Das Wichtigste aus 1995 – Massenmord in Srebrenica und Ende des Friedensprozesses in Israel – Smashing Pumpkins bis Ulver

In Europa werden die Grenzen zwischen den EU Mitgliedsstaaten geöffnet, Grenzkontrollen entfallen nun in der Regel, in Srebrenica kommt es zu einem der schrecklichsten Massaker an der Zivilbevölkerung im Bosnienkrieg. Serbische Truppen töten bis zu 8.000 Zivilisten, die niederländischen UN Blauhelme vor Ort schauen vor Angst erstarrt tatenlos zu.

Erst im Anschluß daran beginnt die NATO ernsthaft gegen die Verbrechen der serbischen Truppen vorzugehen. In Israel wird der Regierungschef und Friedens-Nobelpreisträger Yitzhak Rabin bei einer Friedenskundgebung von einem israelischen Rechtsextremisten erschossen. Mit dieser Tat wird der Friedensprozess zwischen Palästinensern und Israelis faktisch beendet. Man kann hier einen der entscheidenden Momente im Konflikt zwischen Islam und der westlichen Welt finden. Frankreich testet gegen internationale Proteste und jede Vernunft in der Südsee weiterhin Atomwaffen. Jerry Garcia, der Gitarrist von den Grateful Dead stirbt. 1995 ist das Jahr des Brit-Pop – nicht nur wegen Oasis vs Blur, auch weil Pulp und Supergrass definitive Alben veröffentlichen. Der alte Trend Grunge tritt nun endgültig ins zweite Glied, die Smashing Pumpkins machen noch ein finales Album, das man dieser Stilrichtung zuordnen mag. Elektronische Musik nimmt durch Künstler wie die Chemical Brothers oder etwa Björk gewaltigen Einfluss auf den Mainstream, die musikalischen Sparten und Szenen splitten sich immer weiter auf. Es ist ein Jahr der Vielfalt. Ob Black Metal, Hip Hop, Trip Hop, Alternative Rock oder Post Rock – in all diesen Genres findet man 1995 definitive Platten. Neil Young macht endlich ein Album mit Pearl Jam, seinen Kindern im Geiste, Bruce Springsteen macht sein John Steinbeck-Album, mit Alanis Morisette’s Debütalbum gibt es wieder neuen und modernisierten Befindlichkeits-Pop für junge Frauen und die Popmusik startet durch in die Zukunft – ins nächste Jahrtausend. Und natürlich gibt es einen Haufen prominenten Müll: Pop (Country) von Shania Twain oder Garth Brooks, Hochglanz-Plastik R&B von Janet und Michael Jackson, schlimmen Retro Schlock von Lenny Kravitz etc… aber das lassen wir unter den Tisch fallen.

The Smashing Pumpkins
Mellon Collie and the Infinite Sadness

(Hut, 1995)

Artwork – auch im Inlet – John Craig

Grunge lag in seinen letzten Zuckungen als Billy Corgan 1995 mit seinen Smashing Pumpkins kam und mit Mellon Collie… einen übergroßen Grabstein aufstellte. Wobei er sich gewiß nicht in eine Reihe neben Bands wie Pearl Jam oder Nirvana gesehen hat. Corgan’s Visionen gingen immer schon viel weiter, sein Größenwahn hatte weit mehr im Sinn als „nur“ Pop und Punk zu verbinden. Und mit dieser barocken 3-fach LP baute er aus allen Elementen seines selbst zusammengestellten Baukastens ein Monster zusammen. Ob 70ies Metal, beatelesker Pop oder Art Rock, seine Band/Projekt setzte seinen Ambitionen jedenfalls keine Grenzen und er sah in all seinen Einflüssen – die er auch nie verleugnete, mochten sie noch so „uncool“ sein – immer nur den Startpunkt für eigene Ideen. Und genau dadurch gelang es ihm, ein Album zu machen, dass so eindeutig nach den Smashing Pumpkins klang. Was auch bedeutet: Die Smashing Pumpkins klangen zunächst und vor Allem immer nach Billy Corgan. So legte der Egomane dort, wo er mit den Leistungen seiner Mitmusiker nicht zufrieden war, nachweislich selber Hand an. Die Einordnung neben den oben genannten Grunge-Bands jedenfalls ist also eher eine zeitliche als eine stilistische. Dass Corgan an seinem aufgeblasenen Konzept nicht scheiterte, dass Mellon Collie… tatsächlich mitnichten zu lang ist – wie man es bei zwei Stunden Spielzeit mit 28 Songs annehmen müsste – liegt am Ideenreichtum und an der Menge guter Songs. Es gibt sicherlich auch Momente, in denen man sich etwas weniger von Allem gewünscht hätte, aber das Album ist vom Cover bis zum letzten Ton deutlich und gewollt so barock. Es überwältigt mit Ideenreichtum, ist dank Corgans quakender Stimme, dank des speziellen Sounds der Pumpkins und dank Corgan’s Stil-Kenntnis und -Sicherheit aus einem Guß und enthält mit Perlen wie „1979“, dem explosiven „Zero“, „Bullet with Butterfly Wings“ oder „Galapagos“ direkt mehrere Songs für die Ewigkeit. Wie sehr der Egomane Corgan dann doch von seinen Mitstreitern abhängig war, würden die kommenden Jahre zeigen.

