1994 – Bark Psychosis bis Jessamine – Der Anfang von Post Rock und die 10 Besten

Der Begriff „Post Rock“ wird vom Journalisten Simon Reynolds in seinem Review des ’94er Bark Psychosis Albums Hex für das Mojo Magazin geprägt:

„…using rock instrumentation for non-rock purposes, using guitars as facilitators of timbre and textures rather than riffs and power chords.“ Somit ist eine Schublade gebaut – aber der Inhalt ist sperrig und ragt an allen Ecken heraus. Etliche der Bands, die man „Post Rock“ nennt, würden sich gegen diese Kategorisierung vermutlich verwehren, aber – ebenfalls wie immer – so eine Bezeichnung ist hilfreich um eine bestimmte Art von Musik zu einer bestimmten Zeit zu beschreiben. Im Post Rock der 90er findet man jazzige oder/und repetitive Rhythmik, wenn Gesang vorkommt, dann meist eher im Hintergrund oder lautmalerisch, wobei es bald auch „Post Rock Bands“ wie etwa Sigur Ros gibt, bei denen der Gesang eminent wichtig ist – aber die Stimme ist auch hier eher Instrument. Manche Bands spielen mit Elementen aus Minimalism, andere kommen hörbar vom Hardcore/Math Rock, viele scheinen Kraut-Rock Bands wie Can oder Neu! gehört und verstanden zu haben – sie alle aber scheinen der „Rockmusik“ der frühen Neunziger die Eier abreißen zu wollen. Die wichtigsten Wegbereiter des Post-Rock sind Talk Talk und Slint (siehe mein Artikel über 1991!) obwohl insbesondere Talk Talk nie wirklich kopiert werden (konnten) – aber auch Disco Inferno, Bark Psychosis oder Stereolab – und damit ist eine sehr bunte Palette vorbereitet. Sie alle haben ihre Vorbilder wiederum bei Krautrock Bands wie Can und sie kennen The Velvet Underground (wer kennt die nicht…). Mitte der Neunziger kommen Labels wie Thrill Jockey (In Chicago – daher kommen viele der wichtigen Musiker von dort). Kranky, Too Pure (aus England) oder Touch & Go und veröffentlichen solche Musik – oft ganz einfach, weil ihre Labeleigner sie mögen: Da finden wir die hier unten vorgestellten Alben von Tortoise, The Sea and Cake, Gastr Del Sol etc. Andere, breiter aufgestellte Indie-Labels wie Drag City erkennen den Trend während die Majors natürlich erst einmal nicht das Wagnis eingehen, intelligente und anspruchsvolle Musik ihrem Publikum zuzumuten. Zunächst einmal ist Post-Rock also Musik für diejenigen, die sich für innovative Klänge interessieren – dann wird es ein – zwei Jahre lang ein mittelgroßer Trend – bis der um die Jahrtausendwende abflacht. Aber – der Begriff steht im Raum – und Mitte der 00er Jahre kommen andere Bands daher (Mono, Explosions in the Sky, Isis etc…), die Post Rock mit Metal verbinden (Dazu ein eigener Eintrag…). ’94 erscheinen etliche Alben – oft Debüt-Alben – der wichtigsten Bands aus dieser Schublade. ’94 sei somit das Jahr Eins des Post-Rock. (…Jahr Null war 1988 mit Talk Talk’s Spirit of Eden, lieber Erbsenzähler…)

https://music.apple.com/de/playlist/der-gro%C3%9Fe-rockhaus-1994-postrock/pl.u-xlyNqJ3tka7bN8Y

Bark Psychosis
Hex

(Caroline, 1994)

Design – Bandkopf Graham Sutton.

Als erstes also die Band, die den Musik-Journalisten Simon Reynolds dazu brachte, den Terminus „Post-Rock“ zu verwenden. Weil Bark Psychosis das Rock-Instrumentarium verwenden, um Musik zu machen, die kein Rock ist. Weil sie die üblichen Strophe/Refrain-Schemata aufbrechen, weil sie gerne ungerade Rhythmen verwenden. Aber das sind natürlich Ideen, die schon andere Bands zuvor hatten – Man kann das bei den Shoegazern der 80er/90er finden, bei experimentelleren Bands aus der New Wave-Ecke Anfang der 80er, man kann das bei Velvet Underground suchen und wird etwas davon finden. So will ich die Bezeichnung Post-Rock auch als Begriff aus den 90ern betrachten – und mich auf die Beschreibung der Musik von Bark Psychosis konzentrieren. Die nämlich erreichen mit ihrem Debüt-Album Hex (und der ebenfalls ’94 veröffentlichten Compilation ihrer EP’s – siehe hier) eine Qualität und einen Stellenwert, der sie auf eine Höhe mit den ungleich bekannteren Talk Talk hebt. Bark Psychosis haben einfach noch mehr Pech als Mark Hollis‘ Projekt. Sie bekamen kaum Support durch ihr Label (im Gegensatz zu ihren Zeitgenossen von Tortoise etwa) und ihr Kopf Graham Sutton löste die Band nach diesem tollen Album frustriert auf. Hex ist ein großes Puzzle, ein Album, das zu gleichen Teilen aus Gruppen-Zusammenspiel und Post-Produktion besteht. Die Musik wurde zwar von einem großen Ensemble eingespielt, aber zuletzt an Computer und Sampler neu zusammengesetzt. Dass dabei ein Klangteppich von solcher Schönheit herauskam, dem die Sterilität des Digitalen völlig abgeht, beweist die Klasse des Materials und das Können Sutton’s als Produzent. Der und sein Keyboarder Daniel Gish nahmen sich A.R.Kane und deren 69, Blue Nile’s A Walk Across the Rooftops und ganz klar Talk Talk’s Laughing Stock zu Vorbildern, um auf der so grundierten Leinwand ihr persönliches Kunstwerk zu malen. Die Musik ist elegant und zurückhaltend, Piano, gestreichelte Gitarren, die manchmal in sanftem Feedback zerfießen, Dub-Bässe und Percussion, die herabrieseln wie Dezemberschnee. Dass Del Crabtree seine Miles Davis-Trompeten darüber schweben lässt, ist nur logisch. Insbesondere „A Street Scene“ könnte mit seinen melodischen Ausbrüchen und den zwei Minuten Kammermusik am Schluss Mark Hollis beeindruckt haben. Einzelne Tracks hervorzuheben ist schwierig, Hex ist ein Album, das im Ganzen gehört werden will – und ich will es betonen: Hex ist nicht Spirit of Eden Vol. 2, hier werden vielmehr die losen Enden der Musik von Mark Hollis aufgenommen – meinetwegen ohne Hollis‘ Pop-Sensibilität, dafür mit mehr Abstraktion – was dazu geführt haben mag, dass Hex nicht den Status der Talk Talk-Alben hat.

