1993 – Autechre bis Seefeel – Electronic Music – Innovation in Albumform

Beim verfassen dieses Artikels wurde mir klar, wie wenig ich über elektronische Musik weiss. Meine Annahme, dass der kreative Prozess, in dem diese so innovativen Klänge entstanden sind, ein anderer ist, als der Prozess beim erzeugen „klassischer“ Rockmusik hat sich als falsch entpuppt.

Die gemeinhin sog. elektronische Musik (ein Begriff, der an sich schon äußerst schwammig ist) ist in Ausprägungen, Stilmitteln, Arten der Erzeugung genau so heterogen wie „klassische“ (= mit Gitarre, Bass, Schlagzeug erzeugte) populäre Musik, Sie IST populäre Musik, mit den Mitteln dieser Zeit hergestellt, mit einer eigenen stilistischen Sprache. Man kann die Musik in diesem Kapitel höchstens damit definieren, dass sie nicht NUR mit traditionellen Instrumenten arbeitet, sondern ihre Ergebnisse auch durch Techniken der Sound-Manipulation erzielt. Die Sounds werden mit Synthesizern, am Computer oder auch mit dem gewohnten Rock-Instrumentarium erzeugt und auf verschiedene Art bearbeitet. Das Ausmaß der Bearbeitung kann minimal sein, es kann aber auch bis zur totalen Verfremdung gehen – das Spektrum ist so unermesslich, wie die populäre Musik. Im Prinzip ist letztlich jede Form populärer Musik auf Tonträgern „elektronische Musik“ – weil jeder Sound und jede Stimme bei der Aufnahme bearbeitet und verfremdet wird. Immerhin nehme nicht nur ich einen bestimmten Teil der Musik als „elektronisch“ wahr, weil mit einer ganz bestimmten Ästhetik, mit Sounds, Instrumenten, Rhythmen und Stimmungen gearbeitet wird, die neu und verschieden von anderen Klängen sind. Aber die möglicherweise in den 70ern noch existenten Grenzen sind seit langem verwischt – Die 93er Alben von Björk, Stereolab, den Cocteau Twins etwa sind eigentlich ganz klar elektronische Musik. Die Alben in diesem Kapitel nun kann man dann auch noch in diverse Genre-Schubladen der „elektronischen Musik“ legen: Vieles hier wurzelt in House und Techno mit seinen diversen Unterströmungen – Acid, Minimal, EBM, Ambient – und für die alle gibt es Definitionen, die sie voneinander unterscheiden mögen, deren Grenzen aber sehr diffus verlaufen. So decken die Alben hier unten etliche Stil-Arten elektronischer Musik – Stand ’93 – ab. Immerhin haben sie aber alle die Gemeinsamkeit, dass ihre Cover eine gewisse „entmenschlichte (= menschenleere), kühle Ästhetik teilen… Es gibt ein paar Gründe, weshalb ich dieses Jahr für wichtig für das Album-Format in der elektronischen Musik halte: Da ist das Warp-Label mit seiner Artificial Intelligence Album-Reihe (Autechre, Polygon Window, Black Dog Productions etc.), da sind die Techno-Großmeister Orbital mit einem Meisterwerk oder Seefeel mit einem wunderbaren Album zwischen Shoegaze, Dream Pop und Ambient. 1993 lösen sich viele Künstler mit „Longplayern“ aus dem Korsett des Kurz-Formates, vielleicht weil die verschiedenen Strömungen der elektronischen Musik das hergeben, vielleicht, weil es ein Publikum dafür gibt. Es ist ein Querschnitt mit den Alben, die ich subjektiv für gelungen und wichtig halte.

https://music.apple.com/de/playlist/der-gro%C3%9Fe-rockhaus-1993-elektronische-musik/pl.u-kv9lbxVt7K3BYRg

Autechre
Incunabula

(Warp, 1993)

Cover – Daniel 72. Britischer Underground-Designer (was auch immer das bedeutet…) und The Designers Republic, Cover Studio von Warp Records