Tricky
Maxinquaye

(Island, 1995)

Cover – Rob Crane (?)

Das erste Solo-Album des Ex Massive Attack Kollaborateurs Tricky gilt zu Recht neben deren Blue Lines und Portishead’s Dummy als eines der einflußreichsten Trip-Hop Alben der Neunziger. Maxinquaye (nach Tricky’s Mutter benannt) verschiebt den warmen, elektronischen Soul von Blue Lines in eine düstere Welt und behandelt die destruktiven Seiten der Liebe mit harschen Sounds und Texturen. Freundin/Sängerin Martina Topley-Bird eröffnet das Album mit hypnotischer Phrasierung auf dem sexuell aufgeladenen „Overcome“ und bei „Suffocated Love“ röchelt Tricky glaubhaft „Now I could just kill a man“. Tricky’s geflüsterte Vocals bilden dabei einen perfekten Kontrast zum grundsätzlich in einem Take aufgenommenen Gesang von Topley-Bird. Tricky sampelte die Smashing Pumpkins (passenderweise bei „Pumpkin“ – mit Vocals von Alison Goldfrapp!), er sampelt bei „Hell is Round the Corner“ tatsächlich Portisheads „Glory Box“ – und machte daraus in der Tat einen vollkommen eigenständigen Song – ja sogar Hit. Er sampelt Schnipsel von Soundtracks wie Blade Runner und The Rapture. Und sollte es je Zweifel an der Verwandtschaft zwischen Hip Hop und Trip Hop gegeben haben, dann sind „Aftermath“ und „Brand New You’re Retro“ eindeutiger Beweis für ihre Verbindung. Dies sind Beats, von denen Dr Dre und Timbaland träumen sollten. Das Album ist unverdientermaßen in Vergessenheit geraten, wenn man das mit den Alben der Kollegen vergleicht – aber man kann es ja wiederentdecken.

Björk
Post

(One Little Indian, 1995)

Cover – von Björk’s Ex-Freund, dem Filmemacher Stéphane Sednaoui.

Wer die Schönheit von Eiskristallen erkennt, oder das Murmeln eines Gebirgsbaches mag, der sollte auch dieses Album zu schätzen wissen. Man sollte allerdings das Meiste, was man über populäre Musik weiß, erst einmal vergessen, wenn man sich Post zuwendet. Oder sagen wir mal so: Ein solches Wissen ist zwar kein Fehler, aber es ist hier nicht nötig. Die Musik von Björk Gudmundsdóttir auf ihrem zweiten Album baut auf der schon recht eigenwilligen Soundästhetik des Vorgängers auf, fügt dann noch mehr Dance Vibes hinzu, wird von Industrial-Sounds durchzogen und zielt immer wieder Richtung Klassik, und all das macht Björk mühelos und ohne sich um Konventionen und Formalismen zu kümmern. Sie benutzt spielerisch die Elemente, die ihr gerade ins Konzept passen, ohne über ihre Herkunft oder mögliche Zusammengehörigkeit – und damit verbundenes Zusammenpassen – nachzudenken. Das Ganze passierte unter Mitarbeit von etlichen seinerzeit angesagten Leuten wie Nellee Hooper, Tricky, Graham Massey von 808 State und Electronica-Produzent Howie B. Aber bei all der personellen und technischen Planung wird zugleich deutlich, dass perfekte Popmusik nicht automatisch mit den geläufigen Mitteln, die wir kennen, gemacht werden muß. Oft sind die zauberhaften Momente hier fragil und beiläufig – und dadurch umso schöner. Und bei all seiner Seltsamkeit ist Post nicht avantgardistisch, sondern bildhaft, verspielt und zugänglich – und somit der Beweis, das Björk’s Musik zu den besten Dingen gehört, die die Neunziger zu bieten haben. Natürlich lenken die Kollaborateure und die Trends der Mitt-Neunziger Post in bestimmte Richtungen: TripHop etwa ist als Markierung erkennbar – aber Hits wie der Fast-Industrial-Marsch „Army of Me“ sind von anderen Künstlern nicht denkbar. Und ein Hybrid aus Klassik, Torch-Song, Pop und Geflüster wie „It’s Oh So Quiet“ bleibt völlig einmalig. Dass Björk ihre Musik auch immer (mehr) als optisches Ereignis sah, wurde durch das spektakuläre, von Spike Jonez gedrehte Tanz-Video deutlich. Dass es mit „Hyperballad“, „Possibly Maybe“ und „Isobel“ noch drei weitere äußerst eigenständige Hitsingels (+ Videos) abwarf, darf man hier als Qualitätsmerkmal anerkennen. Und dass Post nie in irgendeine Schublade geschoben wurde, macht es noch kostbarer…