Bark Psychosis
Independency

(3rd Stone, 1994)

Artwork – Tom Partridge

Die im selben Jahr erschienen Compilation Independency ist die willkommene Ergänzung zu Hex. Sie zeigt, welchen Weg die Band vom Ende der Achtziger mit der sparsamen akustischen Schönheit von „I Know“ (von der Single „All Different Things“) bis zur epischen Free-Form Majestät der 21-Minütigen EP Scum zurücklegte – in einem Bereich der Musik, der unbemerkt parallel zur alltäglichen Popmusik verlief. Bark Psychosis lösten sich wie gesagt auf, Graham Sutton arbeitete als Produzent und mit dem „Zwischenprojekt“ Boymerang im Trip-Hop Umfeld – und reformierte Bark Psychosis zu Beginn der 00er Jahre – zusammen mit dem Ex-Talk Talk Drummer Lee Harris. Das daraus entstandene Album /// Codename: Dustsucker ist – fast – genauso toll. Von dieser Art Musik kann man nicht genug bekommen, wenn man einmal ihrem Reiz verfallen ist. Und die Frage, ob Bark Psychosis Post-Rock spielen beantworte ich mit „meinetwegen“

‚O’rang
Herd of Instinct

(HitIt, 1994)

Cover vom Designer Rob Crane

Talk Talk, Graham Sutton… Es gibt 1994 eine Verbindung beider Namen durch ein weiteres Projekt: ‚O’rang sind eine Band, die 1993 von der Talk Talk Rhythm Section Lee Harris und Bassist Paul Webb gegründet wird. Für ihr erstes Album Herd of Instinct holen sie sich einen großen Teil der Musiker von Spirit of Eden/Laughing Stock sowie ein paar weitere Gäste ins Studio – und machen da weiter, wo Mark Hollis vor drei Jahren aufgehört hat. Harris und Webb hatten vor Talk Talk mit Reggae herumexperimentiert, ihr Zugang zur Musik war weniger von westlichen Vorlagen – und auch weniger von Popmusik – beeinflusst, als der ihres ehemaligen Band-Chefs, und das hört man diesem ersten Album deutlich an. Genauso wie man deutlich heraushört, dass das Prinzip der losen Improvisationen sie stark beeinflusst hat. So ergibt sich das Ergebnis logisch – und steht und fällt mit den Ausführenden. ‚O’Rang sind demokratischer als Talk Talk, das Album ist enorm detailreich, es gibt Sounds und Passagen, die an Talk Talk gemahnen, weil die Harp von Mark Feldham, die einfallsreichen Percussion von Lee Harris und Martin Ditcham automatisch Erinnerungen an Spirit of Eden heraufbeschwören. Aber neben dem Feedback-Rauschen der Gitarren von Graham Sutton kommen auch exotische Instrumente wie Baliphon und Zurna zum Einsatz. Statt Mark Hollis‘ prägnanter Stimme hören wir beim Opening Track “’O’Rang” die Stimme von Beth Gibbons (…! – womit wir die Verbindung zum großartigen Album von Rustin‘ Man hätten (siehe Out of Season in 2002)). Die fast schmerzhafte Schönheit von Talk Talk mag fehlen, aber “Anaon, The Oasis“ sollte jeder anhören, der Talk Talk mochte – mit atmosphärischem Vocal-Intro, tribalistischen Rezitationen, zersplitterten Sounds von Bläsern, Flöten und rumpelndem Bass. Und bei „Mind on Pleasure“ wird die Musik fast catchy… Herd of Instinct zeigt, wie es hätte weitergehen können – und man darf nicht vergessen. Den beiden letzten Talk Talk Alben wurde auch erst im Laufe der Jahre ihre Bedeutung zu erkannt. Herd of Instinct hatte in dieser Hinsicht einfach nur weniger Glück, es ist ein unbekanntes Meisterwerk des ambienten (Post)-Rock.