1992 veröffentlicht das Warp-Label eine Compilation mit dem Titel Artificial Intelligence – ein Album, das so etwas wie die Harry Smith Anthology der IDM, des Acid-, des Ambient-, des Minimal Techno ist. Auf diese Compilation gehe ich an entsprechender Stelle für ’92 ein (schade eigentlich…) aber Warp macht 1993 weiter und veröffentlicht unter der selben Bezeichnung ein paar weitere Alben mit elektronischer Musik. Das beste aus dieser Reihe ist IMO das Debüt der beiden Manucian’s Rob Brown und Sean Booth. Die beiden haben sich schon ’87 zusammengetan, teilten das Interesse an HipHop und elektronischer Musik und veröffentlichten zunächst als Lego Feet und ab ’91 unter dem Namen Autechre Musik. Die Entwicklung, die dieses Duo in den folgenden Jahren bis heute (!) genommen hat, ist erstaunlich. Ihre Musik ist mitunter das Abstrakteste, was ich mir vorzustellen vermag, aber zugleich haben ihre Alben eine Wärme, einen organischen Kern, der selbst den zerhacktesten Tracks eine fundamentale Schönheit bewahrt. Incunabula, ihr erstes Album, ist im Vergleich mit den Alben ab 2000 regelrechtes Easy Listening. Zwar herrscht auch hier einerseits schon klinische Kälte, manche Tracks sind kantig und weisen in Richtung der Abstraktion, die sie in zehn Jahren mit Alben wie Draft 7.30 erreichen, aber auf Incunabula gibt es auch Momente melodischer Schönheit, wie ich sie auf Aphex Twin’s Selected Ambient Works 85-92 gefunden habe. Incunabula ist – ganz einfach gesagt – genauso bahnbrechend wie jenes Album, es kommt nur ein paar Monate später. Dass Autechre eine andere melodische Sprache sprechen, also kein Abklatsch von Aphex Twin sind, versteht sich. Ganz lustig: Noch haben auch ihre Tracks Titel, die man aussprechen kann. Aus dem Artificial Intelligence Beitrag „Egg“ haben sie hier „Eggshell“ gemacht. Beste Tracks unter vielen guten sind „444“ und „Autriche“. Aber – wie meist in dieser Musik – Die Atmosphäre des ganzen Albums ist das Ding hier. Eine Inkunabel ist übrigens ein mittelalterlicher, mit Bleibuchstaben gesetzter Druck -. der Vorläufer gedruckter Bücher.

Polygon Window
Surfing on Sine Waves

(Warp, 1993)

Cover – The Designers Republic. Siehe
Autechre

Musik. Die Entwicklung, die dieses Duo in den folgenden Jahren bis heute (!) genommen hat, ist erstaunlich. Ihre Musik ist mitunter das Abstrakteste, was ich mir vorzustellen vermag, aber zugleich haben ihre Alben eine Wärme, einen organischen Kern, der selbst den zerhacktesten Tracks eine fundamentale Schönheit bewahrt. Incunabula, ihr erstes Album, ist im Vergleich mit den Alben ab 2000 regelrechtes Easy Listening. Zwar herrscht auch hier einerseits schon klinische Kälte, manche Tracks sind kantig und weisen in Richtung der Abstraktion, die sie in zehn Jahren mit Alben wie Draft 7.30 erreichen, aber auf Incunabula gibt es auch Momente melodischer Schönheit, wie ich sie auf Aphex Twin’s Selected Ambient Works 85-92 gefunden habe. Incunabula ist – ganz einfach gesagt – genauso bahnbrechend wie jenes Album, es kommt nur ein paar Monate später. Dass Autechre eine andere melodische Sprache sprechen, also kein Abklatsch von Aphex Twin sind, versteht sich. Ganz lustig: Noch haben auch ihre Tracks Titel, die man aussprechen kann. Aus dem Artificial Intelligence Beitrag „Egg“ haben sie hier „Eggshell“ gemacht. Beste Tracks unter vielen guten sind „444“ und „Autriche“. Aber – wie meist in dieser Musik – Die Atmosphäre des ganzen Albums ist das Ding hier. Eine Inkunabel ist übrigens ein mittelalterlicher, mit Bleibuchstaben gesetzter Druck -. der Vorläufer gedruckter Bücher. Surfing on Sine Waves ist auch Teil der „Artificial Intelligence“ Serie – und bei Polygon Window handelt es sich um ein Alter Ego von Richard D. James aka Aphex Twin. Möglicherweise waren es vertragsrechtliche Gründe, die ihn dazu zwangen, auf Warp unter dem anderen Namen zu veröffentlichen. Die oben erwähnten Selected Ambient Works… waren auf dem belgischen Label R&S Records erschienen… aber Richard D. James hat im Laufe der Zeit unter etlichen Aliassen veröffentlicht – und sich in all der Zeit und unter all den Namen immer weiter entwickelt. Für mich ist Surfing… der zweite Schritt in Richtung der teilweise recht extremen Drill ’n Bass Spielereien auf kommenden EP’s und Alben. Jeder Track hier ist ein Experiment, beruht auf einer Idee, die bis zu einem gewissen Punkt ausformuliert wird. inzwischen hat James sich aus den stilistischen Fesseln des Acid Techno befreit – wenn er sich da jemals gefangen gefühlt haben sollte – und baut seine Tracks um kleine Piano-Figuren, komplexe, aber hier noch nachvollziehbare Beats oder kühle Synthie-Sounds mit dem geliebten Roland TR 808. Dass der Typ ein Musiker mit überbordendem Talent ist, kann hier auf neun Tracks nachvollzogen werden. „If it Really Is Me“ klingt wie französische Film-Musik mit House-Beat und Spuk-Atmosphäre, das folgende „Supremacy II“ beginnt mit schlicht hämmerndem 4/4 Beat, wird von immer mehr Elementen überlagert und verschwindet in nebligen Straßen. Dunkle Tracks wie „Untitled“ bauen auf einem straighten Beat auf, der dann von krächzendem TB 303-Synth überlagert wird und das abschliessende „Quino – Phec“ nimmt mit fließendem Ambient die Selected Ambient Works Volume II des kommenden Jahres vorweg. Inzwischen dürfte natürlich Vieles auf diesem Album altmodisch klingen – es ist schließlich über 25 Jahre her, dass so etwas in den Clubs gespielt wurde, aber ich finde es spannend, ein Genie am Anfang einer 5-jährigen Reihe von Alben und EP’s zu hören, die allesamt wegweisend für IDM, Ambient Techno, Ambient, Acid Techno, Drill and Bass etc sind. Dies ist ein Album von zeitlos dunkler Schönheit. Kein Wunder, dass das FACT Magazin es zu den 100 Besten der Neunziger zählt.