PJ Harvey
To Bring You My Love

(Island, 1995)

Artwork – Martin Callomon

Siehe: Die nächste Häutung der Polly Jean Harvey. Sie erschien immer irgendwie beängstigend wahnsinnig, ihre vorherigen Alben konnten Männer das Fürchten lehren, aber für ihr drittes reguläres Album wurde sie zum Vamp… freilich nicht in der niedlichen Variante. Sie sang alle Songs aus verschiedenen – natürlich immer weiblichen – Perspektiven. Die Charaktere waren wie immer extremen Gefühlen ausgesetzt – Lust, Angst, Verzweiflung – dem, was sie immer am Besten darzustellen vermochte und was auch die vorherigen Alben bestimmt hatte. Aber der wichtigste nun veränderter Bestandteil der Musik der PJ Harvey auf To Bring You My Love war – neben einer neuen Image-Facette – die Betonung des Blues. Nicht durch die amerikanischen Brille gesehen, wie beim geistesverwandten Kollegen Nick Cave etwa – nein, PJ Harvey war ein Kind des Post-Punk und Blues war Zitat, wurde theatralisch zelebriert und von Adern aus Avantgarde durchzogen wie ein gutes Steak von Fett. Und gerade die Verfremdung des Blues tat ihrer Musik gut – zumal sie wieder große Fortschritte im Songwriting gemacht hatte. „Down By the Water“ hat einen unwiderstehlichen Hook – und klingt natürlich bedrohlich, „Meet Ze Monsta“ ist psychotischer Stomp-Blues, beeinflusst übrigens von Captain Beefheart und dessen Shiny Beast Track „Tropical Hot Dog Night“. Ein Einfluss, der sich durch das komplette Album zieht. Und auch das quälende „Long Snake Moan“ und das pompöse „C’Mon Billy“ sind unabhängig von allem Zierat und jeder stlistischen Konnotation hervorragende Songs. PJ Harvey mochte nun nicht mehr so explizit und unmittelbar sein, wie auf Rid of Me. Aber das wäre ja auch langweilig geworden, sie hatte -wie es sich für eine große Künstlerin gehört – wieder neue Ausdrucksmittel für ihre Musik gefunden. Und ab jetzt hatte sie mit John Parish auch den musiklischen Partner gefunden, der sie bis heute (2020) begleitet.

Pulp
Different Class

(Island, 1995)

Cover – von der Design Company Blue Source.
Im Original mit sechs austauschbaren Fotos

Pulp hatten lange (und durchaus zu Recht) in relativer Obskurität existiert, aber schon das ’94er Album His ’n‘ Hers war ein Schritt auf das hohe musikalische Niveau, das ihrem Bandkopf Jarvis Cocker vorschwebte – und mit dem sie es erstmals in die Charts geschafft hatten. Und dann kamen ein paar Zufälle und ein Trend zusammen, dann kam das Jahr 1995 und der Brit Pop Hype, Pulp machten ihr fünftes Album Different Class – und alle Puzzle-Teile fielen an den richtigen Platz. Klasse und Anerkennung gingen gleichzeitig durch die Decke: Dieses Album steht für die intelligente Seite des Brit Pop – wobei Songwriter und Texter Jarvis Cocker mit Bands wie Oasis (und auch mit Blur) grundsätzlich herzlich wenig gemein haben wollte und die Band an dem unsäglichen, von der britischen Boulevardpresse gepushten Hype um den Kampf um den Brit-Pop Thron bewusst keinen Anteil nehmen ließ. Different Class ist mehr noch als der Vorgänger eine perfekte Mischung aus New Wave, Glam-Pop, Disco und Theater, es ist ein Sittengemälde der britischen Gesellschaft der Mitt-Neunziger, erotisch, glamourös und sozialistisch – und so britisch, dass man es letztlich doch als klassisches Brit-Pop Album wahrnimmt. Opener „Mis-Shapes“ ist ein pompöser Showtune – und ebenso unwiderstehlich wie die schmerzhafte Ballade „Underwear“ oder die schwüle Seance „I Spy“. Und dann gibt es natürlich die Hits des Albums: „Common People“ verhandelt die Unmöglichkeit einer Verständigung zwischen den Klassen mit Hilfe der Story um ein Upper-Class Girls, das sich zu den Menschen der Lower-Class herablässt – und diesen natürlich fremd bleibt – und „Disco 2000“ – die sentimentale Erinnerung an die Jugend-Schwärmerei für Laura Brannigan – ist intelligent, beziehungsreich – und großer Pop. Jarvis Cocker wurde zu einer ungelenken Lulatsch-Version von David Bowie – und damit doch ein bisschen zum König des Brit-Pop.

