1988 – Doom, Carcass, Napalm Death, Bolt Thrower – Grindcore Vomitation

In diesem Jahr türmt sich in meinen Augen die Welle der schmutzigsten Variante des Death-Metal auf, um sofort zu „brechen“: 1988 wird Grindcore zu Ende dekliniert.

…was in diesem Falle heisst – selbst die Musiker der Jazz-Szene, die bald den Grindcore als Spielfeld entdecken, bekommen mit den Carcass- und Napalm Death-Alben, sowie mit dem Debüt der War-Gamer Bolt Thrower und den crust-punkigen Doom alle Einzelteile ihrer Leidenschaft auf einem blutigen Tablett präsentiert – was nicht heisst, dass es nach ’88 keine tollen und wegweisenden Grindcore-Bands/Alben mehr geben wird. Am Ende des Artikels werde ich zehn der schönsten Beispiele aufzählen, die es für Grindcore gibt. Zunächst weise ich aber auf Folgendes hin: Grindcore ist zu Beginn seiner Entwicklung eine (fast) rein britische Angelegenheit, die vom britischen Crust-Punk und D-Beat beeinflusst ist (Siehe Doom…). Demnächst begeistert der Lärm auch junge Musiker in den USA und anderen Ländern, er wird mit Hardcore, Death Metal – und mit Free Jazz – vermischt, und so tauchen in meinen Top Ten Alben auf, die in den USA oder Japan entstanden sind – die jeweils verschiedene Facetten des Grindcore betonen. Für den unvorbereiteten Hörer mag der Unterschied zwischen den verrottenden Fleichfetzen von Carcass und den Trümmern, die ein Albums der Nails hinterlässt zunächst schwer zu erkennen sein. Diese Musik ist per Definition nie „schön“. Es geht um harte, politische Aussagen, um Abseitiges und Unappetitliches und die Musik SOLL wehtun. So mögen die Bands auf den Ersten Höreindruck kaum zu untescheiden sein, weil sie alle mit abartigem Tempo durch teiweise nur Sekunden dauernde Tracks rasen. Die Gitarren sind extrem verzerrt, der „Gesang“ ist unverständlich, eventuelle „Soli“ verschwinden unter Bergen von Bass und den Blastbeats der Drums. Und dennoch wird der Initiierte auch hier – wie bei den meisten mit „Noise“ verbundenen Bands und Alben – die Unterschiede bald heraushören. Grindcore war eine Reaktion auf verschiedene Entwicklungen: Death Metal war zwar noch Underground, war extrem und provokant, war aber eben „Metal“… die hier vorgestellten Bands wollten schlicht NOCH extremer und provokanter sein. Dass Bands wie Napalm Death (die mit ihrem Vorjahres Album Scum als „Erfinder“ des Grindcore gelten), oder deren Kinder Brutal Truth oder Jahrzehnte später besagte Nails in ihren Aussagen hoch-politisch sind, zeigt, wie tief Grindcore in der linken Anarcho-Punk-Szene verwurzelt ist. Aber was diese Grindcore Bands veröffentlichten, war bis dato „unerhört“. Hier also die ersten Alben, die durch eine reguläre Veröffentlichung einem ein bisschen breiteren Publikum bekannt wurden. Sie waren ’88 weithin hör- und sichtbar. Und ich will sie loben… wie es auch DJ John Peel tat.

Doom
War Crimes: Inhuman Beings

(Peaceville, 1988)