Tortoise
s/t

(Thrill Jockey)

Cover vom Bandmitglied Sam Prekop

Im Anschluss an ‚O’Rang’s Herd of Instinct das Debüt von Tortoise zu hören macht Sinn, weil das sowohl die Ähnlichkeiten als auch die Differenzen zwischen den Polen erkennbar macht, die die Welt des Post Rock in dieser Zeit ausmachen. Die Band aus Chicago besteht aus ehemaligen Indie- Punk- und Hardcore Musikern, die aus den Formeln ihrer Vergangenheit ausbrechen wollen. Sie experimentieren seit 1991 und haben einen Sound entwickelt, dem ich unterstelle, dass er eher aus der eigenen Vergangenheit – und ihrer Negation – entstanden ist, als aus der Beeinflussung durch die Musik der Briten Talk Talk. Sie verweigern sich den Konventionen des Alternative Rock und suchen sich ihre Ideen bei Krautrock, Avant-Garde Jazz, experimenteller elektronischer Musik, Minimalism und Dub, und machen daraus eine komplexe instrumentale Musik, die zu dieser Zeit tatsächlich innovativ klingt. Dass diese Musik innerhalb des kurzen Zeitraumes von zwei Jahren so ausgereift ans Tageslicht gelangen würde, ist sicher auf die Vergangenheit der Musiker bei Bands wie Bastro, Eleventh Dream Day oder bei der SST-Band Tar Babies zurückzuführen. Bei denen war auch nicht Alles Strophe/Refrain/Strophe und da waren die instrumentalen Fertigkeiten genauso gefragt, wie nun bei Tortoise. Man kann der Musik auf Tortoise eine gewisse akademische Kühle nicht absprechen, aber die Band klingt für mich insofern „anders“, als die Vergangenheit im Hardcore durchaus hörbar bleibt, dessen Härte aber hier fehlt, die Lehrmeister-Attitüde so mancher Jazzer aber auch nicht erkennbar ist. Sagen wir’s mal so: Man hört, dass die Musiker Spaß haben, weil ihre Ideale sie in eine neue Richtung geführt hat. Jeder der Musiker beherrscht auch jedes Instrument, bei „Night Air“ wird eine Melodica eingesetzt, der Sound wird bestimmt von virtuosen Percussion, und Bass, ein Song heisst „Ry Cooder“ – und wird nicht von dessen Slide-Gitarren-Sounds getragen, sondern vom Vibraphon. Tortoise bleiben noch im engeren Korsett des Jazz, aber sie sind definitiv keine Jazz-Combo, man muss sich an ihre Musik gewöhnen, der Reiz dieses „Post Rock“ erschließt sich langsam, sie sind nicht so ambient wie ‚O’Rang, nicht so nah an der Kammermusik wie Talk Talk oder Bark Psychosis und sie sind am ehesten das, was ICH Post Rock nennen würde. Und sie beziehen sich für mich insbesondere auf ein ganz spezielles Vorbild, das 1994 sein letztes Lebenszeichen von sich gibt..

Slint
Glen/Rhoda EP

(Touch and Go, Rec. 1989, Rel. 1994)

Cover – Noel Saltzman. Macht bald Cover für die Slint-Nachfolger The For Carnation

Slint – das ist die „andere“ Band, die als Begründer des Post Rock gilt. Ihr Debüt Tweez (von ’89) -und vor Allem das zweite Album Spiderland (’91) sind – genau wie Talk Talk’s Spirit of Eden (’88) und Laughing Stock (auch ’91) – heimliche Klassiker der populären Musik, unabhängig von allen Stilrichtungen. Dass drei Jahre nach dem Ende von Slint ihre EP Glen/Rhoda erscheint, mag mit dem Hype um Post Rock zu tun haben. Eine Veröffentlichung wert sind die beiden etwas mehr als sechs-minütigen Songs allemal – zumal sie im Schatten der Alben ihrer Chicago’er Adepten von Tortoise, Gastr Del Sol oder The Sea and Cake Sinn machen. Die beiden Tracks wurden mit Steve Albini kurz vor der Veröffentlichung von Tweez aufgenommen, waren als EP im Gefolge des Debüt’s gedacht, wurden aber wegen Label-Uneinigkeiten zurückgehalten. Wie weit Slint damals schon waren, und wie nah an dem, was dann fünf Jahre später als „heissester Scheiss des Jahres“ abgefeiert wurde, ist schon erstaunlich. Da ist zuerst „Glenn“, ein gitarren-getriebens Stück Instrumental-Rock, perfekt arrangiert, in Wellen dahinfließend ehe es in einem unwiderstehlich summenden Bass-Groove ausläuft, der so bedrohlich wie spannend ist. Keine unnötigen Spielereien mit Sprach-Samples oder Ambient-Soundscapes, Post Rock in Reinform – ehe es so was gab. Und dann „Rhoda“ – ein Track, der sofort zur Sache kommt, schon nach drei Sekunden den Climax erreicht, dann in Feedback auszulaufen scheint, kurz Harmonie vortäuscht, ehe einer den (damals noch ziemlich jungen) Musiker ein fatales „1, 2, 3“ herausschreit – und alles explodiert… Wie gesagt – Slint sind so etwas wie die Apotheose des Post Rock. Wen wundert’s dass Bassist/Gitarrist David Pajo bald bei Tortoise andockt. Von Slint sollte man (ok, bei Gefallen…) Alles anhören.