Radiohead
The Bends

(Parlophone, 1995)

Das erste Plattencover (von allen folgenden) von Stanley Donwood. Foto eines Dummy’s für Wiederbelebungs-Übungen

Es ist leicht zu erkennen, warum Radiohead nach diesem Album neue Wege gehen mußten: The Bends ist ein Höhepunkte des Alternative Guitar Rock – grüblerisch, versponnen, virtuos und ekstatisch. Radiohead waren all das in Einem und mit diesem Album allen anderen Gitarrenbands ihrer Zeit um Lichtjahre voraus – und sie hatten mit ihrem zweiten Album schon alles gesagt, was es in diesem Bereich der populären Musik zu sagen gab. (Nur hörten das noch nicht so viele Menschen…) Dass The Bends mit schnödem Brit-Pop nichts zu tun hat, wird jedem klar, der es einmal hört. Die Basis mag Rock’n’Roll aus dem United Kingdom sein, aber Experimente durchziehen The Bends wie Goldadern das Gestein. Ein verhallter Two-Note Organ Drone, gespenstische Ambient-Flächen im Background, unmögliche, komplexe Chord-Strukturen, plötzlich ein Latin-Beat, Elemente, die im Grunge-Pop dieser Zeit eigentlich undenkbar waren und auf einen Weg wiesen, den Radiohead dann demnächst alleine gehen würden. Sie sind die Band, die die Ästhetik des Punk-Rock mit den Visionen und der Virtuosität des Prog-Rock zu paaren vermochten, ohne dabei peinlich oder bloß artifiziell zu erscheinen. Und ein Song wie „Fake Plastic Trees“ enthält schon die Essenz dessen, was den Nachfolger OK Computer dann zum wichtigsten Album der 90er machen sollte – und es enthält zugleich einen der traurigsten Texte, die Thom Yorke je schreiben sollte: „Her green plastic watering can/for her fake Chinese rubber plant /n the fake plastic earth,/that she bought from rubber man/She looks like the real thing./She tastes like the real thing,/my plastic love„. Interessantes Detail nebenbei: The Bends wurde ’95 von den meisten Kritikern als wenig interessant bezeichnet. Tja…

Autechre
Tri Repetae

(Warp, 1995)

Cover – The Designers Republic

Dem schottische Duo Sean Booth und Rob Brown gelang unter dem Namen Autechre mit dem Album Tri Repetae ein Quantensprung von der modularen Mathematik der Vorgänger Incunabula und Amber zu insektoidem cybernetischem Funk. Für viele Fans des Duos repräsentiert dieses dritte Album zusammen mit den dazugehörigen EPs Autechre’s beste Zeit. (Das US-only Album Tri Repetae++ kombiniert die hier weiter unten besprochenen, genauso unverzichtbaren wie exzellenten EP’s Garbage und Anvil Vapre zusätzlich auf einer Dopple CD). Da sind Album-Tracks wie „Clipper“, „Rotar“, „Leterel“, „Gnit“, die virtuos zusammengebaut sind, bei denen sogar die Songtitel an mechanische Monströsitäten denken lassen, die irgendwelche Bauteile aus Metall und Melodie zu Musik verschmelzen. Das Bild, das ich bei Autechre’s Musik immer vor Augen habe, sind hydraulisch betriebene Superinsekten, die sich zusammenfügen, auseinanderfallen und wieder neu aufbauen. Ein Vorgang, der sich mittels Techno-Tracks und mechanischen Sounds in melodisch exquisite Musik wandelt. Die entstehenden Klänge sind vollkommen abstrakt, haben mit „Rockmusik“ rein gar nichts zu tun. Das ist 1997 tatsächlich innovative Musik, auch wenn es „elektronische Musik“ schon über Dekaden vorher gab. Das Maß an Abstraktion – diese Fremdheit – war zu dieser Zeit neu. Autechre wiesen mit Tri Repetae anderen Musikschaffenden einen Weg in die Zukunft, der aber letztlich nur von ihnen selber adäquat in die Zukunft weiter gegangen wurde. Eiskalte IDM. Perfekt – wobei das Detail anzumerken wäre, dass die Beiden audrücklich darauf hinwiesen, dass das Album auf Vinyl zu hören sei, weil es nur… „complete with surface noise“ sei…