…wie zum Beispiel die Crust-Punks von Doom. Die hatte John Peel diverse Male in seiner Sendung gespielt, die hatten für ihn damals einen ähnlichen Stellenwert, wie die bald weit erfolgreicheren Napalm Death. Aber in den Jahren zwischen ’86 und ’90 war es so, dass in Demo-Zirkeln UND auf Experten-Labels wie Earache und Peaceville eine ganze Ladung Grindcore- und Crust-Punk erschien. Vergleichbare Bands wie The Electro Hippies, Extreme Noise Terror oder Anti-Cimex sind nicht lange in den Ohren der Metal-Gemeinde geblieben, Aber Ende der 80er hat John Peel sie oft gespielt und es war tatsächlich angesagt, das eine oder andere Crust-Punk Album neben seinen Discharge Platten zu hören. Und einer der vergessenen Meilensteine aus dieser Ecke der extremen Musik ist das Debütalbum von Doom. Bei der Band aus Birmingham hatte noch im Vorjahr Napalm Death-Gründer Mick Harris die Drums zertrümmert, für ihr erstes Album war mit Stick aka Tony Dickens ein fast genauso schneller Mann dabei. Doom spielen auf War Crimes: Inhuman Beings das, was man unter sog. „Experten“ Crust-Punk nennt – was genau genommen schlicht Grindcore mit noch deutlicherem Punk-Anteil ist (oder umgekehrt…). Das wiederum heisst: Man kann das Gegröhle des Sängers fast verstehen, manchen Song könnte man sich mit weniger Tempo als Punk-Hymne vorstellen. Der Titeltrack und „Stop Gap“ sind dafür wunderbare Beispiele, sie haben aber eben auch die Schwäche, die die Musik von Doom durchzieht. Die Drums sind schlichter D-Beat, ein einfaches schnelles Umta-Umta, der Sänger gröhlt ebenso schlichte Parolen: „Millions are slaughtered in wars throughout the world, War is big business“… was du nicht sagst. Aber Grindcore und Crust Punk war keine intellektuelle Musik zur Kontemplation, es ging um Hart, Schnell, Laut und Provokant. Und das bot dieses Debütalbum zur Genüge. John Peel war wie gesagt beeindruckt und ließ Doom eine Session aufnehmen, die in ihrer Kürze (etwas mehr als 26 Minuten) vermutlich auch reicht. Somit soll dieses Album als Beispiel für die Wurzeln des Grindcore stehen. Das wirklich gute Zeug kommt jetzt…

Napalm Death
From Enslavement To Obliteration

(Earache, 1988)

Napalm Death’s oben genanntes Debütalbum Scum aus dem Vorjahr mag Epitom und Grundstein des Grindcore sein, aber es ist ein zerrissenes Album – weil es von zwei Produzenten und mit zwei Besetzungen eingespielt wurde. Es ist dieses zweite Album hier, welches Napalm Death in ihrer ganzen Herrlichkeit zeigt. Mit den diversen Besetzungswechseln, die inzwischen nur noch Drummer Mick Harris als Ur-Mitglied hatte übrig bleiben lassen, war die Hardcore-Punk Seite ihres Sounds durch mehr Death Metal Einflüsse erweitert worden – und damit spielten Napalm Death den Grindcore, der sie zu einer festen Größe etablieren würde. Das bedeutet: Scum ist revolutionär, From Enslavement to Obliteration ist in einigen Belangen beeindruckender, interessanter und… leichter zu konsumieren (?). Die „crusty“ Punk- und Hardcore–Seite wurde mit dem zweiten Album freilich noch nicht weggeworfen, sondern ergänzt um Death Metal-Brutalität und -Heavyness, einen cleaneren Sound und einen ganz eigenen Wahnwitz. Ein Grund für die größere Klasse dieses Albums ist, dass nun bessere Produktionsbedingungen herrschten, da das sich langsam für Extrem-Metal etablierende Label Earache inzwischen u.a. durch den DJ John Peel Anerkennung und Verkaufszahlen bekam (Scum war im Vorjahr auf Platz 8 der Indie Charts gelandet…). Auf …Enslavement…. übertönen Mick Harris‘ Drums nicht den Fuzz-Bass von Shane Embury oder die finsteren Growls und hysterischen Kreischorgien von Lee Dorrian. Die Musiker hatten einzeln und als Band an Erfahrung gewonnen und das Songmaterial war ausgereifter, nicht mehr NUR extrem – und die Band hatte das Material vorher geprobt…! 27 Songs in 34 Minuten, die Song-Längen variierend von 20 Sekunden bis zu üppigen 3:13 Minuten beim kriechend langsamen Opener „Evolved As One“, ein völlig abgedrehtes GITARRENSOLO beim 40-sekündigen „Uncertainty Blurs the Vision“, das folgende „Cock Rock Alienation“ regelrecht strukturiert – aber auch und immer wieder Tracks, die dahinrasen wie Lawinen: Bass und Gitarre sind kaum auseinander zu halten, Fuzz-getränkt wie sie sind, Lee Dorrians Vocals mögen unverständlich sein, er legte aber großen Wert auf die anti-kapitalistischen und im Textblatt zu verfolgenden Lyrics – und es war klar, was er da „kreischte“. From Enslavement… ist nicht wirklich „extremer Metal“, es ist eigentlich nur extrem. Zum Entsetzen aller Fans gepflegter Rockmusik lobte Radio DJ Guru John Peel die Band immer weiter, und das Album schoss auf Platz 1 der UK Indie-Charts. Dann verließen Lee Dorrian und Gitarrist Bill Steer die Band und mit ihnen ging anscheinend der letzte Rest Hardcore-Geist. So wurden Napalm Death zu einer Death Metal Band mit Grindcore-Roots, die auch ihre Meriten hat. aber so einzigartig wie hier klangen sie nie wieder.