Gastr del Sol
Crookt, Crackt, or Fly

(Drag City, 1994)

Cover – ? Keine Infos…

Hier das zweite Album einer Band, mit der zwei DER wichtigsten Post-Rock / Experimental/Noise etc pp-Künstler ans Licht der Öffentlichkeit treten. Gastr Del Sol sind auch in der regen Szene Chicago’s unterwegs, und sie haben mit David Grubbs und mit dem nach dem vorjährigen Debüt hinzugestoßenen Jim O’Rourke mindestens schon mal zwei Leute in ihren Reihen, die die experimentellere Seite der (Pop)Musik in den kommenden Jahren stark prägen werden. Und mit John McEntire ist dann auch noch einer der Tortoise-Musiker dabei. Ihr zweites Album Crookt, Crackt, or Fly könnte dem gefallen, der Post Rock mag – aber auch wer Free-Jazz, seltsamen Folk oder freie Improvisations-Musik liebt, wird hier seinen Spaß haben. Das Album ist in vieler Hinsicht schizophren. Alle Tracks basieren auf dem Sound akustischer Gitarren, die mit „Fingerpicking“ gespielt werden, aber die bleiben fast aber immer außerhalb aller geläufigen Harmonien. Das klingt nach dem Free-Jazz Einzelgänger Derek Bailey und nach dem Meister des American Primitivism John Fahey. Aber irgendwie bleiben Gastr Del Sol dabei doch halbwegs genießbar, verlassen die Bereiche der Harmonie nie komplett. Man könnte sich vorstellen, dass eine Kombination aus Fahey, Can und Slint ein Album wie Crookt, Crackt, or Fly einspielen würden. Hardcore lauert immer irgendwo hinter der nächsten Ecke, Free-Folk – der erst in ein paar Jahren zum Hype wird – scheint vorgedacht, und dass all das Post-Rock genannt wurde, ist eher der Tatsache zu verdanken, dass mit McEntire und Grubbs zwei Musiker dabei sind, die in der entsprechenden „Szene“ mit-tun. Aber unabhängig von all dem sind insbesondere die beiden über zehn-minütigen Tracks ein spannendes Hör-Abenteuer. „Work From Smoke“ gleitet von gewalttätigen Gitarren-Apreggio’s zu elektronisch verfremdeten Sounds, der Album-Closer „The Wrong Soundings“ dehnt sich mit klappernden Percussion, Sound-Collagen, wilden Harmoniewechseln, einem Hardcore-Ausbruch, Noise und freundlichen Akustik-Gitarren-Intermezzi über alle Stilbereiche dessen, was wir Avantgarde nennen. Ist das dann Post Rock? Was ist Post Rock?

Brise-Glace
When in Vanitas

(Skin Graft, 1994)

Cover – ?…

Besagter Gitarrist, Komponist und Multi-Instrumentalist Jim O’Rourke ist ein hyperaktiver Überall-Spieler, der schon seit Beginn der Neunziger auf mindestens 25 verschiedenen Alben mitgemacht hat. ’94 spielt er neben Gastr Del Sol’s Crookt, Crackt, or Fly auch mit seinem Projekt Brise-Glace (französisch für „Eisbrecher“) ein Album im Spannungsfeld zwischen Avantgarde und – meinetwegen – Post Rock ein. Brise-Glace bestehen aus vier Chicago’er Improv-Musikern: Besagtem O’Rourke, Gitarrist Dylan Posa und Drummer Thymme Jones kommen aus dem Hardcore/Free Jazz Umfeld der Flying Luttenbachers (toller Name…), dazu gehört noch Bassist Darin Gray, der mit den Dazzling Killmen Noise Rock macht (…deren ’94er Face of Collapse schlicht nicht Post-Rockig genug ist, um hier beschrieben zu werden). When In Vanitas ist mit Crookt, Crackt, or Fly durchaus zu vergleichen, der Unterschied ist, dass hier die akustischen Gitarren vom Feedback der elektrischen Gitarren ersetzt werden. Produziert wird das Album von Steve Albini (siehe Slint), David Grubbs und Gene Coleman von Gastr Del Sol machen als Gäste mit – man erkennt nicht nur am Peronal – When in Vanitas ist die logische Ergänzung zum Gastr Del Sol Album. Und das wäre unwichtig, wäre nicht die Musik auf diesem Album so toll. Da ist das 10-minütige „Restrained from Do and Will Not (Leave)“, das die noisige Entsprechung von „The Wrong Soundings“ sein könnte, da sind Studio-Improvisationen wie „Neither Yield Nor Reap“, die zeigen, wie nah Post Rock und Hardcore beieinander liegen. When in Vanitas ist ein vergessenes Juwel irgendwo im beschriebenen Spannungsfeld. Aber – es ist keine leichte Kost. So wenig wie sein Schwester-Album.