Black Dog Productions
Bytes

(Warp, 1993)

Artwork… The Designers Republic schon wieder

Der nächste Teil der „Artificial Intelligence“ Serie von Warp – Drei Musiker/Produzenten, die unter dem Namen Black Dog Productions dieses eine Album zusammenstellten, das halb Compilation, halb “reguläres” Album genannt werden kann. Es sind Ken Downie, Ed Handley und Andy Turner, die sich hier wieder unter unterschiedlichen Namen und in verschiedenen Kombinationen zusammentun, um ein paar Tracks zu produzieren, die dann auf Bytes zusamengefasst werden. Für die drei mag es von Bedeutung sein, wie sie sich jeweils nennen, ich höre hier eine gemeinsame Ästhetik – sicher beabsichtigt, die drei haben sich ja nicht nur zum Spaß unter einem Namen zusammengetan – und das, obwohl jeder einzelne Track hier als EP veröffentlicht wurde. Man hört Ambient, man hört komplexe Breakbeat-Rhythmen, man hört harte repetitive Techno-Beats, da gibt es mit “The Clan (Mongol Hordes)” einen regelrechten Hit, da machen Handles und Turner unter dem Namen Plaid – eine der Kombinationen, die bald mit einigen hervorragende eigenen Alben aufwartet – auf “Yamemm” hicksenden Breakbeat und auch hier gibt es mit “3/4 Heart“ einen Track, der bis heute haltbar ist. Ich lese immer wieder, dass diese Alben, diese Musik, den Ansprüchen der Modernität nicht genügt. Ich weiss nicht, ob es irgendwann möglicherweise einen Hype des Neunziger-Techno gibt, könnte es mir aber vorstellen. Mir macht die Musik HEUTE Spaß. Und mindestens zwei Ableger von Black Dog Productions – Plaid und Black Dog – haben Alben gemacht, die ich unbedingt erwähnen werde…

B12
Electro-Soma

(Warp, 1993)