Autechre
Garbage EP

(Warp, 1995)

Cover – The Designers Republic – lies den Text…

Auch für Autechre gilt das Verdikt: Wer sie wirklich kennenlernen will, muss ihre EP’s hören. Ihre Musik ist für die normale CD-Spielzeit > 60 Min. so manchem zu anstrengend, die EP’s sind kürzer – und hier verbergen sich teils lockerer hingestreute Tracks – so wie „Vletrmx21“ auf Garbage. – einer der schönsten Ambient Tracks, den sie je zustande bringen sollten, ein über 8-minütiger Loop, der sich unmerklich verändert, eine Art elektronisches Gewitter, beobachtet aus der Ferne. Auch die restlichen drei Tracks auf Garbage sind ruhiger, zugänglicher als der Rest ihres Outputs, vermitteln eine düstere, fast will man sagen melancholische Atmosphäre – was das Album zu einem ihrer zugänglichsten macht. Die EP war als Begleiter zum 94er Longplayer Amber gedacht, das Covermotiv eine digitalisierte Verfremdung des Covers jenes Albums.

Autechre
Anvil Vapre EP

(Warp, 1995)

Design – wieder The Designers Republic

Die zweite EP ’95 ist dementsprechend der Begleiter zum zwei Monate später veröffentlichten Tri Repetae., die Tracks sind zum Teil bei den Sessions zum Album entstanden – und dann weitergeführt worden. Anvil Vapre zeigt, wie die beiden Musiker den neuen Weg erkunden, den sie dann auf dem regulären Album weiter beschreiten würden. Die vier Tracks auf Anvil Vapre sind noch Loop-basiert, noch fokussiert auf das Zusammenspiel von Beats und Melodiefragmenten, aber die Abstraktion hat zugenommen, die Musik klingt kälter und bedrohlicher. Autechre waren offenbar auf dem Weg in die Unmenschlichkeit. Natürlich gab es ab jetzt auch Hörer, die ihnen nicht mehr folgen mochten. Bestes Beispiel für ihre Herangehensweise ist wohl „Second Scepe“: Hier findet man den unverwechselbaren Plan, mit dem sie die einzelnen Bausteine ihrer elektronischen Musik miteinander verbauen. Es beginnt mit einem stotternden Vocal Sample der gegen ein paar versetzte Töne gestellt wird, mit dem üblichen polyrhythmischen Pattern dahinter, Im Laufe der folgenden 7 Minuten werden nur wenige Elemente hinzugefügt, aber die Komplexität wächst dennoch soweit, dass man sich mit der Zeit in dem Soundlabyrinth verliert. Diese Beiden gehören mit zu ihren besten EP’s – und das will was heißen bei Autechre.

Genius/GZA
Liquid Swords

(Geffen, 1995)