The Sea And Cake
s/t

(Thrill Jockey, 1994)

Artwork – Carol Jackson

… um sich von den avantgardistischen Klängen zu erholen, könnte man zum Debüt der Post Rock/Pop Ästheten Sea and Cake greifen. Bei denen spielt auch wieder der Tortoise Schlagzeuger John McEntire mit, dann sind da mit dem Sänger und Gitarristen Sam Prekop und dem Drummer und Saxophonisten Brad Wood die Reste der wunderbaren – und seinerzeit noch nicht wirklich zuzuordnenden – Shrimp Boat dabei. Dazu kam dann noch Archer Prewitt, der Gitarrist der Coctails – und fertig war eine Post Rock Band, die zu den dauerhaftesten ihrer Art gehört. The Sea and Cake sind (auch) anders, als der ganze Rest. Sam Prekop singt mit semi-falsett Stimme bedeutungslose, leichte Texte, die Gitarren jangeln sanft, der Rhythmus bleibt dezent und meist geradeaus, The Sea and Cake könnte man bei oberflächlichem Hören mit Pavement an einem lauen Sommerabend verwechseln. Aber da sind dann doch immer diese Haken in den Songs, da ist ein jazziges Flair, eine hypnotisierende Monotonie im Rhythmus, die man vom Krautrock kennt. Dies ist die DNA, aus der sich der weitere Sound der Band entwickelt – hier, auf ihrem Debüt sind sie noch am nächsten an „normalem“ Indie Rock, aber sie werden sich immer weiter in eigene Bereiche entwickeln. Aber genau so klingen sie erfreulich und wer eine jazzige Lounge-Version von Pavement + Tortoise mag, die sogar Songs schreiben kann, der sollte sich ihr Debüt zu Gemüte führen. Was folgt, wird abenteuerlicher (siehe 1995)

Disco Inferno
D.I. Go Pop

(Rough Trade, 1994)

Design – Fuel, Foto – David Spero

Und hier zur nächsten Band, die im allgemeinen als „Post Rock“ bezeichnet wird, die aber einfach nur ihren eigenen Stil verfolgt – und im Rahmen des Hypes irgendwie unter diesen Schirm geraten zu sein scheint. Disco Inferno begannen schon 1989 als Teenager mit einer eigenen Art von Post-Punk, hatten zu Beginn mit Daniel Gish den späteren Keyboarder von Bark Psychosis an Bord, wurden im Laufe der Zeit immer experimenteller, ließen sich von Shoegaze beeinflussen, veröffentlichten eine erste LP + EP und Singles (1995 als In Debt zusammengefasst…) und haben dann bis ’93 noch drei weitere sehr innovative EP’s veröffentlicht. ’94 kommt mit Second Language eine weitere EP dazu – die EP’s werden irgendwann als Compilation The 5 EP’s veröffentlicht – aber ’94 ist das Jahr von D.I. Go Pop – dem Disco Inferno Album, das ich hier gesondert beschreiben will, weil es eines der besten Alben der mittleren Neunziger ist und weil es eigentlich weiter ausserhalb aller Kategorien liegt, als Hex oder Herd of Instinct. Man mag es damals nicht bemerkt haben, aber D.I. Go Pop ist aus diversen Gründen genauso experimentell, innovativ und gewagt, wie dereinst das Debüt der Velvet Underground. Disco Inferno arbeiten hier – einige Zeit vor allen anderen Bands – auf eine Art mit Samples und Loops, die so innovativ ist, dass das Album bis heute neu klingt. Beim ersten Track kündigt plätscherndes Wasser an, dass ab hier unbekannte Meere befahren werden. Mal werden noisige, mal wunderschöne Samples mantra-haft wiederholt, dazu murmelt eine körperlose Stimme aus einem Mahlstrom aus Klängen. D.I. Go Pop hat unendlich viele Ebenen, und jede davon will untersucht werden, jede garantiert einen neuen Grund, das Album zu hören. Man vergisst die Herkunft der Samples, weil sie alle zu logischen Elementen des jeweiligen Tracks werden, weil sie eine hypnotische Qualität bekommen, die letztlich aus dem Chaos einzelne Songs entstehen lässt – Songs, die sogar eine gewisse poppig-melodische Qualität haben (Höre „Even The Sea Side Against Us“). Dass dabei der Band-Charakter bestehen bleibt, ist noch das geringste Verdienst dieses Albums. Dass D.I. Go Pop als „Post Rock“ im Wortsinn gelten mag, ist nachvollziehbar. Nur – es gab ’94 niemanden, der vergleichbares gemacht hat. Disco Inferno gaben bald – nach einem letzten Album (Technicolour, 1995) – frustriert auf. Die Welt war wohl noch nicht bereit.

Main
Motion Pool

(Atlantic, 1994)