Und wieder… The Designers Republic

Das hier ist mein letztes Beispiel der „Artificial Intelligence“ Reihe von Warp (… dazu kämen ’93 noch Alben von Speedy J und FUSE…- aber die fand ich nicht ganz so klasse). Die beiden Briten Michael Golding und Steve Rutter berufen sich auf Detroit Techno: Auf die Form von Techno, die wiederum Kraftwerk, den kalten Sound der Maschinen, die Roland TR-909 Drum Machine als wichtigstes Sound-Element betrachtet – die mit den sog. Belleville Three (Juan Atkins, Derrick May und Kevin Saunderson, die allesmt in die Belleville High School gingen) und mit Robert Hood und Jeff Mills eine der Pionier-Pflanzen des Techno darstellt. Auch diese zwei Briten helfen dabei – auf Betreiben des Labels – Techno auch als Musik für’s Zuhause Hören zu etablieren. Electro-Soma, ihr zweites Album immerhin, hat ebenfalls die Eigenschaften der drei vorher beschriebenen Alben: Funktioniert als komplettes Paket, ist tanzbar und entspannt, hat das Sound-Konzept, das die Vorbilder von Rutter und Golding erkennen lässt – aber eine eigene Stimme, der auch Elemente aus Ambient und dem heißen Scheiß der frühen Neunziger – IDM (Intelligent Dance Music – ein Begriff, der inzwischen anscheinend als diskriminierend wahrgenommen wird) – beinhaltet. Und auch Electro-Soma dürfte von etlichen Hörern als unmodern und schlecht gealtert wahrgenommen werden. Techno und Anverwandtes ist der Alterung ausgesetzt, wie jede andere Musik, aber hier wird der Alterungsprozess als Makel wahrgenommen, was mir aber wie gesagt egal ist. Denn Electro-Soma hat etliche tolle Tracks. Immer wird ein rhythmisches Grundgerüst aufgebaut, auf dem kühle, roboterhafte Sounds nach modernisiertem Kraftwerk klingen, B12 sind schlau genug, melodische Ideen nicht zu Tode zu reiten, belassen die Track-Länge bei Sessel-Hörer freundlichen max. sieben Minuten, sind bei „Basic Emotion“ nah am Ambient, erinnern mich beim Opener „Soundtrack of Space“ nicht nur durch den Titel an alte Berlin School Elektroniker wie Klaus Schulze – eben mit zusätzlich einsetzendem Beat – und haben natürlich auch alle weiteren Tracks mit schlauen Beats unterlegt – was dazu führte, dass Electro-Soma bei Altertums-Forschern als Referenzwerk des IDM gilt. Ich empfehle, sich weder von der Alterung der Sounds noch vom un-hippen Stilgepräge beeinflussen zu lassen. In 10 Jahern hört man solche Musik vielleicht ja so wie man heute die Kultur-Flagschiffe und Pioniere Kraftwerk hört. Wäre nicht unverdient

µ-Ziq
Tango N‘ Vectif

(Rephlex, 1993)

Cover – Foto Richard P. James aka Aphex Twin

Das Album hier hätte gut in die AI-Serie gepasst, finde ich. Mike Paradinos aka µ-Ziq hat nicht nur einen wirklich gut ausgedachten Namen, er ist – wie Richard D James (auf dessen Label Tango N‘ Vectif erscheint…) und wie Autechre – auch einer von denen, die den Boden der elektronischen Musik der kommenden Jahre mit haufenweise Ideen gedüngt haben. Sein erstes Album hat Paradinos mit dem Bassisten und Programmierer Francis Naughton gemacht, es ist – mehr noch als das hier zuvor gelobte Electro-Soma – ein Hybrid aus Musik, die zu Beginn der Neunziger gerade ihre Entdeckung, Entwicklung und Ausformulierung erlebt. Tango N‘ Vectif ist voller Kraft, Energie und Ideen – die man inzwischen kennen mag, die aber mit einer naiven Begeisterung hingestellt werden, die ergreifend ist. Ganz passend, dass der gerade 22-jährige bald als „bedroom composer“ mit Nerd-Brille und Pubertäts-Bärtchen in diversen Artikeln über Avantgarde und Elektronische Musik reüssierte – das war damals Revolution. Und mehr noch als die beiden vorher beschriebenen Alben ist Tango N‘ Vectif erstaunlich zeitlos. Paradinos baut auf „Swan Vesta“ komplexe Breakbeat Rhythmen um eine acht Noten Melodie, um krachende Cymbals und melancholische Strings, lässt im Mittelteil Tribal Beats blubbern, macht die sechs Minuten voll mit Ideen für drei Tracks. Und ist damit noch lange nicht fertig… „Iesope“ ist sehr minimalistisch und zugleich romantisch und zeigt wegen seiner Reduktion kaum Abnutzungs-Erscheinungen. Beim „µ-Ziq Theme“ türmen sich die Beats von Francis Naughton um ein wirbelndes Synth Appreggio, noch einmal klingt es nach Tribal Beats, die unter barocken Sounds begraben werden. Tango N‘ Vectif ist intelligent, minimalistisch und zugleich komplex, es ist natürlich auch wieder eines dieser Referenzwerke für kommende Trends – und steht gleichzeitig ziemlich allein. Selbst der Bezug zum Freund und Label-Boss Aphex Twin ist kaum erkennbar: Tango N‘ Vectif steht wie ein Solitär-Baum neben dem Wald der kommenden IDM, Ambient, Drill n‘ Bass etc pp Musiker. Sehr gutes Album, das inzwischen als erweiterte Version auf Vinyl re-issued wurde.