Illustration – Denys Cowan, Comic-Artist
und TV-Produzent

Der Wu-Tang Clan war der Beweis dafür, dass neun Individualisten in der Lage sind, mit etwas Disziplin und mit einer Vision ein perfektes Album zu erschaffen. Nach dem Debüt und Meisterwerk Enter the Wu-Tang (36 Chambers) (’93, ….siehe ebenda) begannen die einzelnen Mitglieder des Clan den Hip Hop Markt mit teilweise ganz hervorragenden Solo-Projekten zu überfluten – Solo Alben, bei denen freilich immer auch andere Mitglieder des Clan mithalfen. Und dann kam DER Wu-Tang Meister Gary Grice aka Genius/GZA mit seinem Solo-Album daher – und stellte klar, wer der spirituelle Kopf des Ensembles war. Liquid Swords ist das archetypische Wu-Tang Album incl. Kung Fu Film-Samples vom B-Klassiker „Shogun Assassin“ und Gastbeiträgen der gesamten Mannschaft, die auf Enter the Wu-Tang… unter den Produktions-Skills von Kollegen GZA zusammengearbeitet hatte. Die Atmosphäre auf Liquid Swords ist unnachahmlich düster, man sieht das Betonlabyrinth eines winterlichen Queens, der Bronx, irgendeines Prospects regelrecht vor sich, in dem Gangsta mit dem Ehrenkodex der Samurai angesichts massenhaft ehrloser Gegner und dem eigenen harten Leben standhalten. GZA erwies sich hiermit als der definitive Rap-Texter, seine Story ist finster, klug durchdacht und die Lyrics kommen mit einem unwiderstehlichen Flow und trotz der kompetenten Gäste ist GZA der Star der Geschichte. Und die Produktion von GZA ist wie gesagt über jeden Zweifel erhaben, mit ungewöhnlichen Sounds, smoothen Beats und einfallsreichen Samples. Es wurden vier Singles ausgekoppelt, das Titelstück, „Shadowboxin’“ und „Cold World“ mit Erfolg – erstaunlich bei diesen finsteren Inner City Stories. Liquid Swords (der Titel bezieht sich auf den Kung-Fu Streifen Legend of the Liquid Sword, in dem das Samurai-Schwert so scharf ist, dass der abgeschlagene Kopf der Feinde auf deren Hals sitzen bleibt…) ist das beste Album aus der Vielzahl der Side Projects des Clan. GZA sagte dazu ganz treffend: „Wu-Tang is a sword style, and this here is the sharpest. I’d rather slip on the pavement than slip on my tongue.“

Sonic Youth
Washing Machine

(Geffen, 1995)

Cover – Michael C Mills, Designer,
Filmemacher und Video-Regisseur

Sonic Youth sind in den Neunzigern zur Institution geworden – der Hort des guten Geschmacks und der Glaubwürdigkeit. Kompromisslos, trotz Major Vertrag, nicht korrumpiert und innovativ, sie haben eine beachtliche Karriere hinter sich – und vor sich – und sie leben ihre Musik. Sie sind ein bisschen heilig. Das waren sie zwar auch schon vorher – in den Achtzigern hatten sie spätestens mit Daydream Nation den New York-Noise-Rock und die alternative Rockmusik mit-definiert – zu einem Zeitpunkt als alternativ noch wirklich alternativ war. Goo, das Album mit dem sie die Neunziger eingeleitet hatten, war ihr „Pop-Album“ gewesen, wenn es überhaupt so etwas in ihrem Koordinatensystem gab, und nun, in der Mitte des neuen Jahrzehnts kam mit Washing Machine ein weiteres Highlight in ihrer reichen Diskografie. Thurston Moore, Lee Ranaldo, Steve Shelley und Kim Gordon haben inzwischen einen Klang-Pantheon geschaffen, der nur Ihnen gehört, in den niemand anders eindringen kann und der Platz lässt für unendliche Variationen. Mit diesem Album verabschieden sie sich (und ihr Label) von der sowieso nur halbherzigen Suche nach Mainstream-Erfolg, haben aber – da sie eine Band sind, die sich in Schritten weiterentwickelte – immer noch ein paar Songs, die durchaus konsumenten-freundliche Eleganz mit Noise verbinden. Da ist der laidback Indie-Rock von „Unwind“, sie spielen auf „Panty Lies“ mit Elementen von japanischem Hardcore, es gibt den pseudo-Motown DooWop „Little Trouble Girl“ und dann ist da das psychedelische Monster „The Diamond Sea“ – mit allen Texturen versehen, die ihnen möglich sind und über 19 Minuten ausgedehnt – ohne eine Sekunde Langeweile. Und ich liebe sie für die krachenden und fiependen Gitarren-Workouts von „Becuz“, „Junkie’s Promise“ oder „Washing Machine“. Nach diesem Album wurden sie nicht schlechter, nur noch experimenteller – natürlich alles mit Geschmack und Niveau. Das einzige, was man ihnen vorwerfen könnte, wäre ihre übertriebene correctness, aber das wäre uncorrect.

Tindersticks
s/t. (Second Album)

(Island, 1995)