Cover – Avida Lifeforms. Die haben alle Cover für Main gemacht

Das vorstehende Album weist darauf hin, dass Post Rock auch tiefe Wurzeln im sog. Shoegaze der End-Achtziger hat. Ein Projekt/Album, welches aus diesen Wurzeln entspringt, diese aber zugleich unkenntlich macht, sind Main mit ihrem zweiten Album Motion Pool. Kopf von Main ist Robert Hampton, ehemals kreativer Geist bei den Psychedelic-Shoegazern Loop. Die waren Anfang der Neunziger sozusagen in zwei Teile zerfallen (Main und The Hair & Skin Trading Company) und Hampton hatte mit seinem Gitarristen Scott Dawson den Weg aus dem Rock in Richtung Ambient, Drone – also in den Post Rock – gefunden. Motion Pool ist für Main ein Album des Übergangs. Nach dem Debüt bewegten sich die beiden Musiker immer weiter aus den Regularien und Klängen der „Rockmusik“ hinaus in Richtung einer Musik, die das Rock-Instrumentarium nutzt, um „keine“ Rockmusik zu machen – die Definition von Post Rock mithin. Hier bilden zischend und klickend verfremdete Sounds aus Gitarren die Basis der einzelnen Tracks, unterlegt immer wieder von Dub Bass und repetitiven Kraut-Rhythmen. Wenn Gitarren ertönen, dann sind es laute Fuzz-Biester, aber bei aller scheinbaren Aggressivität werden sie dann doch wieder so sehr verfremdet und aufeinander geschichtet, dass selbst der härteste Lärm zu Ambient wird. Die ab und an aus dem Nebel auftauchenden Stimmen klingen nach ausserweltlicher Entität, haben mit dem Sound des Albums kaum zu tun. Motion Pool ist weit konsequenter und extremer als die Alben von Hampton’s vorheriger Band Loop. Die standen immer im zweiten Glied hinter My Bloody Valentine oder Spiritualized, mit Main betritt Hampton via Minimalismus und Abstraktion unbekanntes Terrain. Motion Pool ist ein Gitarren-Album, das weiter geht als als die elektronische Musik seiner Zeit.

Pram
Meshes EP

(Too Pure, 1994)

CD-Cover – ? Vinyl hat kein richtiges Cover…

Wer bis hier gelesen hat, dürfte es begriffen haben: Post Rock ist kein klar definierbarer musikalischer Stil. Es ist eher die Bezeichnung für die Musik einer bestimmten Zeit, in der Rockmusik mit verschiedensten Mitteln von „Rockismen“ befreit wird. So macht auch die britische Band Pram Musik, die weit von Rock entfernt ist, die dessen Instrumentarium und Sounds nutzt, um Texturen und Strukturen zu schaffen, die im (alternative/ independent/ hardcore etc…) Rock der Jahre zuvor nicht vorkamen. In ihrer Art sind Pram für mich mehr Post Rock – also Rockmusik NACH Rock im Sinne des Wortes – als Tortoise etwa. Das Quartett aus Birmingham hatte schon im Vorjahr mit der EP Iron Lung und dem darauf folgenden Debütalbum The Stars Are So Big, The Earth Is So Small… Stay as You Are einen Weg gefunden sehr eigene Klänge zu kreieren, die sie weit außerhalb aller vergleichbarer Bands positionierten. Nun etablieren sie ihren Sound im Frühjahr wieder mit der neuen EP Meshes – drei Tracks in ca 16 Minuten – als Vorläufer zum Album Helium. Meshes kommt nicht ganz an Iron Lung vom Vorjahr heran, „The Legendary Band of Venus“ ist vielleicht ein bisschen zu lang, der Saxophon-Part am Ende zu ziellos, aber dafür ist mit „Chrysalis“ einer der besten Songs der Band dabei. Die EP zeigt exemplarisch, was Pram ausmacht: Klare, zugleich aber üppig verzierte Rhythmik, der sympathisch zurückhaltende Gesang von Rosie Cuckston, seltsam wacklige Melodiebögen, eine Atmosphäre, die an 60er Jahre Science Fiction-Lounge Musik denken lässt – woran der häufige Einsatz von Theremin und alten Hammond-Orgeln hohen Anteil hat. All das gibt der Musik von Pram einen hohen Wiedererkennungswert, macht sie aber auch etwas anstrengend. Die wattige Atmosphäre – die sie übrigens mit anderen Acts wie Laika, Long Fin Killie oder Minxus auf Too Pure gemeinsam haben – betäubt mitunter regelrecht.

Pram
Helium

(Too Pure, 1994)

Artwork von der Band + einer gewissen Annie…

So ist Helium dann die Erweiterung dessen, was auf Meshes vorbereitet wird – eine Kollektion von abstrakten Melodien und Stories, clever als Popsong verkleidet, mit Kraut-Dance Rhythmen unterlegt, durch die genannten Sound-Elemente auf eine lunare Umlaufbahn in den Fünfzigern geschossen. Helium flirtet mehr als das formidable Debüt mit Dissonanzen, und nicht Alles ist nette Futuristik, unterschwellig droht die Dunkelheit, wenn Rosie bei „Gravity“ mit „little girl lost-Stimme“ singt: „Love isn’t a glow in the heart, it’s sharp hipbones bruising blue your thigh … it doesn’t send you off to space, but buries you instead“. Der Sound dieser Band ist mit Bedacht entwickelt, er wurde auch mit Bedacht außerhalb der Rock-Regularien positioniert. Pram sind also auch Post Rock…

Laika
Silver Apples of the Moon

(Too Pure, 1994)

Cover – Laika. Im original tatsächlich in einer Papphülle. Leider nur ganz limitiert…