…and now for something completely different…

Orbital
s/t (Brown Album)

(London Sire, 1993)

Zur Einordnung der Musik hier ein klarer Satz: Das Brown Album von Orbital ist Techno… und sind somit in einer Ecke der Elektronischen Tanzmusik unterwegs, die schon ca. zehn Jahre auf dem Buckel hat – und die sich inzwischen – siehe etwa B12 – weit entwickelt hat. Immerhin machen die Brüder Phil und Paul Hartnoll ihre Musik seit den späten Achtzigern, sind ganz klar einer der einfallsreichsten Acts in dieser Szene und haben offenbar auch kein Problem, die komplette Album-Länge zu füllen. Ihr zweites Album hat alles, was man braucht, um Techno von seiner besten Seite kennen zu lernen: Die Beats, die Melodien, die Produktion – und am Wichtigsten – einen Flow und eine Kohärenz, die das Album über 65 Minuten trägt. Der Opening Track zitiert das Debüt, mit dem gesampelten Satz „There is the theory of the Möbius. A twist in the fabric of space where time becomes a loop“ eines Star Trek-Schauspielers, der auch das „Grüne Album“ eröffnete. Auf dem Brown Album befindet sich ihr größter „Hit“ „Halcyon + On + On“ – ein Remix der Single vom Vorjahr, ein absoluter Klassiker des Techno, eine der schönsten Singles der Neunziger, um es klar zu sagen. Orbital sind in der Zeit ihrer Existenz über Techno hinausgewachsen. Sie verarbeiten Tech-House, Soundtracks, Ambient, denken Drum ’n‘ Bass vor, injizieren Punk und Fahrstuhl- Muzak in ihre Tracks und bleiben völlig eigenständig und wiedererkennbar. Daher kann das Brown Album bei aller Konsistenz immer wieder mit neuen Ideen überraschen – und steht über aktuellen Trends. Wunderbar wie „Lush 2-3“ in das zehn-minütige „Impact (The Earth is Burning)“ morpht, das einen Chorus mit atonalen Hörnern bietet, eine wunderbare absteigende Lead-Melodie, die am Schluss ohne Rhythmus dasteht, um dann in „Remind“ – den härtesten Track des Albums überzugehen- mit harten Beats und Acid-Sounds, die nach Kreissäge klingen. Oder das vor Spannung bebende „Walk On“ mit seinen Didjeridoo-Sounds…. Die Spannung steigert sich über das komplette Album, egal wo man einsetzt, immer hört man Neues. Interessanterweise fiel mir zunächst nicht auf, dass es (bis auf die Sprach-Samples) ein rein instrumentales Album ist. Mag sein, dass auch dieses Album heute unmodern klingt – mir egal. Ich finde es zeitlos.

Front 242
06:21:03:11 Up Evil

(RRE, 1993)

Cover – Art & Strategy. Passender Namen für das DEsign zu dieser Musik…

Die Belgier Front 242 sind 1993 schon Veteranen, Pioniere der Electronic Body Music (oder EBM), der Verbindung von Post-Punk, Industrial und Pogo. Und Front 242 waren immer mehr als eine reine Tanzkapelle, ihre Präsentation als Band – ob Live oder auf den Alben – basiert genau wie ihre Musik auf einem klaren Konzept. Inzwischen ist die seit Beginn der Achtziger aktive Band eine große Nummer geworden. Sie sind mit Ministry auf Tour gewesen, ihre Musik wurde im Film „Weiblich, ledig, jung sucht…“ prominent verwendet – und sie haben beschlossen,sich zu verändern. 1993 veröffentlichen die vier Musiker kurz hintereinander zwei Alben, bei denen sie einerseits einen Schritt Richtung Songwriting und Synth Pop, andererseits in Richtung Techno, weg vom harten Industrial Sound versuchen. Das kam bei ihrem Stammpublikum nicht gut an – und es führte dazu, dass Sänger Richard 23 sie im Laufe der Aufnahmen verließ. Auf 06:21:03:11 Up Evil übernimmt Jean Luc De Meyer den Gesang, Tracks „Crapage“ erreichen trotz verzerrter Vocals und harter Beats fast Depeche Mode-Charakter – was sicher Geschmackssache ist. Der Vorwurf, dass sie Richtung Kommerz schielten, mag nicht ganz unberechtigt sein. Aber dazu habe ich meine klare Meinung: Mit Musik Geld verdienen halte ich nicht per se für verwerflich, solange die Qualität nicht leidet. Hier sind Tracks dabei, die gut geschrieben sind, bei denen die Idee von hartem Industrial etwas abgefedert wird durch fast poppige Melodik. Das kann ein bisschen albern werden – höre den Heavy-Stampfer „Fuel“ – aber es kann auch so atmosphärisch werden, wie bei „Motion“. Nur EBM im Sinne des Wortes UND wie man sie bis dato kannte, war das nicht mehr.

