1985 – Minutemen bis Volcano Suns – Die Transformation des Hardcore oder… Gimme Indie Rock

Es gibt dieses tolle Buch von Andrew Earles mit dem von der Band Sebadoh entliehenem Songtitel „Gimme Indie Rock“. In dem werden einige der hier beschriebene Alben als wichtige Beispiele für den extrem heterogenen (Stil-)Begriff Indie Rock vorgestellt.

Da das Buch nie ins Deutsche übersetzt wurde, die Beschreibungen/Reviews Vieles sagen, was ich richtig finde, werde ich sie hier nutzen/teils zitieren. Der Auswahl von Andrew Earles folgend habe ich mir hier 14 Bands für die Beschreibung einer Musikform ausgesucht, die sich seit dem Anfang der 80er entwickelte und immer wichtiger wurde – und die in den 90ern zum neuen Mainstream wurde. Es war Musik, die sich – mindestens zu Beginn – nicht den Vorgaben großer Plattenfirmen und ausgefeilten Business-Plänen unterwerfen wollten. Gemacht von Musikern, die dem Spaß und einer künstlerischen Vision folgten, die ihre Musik aus Leidenschaft machten, die sich Nischen aussuchten, die nicht vom Format-Radio vollgespielt waren. Diese Alben wurden veröffentlicht von Labels, die von Liebhabern/Musikern gegründet wurden, die meist schlicht keinen Business-Plan hatten – und dies oft zum eigenen finanziellen Nachteil durchzogen. Das Ergebnis waren Alben, die durchaus in den Colleges der USA gehört und von deren unabhängigen Radio-Stationen gespielt wurden. Die hier vorgestellten Alben haben aber im Gegensatz zu den Alben im Artikel Gimme US-College Rock ihr Fundament im US-Punk/Hardcore. Etwas, das viele College Radio Stationen bei all ihrer „Independency“ trotzdem eher abgeschreckt hat. Der durchschnittliche Student in den USA fühlte sich mit R.E.M. wohler, als mit den Dead Kennedys – allein schon weil Letztere immer linke, oft auch radikale politische Positionen einnahmen – was in den USA bis heute mindestens „auf dem Land“ eher anrüchig ist. Vielleicht konnte Indie Rock-US Style gerade deshalb so werden, wie er wurde: Als Trotzreaktion auf eine Denkweise, die explizit amerikanisch ist. Politische, „linke“ Rock-Bands waren in Europa nicht unnormal – und wurden von ihrem europäischen Publikum meist problemlos anerkannt. In den USA wurden und werden sie bis heute von großen Teilen der Gesellschaft misstrauisch bis feindselig betrachtet – und reagieren darauf womöglich sogar mit stärkeren Aussagen, als es Band aus Europa jemals mussten. Ganz einfach gesagt: Als Jugendlicher „links“ sein ist in den USA ein größeres Risiko, als in Europa – und eine solche Denkungsart fördert anscheinend auch Musik, die extreme Ecken ausleuchtet. Genau das tun die hier unten beschriebenen Alben in dieser Zeit mit immer größerer Bandbreite. Hardcore-Punk ist nur noch ein Startpunkt, von dem aus es in Ecken der Rockmusik geht, die von vielen alten Fans (noch) misstrauisch betrachtet werden. So wuchern die meisten Alben hier aus Hardcore-Punk in Richtung Doom, Metal, Jazz, Avantgarde… oder auch Pop und sind damit das, was in 4-5 Jahren Indie Rock genannt werden wird.

https://music.apple.com/de/playlist/der-gro%C3%9Fe-rockhaus-1985-indie-rock/pl.u-gxblkPRF5zRNABq

Camper Van Beethoven – Telephone Free Landslide Victory
(Rough Trade, 1985)

…auch im Kompendium von Andrew Earles beschrieben. Und von mir im Artikel über College Rock 1985 untergebracht. Somit auch (m)ein Hinweis darauf, dass „Indie Rock“ und „College Rock“ oft dasselbe meint. Es gibt da keine Stil- Abgrenzungen…

Hüsker Dü – New Day Rising
(SST, 1985)

Der erste Schlag der SST-Hardcore Pioniere in 1985. Und zugleich der Anfang vom Ende der Band. So wichtig, dass es mit dem anderen ’85er Album im Hauptartikel 1985 beschrieben wird…

Hüsker Dü – Flip Your Wig
(SST, 1985)

… mit dem zweiten Schlag der Hardcore-Pioniere, die ihren Hardcore (genau wie die Minutemen) schon von Minute Eins an weiter gedacht haben.

