance of the Moon and the Sun gelingt es den beiden Musikern die Balance zu halten zwischen hinwegdriften und mal sanft, mal heftiger aufwachen. Das wird – wenn man sich traut zuzuhören – nicht langweilig, sondern immer spannender. Es gibt keine „Songs“ die man herausheben möchte. Der beste lange Song mag der erste sein: „Cut Joint Sinews and Divine Reincarnation“. Manche der kürzeren Songs wie „Away, My Ghosts“ oder „The Cursed Bell“ sind erholsame Ausflüge in die Folkmusik, klingen aber so, als kämen sie aus einem fernen Autoradio – oder aus einer Welt, aus der man sich gerade verabschiedet hat. Noch Eines, ehe du nach der CD suchst: NSB lassen alle Releases immer nur in skandalösen Mini-Stückzahlen veröffentlichen. Man kann ihre Alben (insbesondere Dieses) nur irgendwo halb-legal downloaden. BaDaBing Records hat ein paar ihrer Alben wiederveröffentlicht, dieses aber noch nicht. Bei Neugier empfehle ich eine intensive Suche oder Abwarten. Ich denke, es lohnt sich.

https://www.youtube.com/watch?v=MGlcxjKfU8A&t=914s

Diese Auswahl

Und noch einmal: Ob diese Auswahl der meiner Meinung nach wichtigsten/besten Alben „richtig“ ist, kann niemand sagen. Die Kriterien sind subjektiv, von Stimmungen und in ihrer Zeit gefangenen Einschätzungen bestimmt. Ob The Goslings oder die Natural Snow Buildings überhaupt von weiteren Kreisen wahrgenommen wurden, ist fraglich. Die in meinen Beschreibungen dargestellten Qualitäten sind so wahr, wie ich sie wahrnehme. Es sind dringende Vorschläge an Leser, sich mit dieser Musik zu beschäftigen. Aber vielleicht erweisen sich andere Alben aus 2006 in denn nächsten Jahren als „wichtiger“. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass Rachel Unthank & the Winterset – Cruel Sister wichtiger wird als Ys von Joanna Newsom. Dass Hell Hath No Fury von Clipse J Dilla’s Donuts in seiner Bedeutung überflügelt (hat), oder dass viele TV on the Radio’s Return to Cookie Mountain weit wichtiger finden, als das Debüt der Arctic Monkeys. Aber die Zeit wird’s weisen und im Übrigen – hört doch einfach auch die genannten Alben und erfreut euch an der Vielfalt der Musik des Jahres 2006…