Artwork – Bartholomew & Windsor

Das Debüt der Tindersticks war ganz große Kunst – es war so groß, dass man sie für Frühvollendete halten konnte, zumal sie doch so desillusioniert, so heartbroken klangen, dass man eher um das pure Weiterleben des Protagonisten Stuart Staples besorgt war, als um seine musikalische Fortentwicklung. Aber dann kam das zweite, ebenfalls schlicht Tindersticks betitelte Album und alles war gut – bzw alles wurde ein weiteres mal in tiefstes Blau getaucht. Die romantische Tristesse der ersten Platte wird noch einmal überhöht, die Schuhe haben Löcher, „tiny tears“ füllen ganze Ozeane und in einem Bild sitzt der Erzähler unter dem tropfenden Dach um den Fluss seiner Tränen zu verbergen. Die Stimme Staples‘ hebt sich kaum einmal über ein Murmeln, aber er scheint ganz nah am Ohr des Zuhörers zu sitzen, um ihm seine intimsten Gedanken einzuflüstern, die Streicher seufzen und schwellen und die Band im Hintergrund spielt dezent dazu, weiss aber ganz genau um die Effektivität von Dynamik – die Tindersticks haben – vielleicht wie Sonic Youth, nur auf einam ganz anderen Gebiet – ebenfalls ihren eigene Klang-Pantheon erschaffen, ihre eigene Ästhetik, die viel Platz für Variationen läßt. Ist das zweite Album besser als das erste? Die Dichte an großen Songs ist nicht einmal höher, da ist „A Night In“, da sind „Tiny Tears“ und „Travelling Light“, das wunderbare Duett mit Carla Torgerson von den Walkabouts, und „She’s Gone“ und die vom Vibraphon angetrieben Erzählung „My Sister“. In der Tat, Tindersticks II scheint einen Deut besser als Tindersticks I, vielleicht sind die Arrangements noch gekonnter als auf dem Debüt, aber auf diesem Niveau ist der Unterschied kaum erkennbar….

Tindersticks
The Bloomsbury Theatre 12-3-95

(This Way Up, 1995)

Illustration – Suzanne Osborne

…und die Band gab dem erschöpften Hörer im selben Jahr noch einen Nachschlag in Form einer Live Doppel 10“ titels The Bloomsbury Theatre 12-3-95. Dass sie live beeindrucken konnten, war bekannt, mit den besten Songs aus den beiden ersten Alben, mit einem kompletten Orchester im Rücken, mit diesem stilsicheren auftreten – was konnte da schief gehen? Und in der Tat: Dies ist eines der wenigen Beispiele eines essenziellen Live Albums, kein schlichtes Best of mit Applaus. Die Intimität, die sie auf den Studioalben erzeugen ist hier noch intensiver, die Dynamik bei Stücken wie „Talk to Me“, dem wundervollen „Jism“ oder „Raindrops“ noch deutlicher, das Aufbäumen und Niedersinken in Klang und Emotion noch stärker. Hier wird noch einmal deutlich, wie gekonnt sie mit einem Orchester umgehen können. Und bei „Drunk Tank“ klingt das Orchester dann nach Apokalypse. Es mag überraschen, dass mit solcher Musik auf der Bühne ein solcher Sturm entfesselt werden kann, aber geschmackvolle Theatralik ist das Geschäft der Tindersticks – und sie sind zu dieser Zeit perfekt darin. Nach diesen drei Alben fiel es den Tindersticks schwer, das Niveau zu halten, aber sie haben bis heute keine schlechte Platte gemacht – und live sind sie immer noch unschlagbar. The Bloomsbury Theatre 12-3-95 gab es zunächst nur als limitiertes Sammelobjekt auf Vinyl – inzwischen ist es als Bonus CD zusammen mit dem zweiten Album erhältlich.

Death
Symbolic

(Roadrunner, 1995)

Cover – Rene Miville. Fotograf, der eine Mthode erfand, Bilder chemisch zu verändern. Hat auch vorher Death-Cover gemacht.