…da passt als Nächstes das erste Album der Pram-Labelmates Laika ganz hervorragend – weil die sich nach dem ersten Lebewesen benannt haben, das je in die Erdumlaufbahn gebracht wurde (die Hündin wurde 1957 von Russland in eine Sputnik-Rakete gesetzt und starb auf dem Flug – sinnlose Tierquälerei, die trotzdem als großer wissenschaftlicher Erfolg gilt) Die Frage, ob man Silver Apples Of The Moon als Post Rock bezeichnen kann, habe ich zuvor schon oft genug mit „meinetwegen“ beantwortet, wem Helium gefällt, dem wird auch Silver Apples… gefallen, man wird Parallelen im Sound beider Bands finden – denn beide vermeiden jegliche „Rockismen“, arbeiten aber mit den Elementen der Populärmusik der letzten 40 Jahre. Auch hier wird eine verträumte Atmosphäre mittels verspielter Rhythmik – das Drumming von Lou Cicotelli ist fantastisch, an Krautrock und Afro-Rhythmen gleichermaßen geschult – den geflüsterten Vocals von Margaret Fielder, dissonanten Synthie-Sounds und melodischen Blasinstrumenten von Flöte bis Trompete erzeugt. Dazwischen bricht ab und zu eine Feuer aus Gitarren aus, ein Track wie „Let Me Sleep“ ist das Gegenteil seines Titels, der Opener „Sugar Daddy“ findet anscheinend im Ozean statt, das dringliche „44 Robbers“ klingt wie eine Hatz durch den Dschungel, das darauf folgende „Red River“ mit jagendem Bass-Puls und kratzenden Gitarren ist regelrecht unheimlich… Laika erzeugen Atmosphäre satt, sind innovativ, experimentell ohne je akademisch zu werden. Schließlich sind sie aus der ebenfalls hervorragenden Band Moonshake entstanden, haben aber ein paar andere Elemente zu deren Sound hinzugefügt, und passen so ganz hervorragend in diese Zeit der Neuorientierung. Ich sollte (und werde) in einem kleinen Artikel auf das Label Too Pure eingehen…

Stereolab
Mars Audiac Quintet

(Elektra/Duophonic, 1994)

Cover von einer Grafik-Design Company namens Trouble.

… und wenn ich Laika und Pram unter den Begriff Post Rock fallen lasse, MUSS ich Stereolab – ihre Vordenker (… würde ich vermuten…) erwähnen. Tatsächlich gelten Stereolab – laut Wikipedia jedenfalls – als Wegbereiter des Post Rock. Die 1990 gegründete Band macht diverse tolle EP’s die man auf der Compilation Switched on Stereolab genießen kann (’92 auf Too Pure veröffentlichten), macht im selben Jahr mit Peng! ihr erstes Album, gründet mit Duophonic ein eigenes Label, macht mit Transient Random-Noise Bursts With Announcements eines der besten Alben des Jahres ’93 und hat ’94 mit Mars Audiac Quintet das dritte Album am Start. Ihr Sound ist in meinen Ohren die Quelle, aus der Pram und Laika schöpfen. Sie sind in gewisser Weise „rockiger“ als Pram, insbesondere insofern, als ihre Tracks gehörige Ohrwurm-Qualität haben. Durch die teils französisch gesungenen Lyrics der wunderbaren Lætitia Sadier sowie durch eine seltsam betäubend anmutende 50er-Jahre-Sound-Ästhetik sind sie im Format-Radio allerdings wohl undenkbar. Auch Stereolab nutzen ein Rock-Instrumentarium, um einen Rockmusik-fremden Sound zu kreieren, man kann die Girly Harmonies von „Three Longers Later“ genießen, „New Ortophony“ baut sich auf wie eine rosa Wolke, bei „L’enfer des formes“ wechselt Sadier äußerst charmant zwischen französischem und englischem Gesang, “Three Dee Melodie“ oder „Outer Accelerator“ bewegen wie dereinst die Motorik-Rhythmen von Neu!… Das Album allein ist ein Ereignis – allerdings ist es eigentlich (nur) ein Sequel zu Transient Random… und es ist eine halbe Stunde oder 3-4 Tracks zu lang. Man mag das verzeihen, Stereolab waren immens produktiv, eine Pause wäre vielleicht besser gewesen – aber Mars Audiac Quintet ist immer noch besser als vieles, was dieses Jahr erscheint. Und die Frage, ob das hier jetzt Post Rock ist, stellt sich ein weiteres mal nicht.

Dirty Three
s/t

(Torn & Frayed, 1994)

Cover – Mick Turner

Mal was garnicht mal so anderes? Post Rock aus Australien? Gibt es auch – wobei… Dirty Three wurden damals (auch) nicht unter diesem Begriff „beworben“, ihre rein instrumentale Musik ist letztlich nichts anderes als eine weitere, eigenständige Form von musikalischer Entäußerung, meinetwegen Eine, zu der der Begriff Post Rock deshalb passt, weil mit einem halbwegs „normalen“ Rock-Instrumentarium und mit Strukturen und Mustern, die wir seit Jahrzehnten kennen, eine ungewohnte und kaum an Rock orientierte Musik gemacht wird. Auf ihrem Das Debüt hat das Trio aus Melbourne seinen Sound sofort ausformuliert. Jeder der drei Musiker – die zuvor jahrelang in diversen bakannen und unbekannteren Bands aus ihrem Umfeld mitgewirkt haben – trägt seinen unverzichtbaren Anteil zum Sound bei: Warren Ellis‘ verstärkte Violine trägt die Melodien genauso wie Mick Turner’s verzerrte Gitarren, darunter webt Jim White einen vielfarbigen Rhythmusteppich, ihre Songs nähren sich aus Rock, Folk aus aller Herren Länder, Jazz, Gypsy, und manchen kaum erkennbaren Quellen, die wohl privaten Kenntnissen entspringen. Die Violine wird mal gezupft, mal kreischt sie dramatisch auf, die Gitarre heult verzerrt, eine Harminka keucht – das Zusammenspiel der drei Musiker ist schon hier traumhaft, was sowohl auf ihr Können zurückzuführen ist, als auch auf ein kluges und sehr freies Konzept, das jedem alle Freiheiten gibt und niemanden zum Chef macht. So wird auch ein Track wie der über 10-minütige Opener „Indian Love Song“ nie langweilig, und aus einer schlichten Idee wie der Spaghetti-Western Pastiche „The Last Night“ wird Spannung bis zur letzten Sekunde herausgewrungen. Man muss bei Dirty Three den Gast-Harmonika-Spieler Tony Wyzenbeek erwähnen, der dem Ganzen noch eine Dimension hinzufügt – man kann darauf verweisen, dass Drummer Tim White bald bei allen namhaften Indie-Größen (Will Oldham, PJ Harvey, Cat Power etc) mitspielt, dass Warren Ellis mit Nick Cave und mit dessen Bad Seeds zusammenspielt – aber das ist ein namedropping, das Dirty Three eigentlich nicht nötig haben… man kann in jeden Teil ihrer inzwischen reichen Diskografie reinhören und wird nicht enttäuscht. (Das Album wurde ’94 in Australien veröffentlicht, ein Jahr später weltweit…)