Carcass
Reek Of Putrefaction

(Earache, 1988)

Es gibt diese Alben, die komplette Sub- Genres definieren: Ein solches ist Reek of Purtrefaction (Der Geruch von Verwesung…). Carcass verschoben mit ihrem Debütalbum die Vorstellung von extremer Musik genauso weit, wie sie die Darstellung einer Band via Cover und Lyrics revolutionierten. In beider Hinsicht boten sie ein Komplettpaket, das bis heute zwar etliche Male kopiert, an geplanter und lustiger Geschmacklosigkeit jedoch nicht mehr übertroffen wurde. Und diese Aussendarstellung machte Sinn, denn tatsächlich klingen Carcass ’88 so wie das Cover (das natürlich sofort indiziert wurde) aussieht. Die ausgesprochen versierten Musiker schufen einen bewusst primitiv gehaltenen Grindcoresound mit mehrfach übereinander geschichtetem Gegurgel und (selbstverständlich im Textblatt mitgelieferten) Texten, bestehend aus blutigsten, eitrigsten, explizitesten Detailbeschreibungen aus den unappetitlichen Sparten der Pathologie, unterlegt mit dumpf rasendem Gepolter von Drums, Bass und Gitarre. Dass die „Soli“ der Musiker minutiös in den Texten vermerkt wurden, setzte der Absurdität die dornige Krone auf. Sie nutzten die Erkenntnisse, die Napalm Death ein paar Monate zuvor mit ihrem Album Scum errungen hatten, um deren politischen Grindcore in die von ihnen entdeckte blutverschmierte Ecke zu schieben. All das mag kindisch oder krank scheinen, auf jeden Fall wurde es zu einem oft wiederholten Konzept. Carcass wurden mit der Zeit „ernsthafter“ – das heißt der Sound wurde klarer und die Texte boshafter – und schon der Nachfolger Symphonies of Sickness vom folgenden Jahr war um ein paar Milli-Liter Eiter ausgefeilter – dennoch: Reek of Purtrefaction würde ich als definitiven und perfekten Klassiker dieses Genre’s bezeichnen. Wer das nicht anerkennt, wird die ganze Musik-Gattung und ihre Ästhetik geschmacklos finden: Eine Musik-Gattung mithin, die man so geschmacklos oder geschmackvoll finden kann, wie Spaltter-Movies. Carcass machten übrigens – ähnlich wie Napalm Death – mit besagtem zweiten Album im kommenden Jahr IMO das „bessere“ Splatter-Grindcore Album – deshalb steht dieses hier bei mir nicht ganz oben auf der Liste der Prioritäten… Aber das erschreckendere Hörvergnügen ist ganz ohne Zweifel Reek of Putrefaction. Und das liebevoll zusammengeschnipselte Cover macht den Kauf dieses Albums dann endgültig zur Pflicht.