Front 242
05:22:09:12 Off

(RRE, 1993)

Cover – Art & Strategy

Mit dem ein paar Wochen später folgenden 05:22:09:12 Off ging es Richtung atmosphärischem, durchaus hartem Synth-Pop verbunden mit Techno noch einen Schritt weiter. Da kann man das Opening-Song-Trio „Animal-Cage“, „Animal-Gate“ und „Animal-Guide“ durchaus als Beispiel nehmen. Mit Kristin Kowalski aka 99Kowalsky singt hier eine Frau, deren Stimme ähnlich verfremdet wird, wie die von De Meyer, die aber auch ein paar „klare“ Passagen mitbringt, insbesondere der Mittelteil von „Animal-…“ ist reiner Techno, Andere Tracks hauen noch einmal kräftig in die EBM-Kerbe, sind buchstäblich „Körpermusik“ – so wie der vierte Teil der „Animal“ Reihe, „Animal-Zoo“. Dafür gibt es aber auch das zunächst rein atmosphärische „Junkdrome“, das nach zwei Minuten zum Beat-Monster wird. 05:22:09:12 Off ist womöglich noch etwas diverser als der Vorgänger – die Unentschiedenheit der Band-Mitglieder dürfte der Grund sein. Aber davon unbenommen ist es ein würdiger Abschluss für Front 242 – auch wenn es – eingedampft auf Ein Album – besser gewesen wäre. Danach kamen nur noch Re-Mixe und Live-Alben zur Vertragserfüllung zustande. Die beiden Alben-Titel übrigens basieren auf Zahlenverschlüsselungen: 06:21:03:11 Up Evil heisst „Fuck Up Evil“ und 05:22:09:12 Off steht für „Evil Off“…Und mit den Techno-, IDM-, Ambient-Alben hier zuvor haben Front 242 außer dem prominenten Einsatz von Rhythmus-Maschinen, Samples und Synth’s wenig gemeinsam.

Drome
The Final Corporate Colonisation of the Unconscious

(Ninja Tune, 1993)

Artwork – Drome und noch einige andere
Beteiligte

Natürlich wird nach wie vor solide elektronische Musik in Deutschland gebaut. Kraftwerk und Tangerine Dream haben da Grundlagen geschaffen, auf denen z.B. der Produzent und Musiker Bernd Friedmann ein bemerkenswertes Profil aufbauen kann. Friedmann hat zu Beginn der Neunziger zusammen mit Frank Hernandez unter dem Namen Some More Crime mit den Mitteln des Industrial gearbeitet, um sich dann – auch mit diesem gemeinsam – unter dem Moniker Drome an Dub und Chill-Out Spielereien zu delektieren. Er ist ein versierter Schlagzeuger, die verbesserten Möglichkeiten neuer Drum-Machines haben ihn wohl ebenso fasziniert wie Breakbeat und Techniken des Dub, und Final Corporate Colonization Of The Unconscious ist das erste wirklich gelungene Ergebnis aus diesen Experimenten. Diese Sache mit „Elektronischer Musik“, die wie zu Beginn gesagt auch gerne mit Sound-Manipulation arbeitet , kann man hier in lustiger Perfektion hören. Da werden Samples aus der Natur, Gesprächs-Fetzen, HipHop Breaks und heftiger Dub zu Tracks mit Titeln wie „Hinterland, Kassler Kessel“ oder „Steel Lung, Buy One“ zusammengebaut. Die Zusammensetzung mag manchmal an Frankenstein’s Monster erinnern, manche Synth-Sounds sind fast lächerlich 70er – aber ich unterstelle, dass das genau so geplant war. „Hoax, What Did You Got“ finde ich großartig, verbindet Breakbeat, Dub, Sprach-Samples und diese altertümlich-kosmische Elektronik zu einem bunten Strauss. Mag sein, dass so etwas heute völlig aus der Zeit gefallen ist – aber das gilt letztlich für Alles von Elvis über Dylan, die Pistols, Public Enemy bis zu Aphex Twin – und es wird immer so weiter gehn‘. Und die analogen Synthie-Sounds waren zwischendurch ja auch mal kurz wieder angesagt. Die Experimentierlust jedenfalls sprüht hier regelrecht hervor.