Jessamine
s/t

(Kranky, 1994)

Design – Stephen Walter. Der hat ’96 auch Firewater von Silkworm designed.

Nicht der Vollständigkeit halber, sondern weil es ein gelungenes Album ist, will ich auf das gleichnamige Debüt der Band Jessamine eingehen. Dieses Album ist die zweite Veröffentlichung des namhaften Labels Kranks – genauso interessant und wichtig wie Thrill Jockey oder Too Pure, und das Quartett aus Ohio, das sich bald in der Szene Seattle’s einen Namen machte, spielt eine Quintessenz des Post Rock. Sie sind beeinflusst von Bands wie Can und Neu!, sie haben sich mit Shoegaze beschäftigt, sie kennen sicher auch Slint und Stereolab, und aus all dem + einer Liebe für spacige Sounds kochen sie ein eigenes Süppchen, das man in dieser Zeit nur Post Rock nennen kann. Die Musik auf Jessamine ist sozusagen die psychedelische Variante der Hipster-Musik ’94, aber man kann ihnen damit sicherlich nicht kommerziellen Ausverkauf vorwerfen. Viele der Tracks sins sehr minimalistisch, beruhen auf der Repetition weniger Töne aus harschen Synthesizern und verzerrten Gitarren, die von Bass und Drums Krautrock-artig vorangetrieben werden, Gitarrist Rex Ritter und Bassistin Dawn Smithson tragen verschlafenen Gesang bei, die Tracks bauen sich langsam auf, um dann wieder zu verebben – womit Jessamine wohl auch unter die Kategorie Slowcore fallen könnten – aber solche Grenzen sind wie gesagt durchlässig. Manche Tracks sind vielleicht noch nicht ganz durchdacht, aber ein Song wie „Cellophane“ oder der Closer „Lisboa“ muss jedem gefallen, der Slint, Tortoise, Stereolab oder dergleichen mag. Dies ist als nochmal die amerikanische Variante des Post Rock. Weniger poppig, mehr an Jazz, Noise und Hardcore orientiert als am Post Pop von Talk Talk oder an Disco Inferno’s britischer Experimentierlust. Das Feld ist somit beackert und die Saat ausgebracht. Für die nächsten drei bis vier Jahre kann ich reiche Ernte versprechen…

...und wenn ich einmal dabei bin….

die unter Nerds üblichen 10 besten Post-Rock Alben empfehlen soll, dann nenne ich also:

1. – Talk Talk – Spirit of Eden (1988) – obwohl es kein Post Rock ist…(Siehe oben)

2. – Slint – Spiderland (1991) – die US Version, aus Hardcore und wasauchimmer entstanden als noch keiner wussre, was das jetzt sein sollte

3.- Bark Psychosis – Hex (1994) – siehe hier oben…

4. – Tortoise – Millions Now Living Will Never Die – der „typischste“ Post Rock, den es gibt…

5 – Stereolab – Emperor Tomato Ketchup (1996) – das muss man nicht Post Rock nennen, ich will aber.

6 – Mogwai – Mogwai Young Team (1996) – auch eine Kategorie für sich, diese Schotten sind Meister der Dynamik

7 – Roy Montgomery – Temple IV (1996) – Nur Gitarre, der John Fahey des Post-Rock, ein MUSS von einem Album, das alles mögliche sein könnte

8 – Sigur Rós – Ágætis byrjun (1999) – Wieder eine (isländische) Band, die eigentlich ausserhalb aller Kategorien steht.

9 – Godspeed You Black Emperor! – Lift Yr. Skinny Fists Like Antennas to Heaven! (2000) – Könige der Dramatik, Wucht und Verwendung von Samples

10 – Explosions in the Sky – The Earth Is Not a Cold Dead Place (2003) – Mein Beispiel für den Metal-infizierten Post-Rock, der da kommen wird

Und wieder: 10 sind zu wenig (oder zu viel – not!) Man könnte noch Alben der Swans hier zuordnen, Es fehlen Disco Inferno, Long Fin Killie, Cul De Sac, Labradford, MONO, Hood, Gastr Del Sol… etc pp. Aber was soll’s wer einmal Blut gerochen hat, wird suchen… und finden.