Bolt Thrower
In Battle There is No Law

(Vinyl Solution, 1988)

Wie Napalm Death und Carcass waren Bolt Thrower Pioniere des Grindcore, die sich im Laufe der Zeit in einen bedeutenden Brutal Death Metal Panzer verwandelten… und damit eine Dekaden andauernde Karriere mit etlichen Alben-Highlights aufbauten. Ihr Debüt In Battle There Is No Law allerdings war noch erkennbar von Crust-Punk Einflüssen durchsetzt – und damit eines der Fundamente des Grindcore…. und somit eine ebenfalls sehr „britische“ Angelegenheit. Wie man an den vier hier beschriebenen Beispielen sieht, war End-80er Grindcore sozusagen die UK-Version des US-Death Metal, der sich ja auch gerde erst aus der Demo-Phase herausgrub. Die Unterschiede sind erkennbar (wenn man sie bemerken will…): Das losere Zusammenspiel, die Beats aus dem Crust-Punk – als Referenz zu Discharge und im Fall dieses Debüt’s ein schwarz-weiss gezeichnetes Cover. Das würde sich ändern, die Kriegs-Thematik in allen Facetten würde bald beherrschend sein, sie bekamen für das nächste Album (Realm of Chaos im kommenden Jahr) ein Cover vom Spielehersteller Games Workshop gestellt, ihre Ästhetik würde näher an den Death Metal rücken… aber schon auf In Battle There Is No Law hatten sie Schlagseite Richtung Death Metal. Insbesondere die Riffs sind nah an dem, was in 2-3 Jahren in den USA unter dem Begriff Death Metal laufen würde. Dennoch – Tracks wie „Challenge For Power“ oder „Blind to Defeat“ sind brutalster Crust Punk mit einem Front-Grunzer, der langsam seinen einmaligen Stil findet. Karl Willetts war eigentlich ihr Tourbus-Fahrer. Dass er dann das Mikro übernahm war ein Glücksfall für die Band. Seine Art abgehackt zu Growlen ist einmalig, wurde zu einem wichtigen Teil ihres speziellen Stils. Genaus wie die Tracks, die voranrollen, wie ein Panzer und die abgehackten Leads der beiden Gitarristen. Dass sie mit Jo-Anne Bench eine Frau am Bass dabei hatten, die das rollende Ungetüm gemeinsam dem Drummer Andrew Whale in Bewegung setzte, war dann auch noch bemerkenswert… genau wie ihre Fan-Nähe und die proletarisch niedrigen Ticket Preise. Diese Band war seinerzeit tatsächlich einmalig, sie wurde – wie Napalm Death – vom Kult-DJ John Peel (dessen damalige Bedeutung man nicht überschätzen kann…) gefeiert und zu BBC-Sessions eingeladen, sie legten eine beeindruckende Karriere hin. Sie haben in einer Musik-Gattung, die sich nicht dadurch auszeichnet besonders wiedererkennbare Bands hervorzubringen, tatsächlich einen eigenen Stil entwickelt. Und Tracks wie „Forgotten Existence“ oder „Concession of Pain“ sind trotz etwas dumpfer Produktion perfekt.

Die Besten 10

Insbesondere durch die drei Alben von Carcass, Napalm Death und Bolt Thrower war Grindcore als Genre definiert. Dieser Stil veränderte sich ab jetzt nur noch in Nuancen – oder er wurde zum Free-Jazz erkärt…

Ich würde jedem, der Grindcore kennen lernen will, folgende Alben (die ich in kommenden Metal-Artikeln beschreiben werde) empfehlen:

Napalm Death – Scum (1987) – Das alte Testament des Grindcore

Napalm Death – From Enslavement to Obliteration (1988) – siehe hier oben

Terrorrizer – World Downfall (1989)

Repulsion – Horrified (1989)

Carcass – Symphonies of Sickness (1989)

Naked City – Torture Garden (1990) Grindcore-FreeJazz

Brutal Truth – Need to Control (1994)

Discordance Axis – The Inalienable Dreamless (2000)

Pig Destroyer – Prowler in the Yard (2001)

Nails – You Will Never Be One of Us (2016)

… und es fehlen womöglich: Naked City – Grand Guignol (1992) – ein zweites Beispiel für Jazz-Grindcore, Assück – Anticapital (1992) – politisch so eindeutig Links wie Napalm Death, aber noch mehr im Punk verwurzelt, Cattle Decapitation – The Antrophocene Extinction (2015) – wenn ich mal „modernen“, von Death Metal stark beeinflussten Grindcore hören will… oder Wormrot’s Hiss (2022). Grindcore in sehr abwechslungsreich und schlau… aber ich könnte auch Alben von anderen Meistern wie Anaal Nathrak oder Rotten Sound schwärmen. Wer tiefer in die Materie einsteigt, wird darauf stoßen.