Für ’95 erschien es mir notwendig, zwei Alben mit „extremem Metal“ in den Stand der wichtigsten Alben das Jahres zu erheben: Über Ulver’s Bergtatt – Et Eeventir i 5 Capitler mehr im Anschluss. Aber ich hätte es nicht fertig gebracht, das sechste Album DER Death Metal Band an sich einfach nur in einem Themenartikel zu loben: Symbolic ist der Apex in der Karriere von Death – und es ist das „beste“ Death Metal Album aller Zeiten. Chuck Schuldiner hatte schon mit den fünf vorherigen Alben immer wieder neue Standards im Death Metal gesetzt. Er war den Kollegen immer einen Schritt voraus gewesen, aber dass er auch nach 11 Jahren keinerlei Ermüdungserscheinungen zeigte, ja, den Konkurrenten mit dem neuen Album sogar drei Schritte voraus eilte, war bewundernswert. Er hatte zwar schon wieder – außer dem Drum-Tier Gene Hoglan – das komplette Personal ausgewechselt, aber mit dem Co-Gitarristen Bobby Koelble und dem bislang unbekannten Bassisten Kelly Conlon bekam er zwei Wasserträger, die seinen technischen Ansprüchen locker gewachsen waren, seine Fähigkeiten dabei aber auch strahlen ließen. Symbolic ist „Technical Death Metal“ – aber auch wem Technik egal ist, dem erschließt sich der Reiz dieses Albums, denn Schuldiner achtete auch auf eine gewisse „Catchyness“ seiner Kompositionen. Die Songs sind zwar komplex, zugleich aber noch nachvollziehbar, die Hooks und Riffs bleiben im Ohr, er ist als Gitarrist inzwischen auf einem technischen Niveau angekommen, auf dem er fast allein ist – aber sein Gefrickel ist nie reiner Selbstzweck. Ein Beispiel wäre etwa „Crystal Mountain“ – ein Song, der nur noch entfernt mit dem zu tun hat, was andere Florida-Death Metal-Götter wie Morbid Angel zur gleichen Zeit ablieferten. Musik von seltsamer Schönheit, gepaart mit technischer Brillianz, dazu auch noch kluge, introspektive Lyrics, die mit dem Blood and Gore der ersten Alben nichts mehr zu tun haben. Und bei all dem guten Geschmack ist da immer noch eine Aggressivität, Härte und Wucht, die weit über Thrash-Metal hinausreicht, die andere Technical Death Metaller wie Cynic bei ihren besten Alben aber verloren haben. Tracks wie „Misanthrope“ oder das rasende „1000 Eyes“ können jeden Liebhaber des klassischen Metal zufriedenstellen, jeden Technik-Frickler beeindrucken und sind als einzelne Tracks wiedererkennbar – etwas, das im Death Metal sehr selten vorkommt. Symbolic vereint alle Basisizutaten, die guten Death Metal ausmachen mit Elemente des Jazz, des progressiven Rock und… des Pop.

Ulver
Bergtatt – Et Eeventir i 5 Capitler

(Head Not Found, 1995)

Cover von der norwegischen Künstlerin Tania
Stene. Auch Cover für Burzum, Emperor,
SunnO))) etc…

Black Metal zu hören – und ihm auch noch die Bedeutung beizumessen, die er hier von mir bekommt – ist ja inzwischen durchaus akzeptiert. 1995 war diese Art von Musik allerdings noch mit einem Stigma behaftet, das sie durch nihilistische und faschistoide Kirchenverbrenner erhalten hatte. Ulver (= norwegisch für “Wölfe”) allerdings gehörten von Anfang an nicht wirklich zur Black Metal Szene Norwegens, sie hatten neben ihren Thrash und Black Metal-Wurzeln ein starkes Interesse an der norwegischen Mythologie – und an der Volksmusik ihres Landes. Nicht dass sie damit alleine gewesen wären, aber sie banden neben den textlichen Bezügen von vorne herein klaren Gesang, Folk-Instrumentierung und einen professionellen und klaren Sound in ihre Musik ein. Ihr komplett in altertümlichem Norwegisch teils eingebrülltes, aber eben auch eingesungenes Debüt bleibt bis heute eigen- und einzigartig. Bergtatt – Et Eeventir i 5 Capitler ist ein Konzeptalbum um ein kleines Mädchen, das sich im Wald verirrt und von Trollen in die Berge gelockt wird – ein archaisches norwegisches Märchen, teilweise sogar vertont wie ein Hörspiel – dann wieder mit harschem Kreisch- und Brüllgesang versetzt – und es ist ein Album von immer wieder überraschender Schönheit. Die Einflüsse der norwegischen Volksmusik, die mittelalterlichen Klänge von Flöten, Lauten und Gitarren, dann wieder der Wechsel vom Mönchsgesang zum harschen Kreischen durch Sänger Garm, rasantes Black Metal Drumming und wirbelnde Gitarren – all das ohne Peinlichkeit, ohne daß Langeweile aufkommt… Es ist zu dieser Zeit sicher kein kleines Kunststück gewesen, Black Metal so zu “gestalten”. Dabei mag geholfen haben, dass die fünf Musiker Wert auf eine klare Produktion legten. Dass das Album mit 39 Minuten recht kurz ist (es war eigentlich als Split-Release mit den Kollegen von Gehenna vorgesehen) mag auch von Vorteil gewesen sein. Aber es ist vor Allem die schiere Musikalität dieser Band – die sich im Laufe der Zeit zu einer Art “Pink Floyd des Black Metal” entwickelte – und die kontrollierte Kraft, mit der sie spielen, die dieses Album herausheben. Es gibt etliche Black Metal Alben, die ich für wichtig und für großartig halte – Bergtatt – Et Eeventir i 5 Capitler ist nicht nur wichtig, es ist auch noch ungewöhnlich und einfach schön.