Thomas Köner
Permafrost

(Barooni, 1993)

Cover – Marc Jeuken

Auch aus Deutschland und genau so weit entfernt von den fünf Warp-Alben zu Beginn dieses Kapitels ist Thomas Köner’s Permafrost . Genauso weit weg, wie Front 242, wenn man’s genau nimmt. „Elektronische Musik“ ist eben ein Feld, das genauso groß und wild bewachsen ist wie „Indie-Rock“ etwa. Hier also Drone, oder Dark Ambient – Klangkunst mithin, die den Rhythmus komplett vergessen hat, die sich voran schiebt, wie ein Gletscher, hergestellt mit elektronischen Klangerzeugern. Köner betrachtet sich selber als Multi-Media Künstler, arbeitet für und mit bildenden Künstlern, beschallt Ausstellungen (mit großem Erfolg und hoher Reputation), macht Sound Installationen. Und Permafrost ist ein Schritt in diese Richtung. Der Titel ist Programm – wobei es sein könnte, dass ich die Kälte der Musik nur in Verbindung mit dem Titel empfinde. Das Spiel mit Assoziationen dürfte bei Drone eine große Bedeutung haben. Dieses Album jedenfalls erzeugt mit seinen fast statischen Klängen ein regelrechtes Unwohlsein, das frieren lässt. Ein Track wie „Firn“ besteht aus reinem, grau-weißem Rauschen, das sich nur in der Helligkeit des Tons verändert. Fast unmerklich unterlegte Synth-Sounds sehen aus, wie im Eis gefangene Strukturen. Das ist wohl das Prinzip: Diese Tracks sind multi-texturale Kreationen, aus verschiedenen kraftvollen Drones aufgebaut, die mal nach vorn, dann wieder nach hinten geschoben werden. Köner’s Idee, ein „arktisches“ Thema zu unterlegen, passt perfekt zu Drone – und ich bemerke ein weiteres Mal, dass die „Beschreibung“ gerade solch scheinbar konturloser Musik besonders schwer ist. Man muss sich das hier anhören, die monumentale Kraft bestaunen, mit der sich der über 10-minütige Titeltrack an dir vorbeischiebt. Dann kann man erkennen, dass Köner ein Meister dieser Kunst ist – und dass Permafrost zu Recht als Referenzwerk des Drone gilt. Sehr spannend ist übrigens auch, was Köner in Zusammenarbeit mit Andy Mellwig unter dem Namen Porter Ricks macht: Deren Biokinetics (’96) schafft als eines der ersten Alben seiner Art die Verbindung zwischen Köner’s statischem, weißen Rauschen und dubbigen Rhythmen – und Dub-Techno ward geboren…

Hoedh
Hymnvs

(Atmosphere, 1993)

Cover – Mir unbekannt

Wem der arktische Drone von Permafrost gefallen hat, den mag Hymnvs vom anscheinend irgendwo im Schwarzwald geborenen Thorn H. Thiel aka Thorn Hoedh aka Hoedh interessieren. Soweit ich erfahren habe, fühlte der 2003 verstorbene Musiker sich obskuren Gruppierungen zugehörig,die Okkultismus und Minimalismus in alle möglichen Lebensbereichen integrierten. Die Projekte, bei denen er mitmischte haben einen seltsamen Neo-Folk Anstrich (eines hieß Die Wappen des Thodt), der sie gefühlt in die Nähe „völkischer“ Gesinnung rücken – was ich aber bewusst und deutlich nicht mit ekelhaftem Nationalismus in irgend eine Verbindung bringen will. Aber was auch immer im Kopf von Hoedh vorgegangen sein mag – mit Hymnvs hat er eines der frühen ganz großen Dark Ambient/Drone/Trance Alben hergestellt. Faszinierend, wie weit das Feld ist, auf dem er sich bewegt – will sagen, wie weit entfernt von Thomas Köner er sich trotz vergleichbarer Mittel befindet. Auch auf Hymnvs werden einfache Klangböcke voran geschoben, unterlegt von Kratzen, Störgeräuschen, scheinbarem Flüstern. Mich erinnert der technische Aufbau der teils sehr langen Tracks an die Art von Musik, die Gas auf Alben wie Zauberberg geschaffen hat. Auch Hoedh sampelt offenbar klassische Orchester-Musik und bringt sie auch in einen ähnlichen Zusammenhang, Das kann mal klaustrophobisch, mal erhebend werden, das klingt nach großem Kino und ist zugleich Lo-Fi, organisch und mechanisch in Einem. Und wo bei Gas stets ein Puls im Untergrund schlägt, da wiegt hier höchstens die ruhige Brandung. Die blechernen Untertöne bei Tracks wie „Hymnus (Neuprogammierung)“ sind gewiss gewollt, bei den paar Info’s die ich anderswo gelesen habe, wird ständig die Melancholie oder gar Depression dieser Musik betont – ich kann das nicht ganz nachempfinden. Melancholie – Ja, aber diese Musik strahlt auch Ruhe aus: Ich zitiere Worte, die ich im „Listen to This“ Blog gelesen (und frei übersetzt) habe: „…als würdest du langsam rücklings unter die Wasseroberfläche sinken, während immer wieder Lichtstrahlen die bewegte Oberfläche durchstoßen…“ So wird hier die Melancholie immer wieder von Ruhe oder gar Glücksmomenten unterbrochen. Neben Gas würde mir als Vergleich der erst in den 10er Jahren mit ähnlichen Klängen reüssierende Leyland Kirby aka Caretaker einfallen. Wer den kennt und mag, den wird Hymnvs erstaunen. Und natürlich – IDM it ain’t

Seefeel
More Like Space EP

(Too Pure, 1993)

CD Cover – Jane Brownhill. Vinyl ohne Cover

Man kann sich trefflich darüber Streiten, ob die Musik von Seefeel nun Shoegaze heissen soll, oder ob ihre ’93er EP und die folgende LP „Elektronische Musik“ genannt werden sollten. Zumal Shoegaze mit all den Sound-Manipulationen (…der Giatarren…) noch mehr als jede andere „normale“ Form von Rockmusik im Dazwischen liegt. Mein Grund für die Positionierung dieser beiden 93er Veröffentlichung ist ihr baldige Label-Wechsel zu Warp und die Tatsache, dass Aphex Twin ihre Single „Time to Feed Me“ noch in diesem Jahr re-mixt. Und natürlich die Tatsache, dass diese Alben dem Autechre-Hörer evtl. gefallen könnten. Immerhin: Beide Alben sind großartig – egal wie man ihre Musik nennt. Seefeel hatten ’92 als relativ normale Shoegaze-Band begonnen, weil ihnen die Rock-ismen missfielen, integrierten sie bald Elemente aus Ambient, IDM und Minimal Music – und wurden so unverwechselbar. Der Titeltrack der More Like Space EP ist tatsächlich schon perfekt in seiner Verbindung von Dream Pop/Shoegaze mit Texturen aus der elektronischen Musik. Das grundierende Rauschen klingt eindeutig nach Gitarren a la My Bloody Valentine, die klickenden Rhythmen – ein weicher Bass-Lauf, verwaschene Beats vom Drum-Computer, dann irgendwann die Shoegaze-typische Frauen-Stimme, die wortlos singt, acht Minuten minimale Verschiebungen… Das war neu und ist bis heute spannend. Die More Like Space EP musste ich beschreiben, weil sie toll ist, aber diese und weitere EP’s und Tracks werden ’94 unter dem Titel Polyfusia kompiliert. Die bessere Wahl.

Seefeel
Quique

(Too Pure, 1993)

Cover – Jane Brownhill

Zumal Seefeel jetzt einen Lauf hatten, und Ende des Jahres ihr erstes Album veröffentlichten. Quique perfektioniert den Ansatz – Mark Clifford nutzt nur noch vereinzelte Gitarren-Chords als Grundlage für Sound-Skulpturen, die sich langsam aufbauen und dann wie Wellen am Strand auslaufen. Dazu werden untergründige Rhythmen von Bass, Drums und Computer generiert, über die sich nur noch ab und zu Sarah Peacock’s wortloser Gesang erhebt. Quique ist ozeanischer Shoegaze, es zeigt, wohin diese Musik gehen kann, wie sie in die elektronische Welt fließt – und wie sich dort die Grenze zwischen elektronischer Musik und Shoegaze auflöst. Quique ist somit nicht nur interessant und wegweisend – es ist auch ein Album von berückender Schönheit. Müsste ich eine einzelnen Track empfehlen, so würde ich „Plainsong“ nennen. Nach diesem Album wechselten Seefeel wie gesagt zum Warp-Label, auf dem Nachfolger Succour wurde das Klang-Konzept noch einmal reduziert, was ihre Musik spannend und schön, aber leider auch so unzugänglich machen würde, dass der verdiente Erfolg ausblieb. Quique ist ihr konsumerabelstes Album..