Minutemen
Project Mersh

(SST, 1985)

Nach dem letztjährigen Meisterwerk Double Nickles on the Dime waren die Minutemen wieder auf Tour gegangen, um dann aber schnell eine neue EP hinterher zu schießen. Und wie diese drei Jungs so waren – Project Mersh war als ironischer Kommentar zur „Kommerzialisierung“ ihrer Musik gedacht – Double Nickles… war immerhin eine Doppel-LP, Hardcore war nicht mehr ihr Geschäft – sie hatten sich von Beginn an nicht einer hermetischen „Szene“ zuordnen lassen wollen. Und so kamen auf ihre neue EP sechs Tracks mit allem Drum und Dran, das ein MOR-Album so hatte. Tracks meist über drei Minuten Länge, Fade-Outs an die Enden der Songs, sogar ein Synthesizer hier und da, gespielt vom Produzenten Ethan James… Da mag damals tatsächlich irgendein Idiot etwas von „Verrat“ gefaselt haben. Dass sie mit „Hey Lawdy Mama“ wieder eine Cover-Version dabei hatten – diesmal von Steppenwolf, die in Hardcore-Kreisen doch auch eher verdächtig sein müssten… nun ja, auch das war subversiv. Wenn man die Geschichte dieser Band aber kennen lernen will, dann ist diese EP ein wichtiger Schritt. Eine Bestätigung des Eklektizismus des vorherigen Doppel-Albums, eine weitere Showcase der fröhlichen Virtuosität, der Ironie und der Klasse einer der wichtigsten US-Bands der frühen 80er. Dass die Songs hier allesamt eingängig mit Widerhaken sind, einfallsreich und komplex zugleich, dass sogar die Cover-Zeichnung von D. Boon ihren Hintersinn darstellt – da sitzen drei Plattenfirmen Executives, und beschließen „…I got it! We’ll have them write hit songs!“ – All das zeigt, wie glaubwürdig die Minutemen letztlich waren

Minutemen
3-Way Tie (For Last)

(SST, 1985)

…und nach dieser feinen EP nahmen die Minutemen im Sommer ’85 3-Way Tie (For Last) auf. Ein Album, das mit Hardcore Punk noch weniger zu tun hatte, als die Alben von Hüsker Dü oder Black Flag respectively. Nun – SST und die ganze „Szene“ weitete ihre stilistischen Grenzen – wie ab jetzt gebetsmühlenartig wiederholt – in alle Richtungen auf. Und dadurch wurde dieses Album zu einer letztlich etwas zerrissenen Angelegenheit. Es gab tatsächlich fünf Coverversionen aus recht unterschiedlichen Ecken:“Ack Ack Ack“ von den Haiku-Punks The Urinals und „Lost“ von den Meat Puppets waren ja scheinbar näher an den Hardcore-Wurzeln der Minutemen, Roky Erickson’s „Bermuda“ auch noch nachvollziehbar, aber CCR’s „Have You Ever Seen the Rain“ und „The Red and the Black“ vom Blue Öyster Cult waren etwas überraschend. Andererseits – auf Double Nickels… hatten die Minutemen schließlich auch Van Halen und Steely Dan gecovert. Seltsam gewählte Coverversionen waren also eine sichere Bank. Und vor Allem „The Red and the Black“ von BÖC ist eine Wucht. Die mochten Hard Rock… Auf den eigenen Tracks aber wurde wieder wild experimentiert. Vor allem auf der zweiten LP-Seite gibt es kurze, wilde Ausbrüche über alle Grenzen des Hardcore hinaus. Ob das „Spoken Word Piece“ von Bassisten Mike Watt… das man auch blöd finden kann. Die drei folgenden Pamphlete, die Watt mit der Black Flag Bassistin Kira Roessler geschrieben hatte, sind wiederum experimenteller (Punk) Rock. Oder das seltsame Gegniedel vor dem Song-Teil von „Situations at Hand“. 3-Way Tie (For Last) hat nicht die Klasse von Double Nickles… es könnte der Schritt in eine interessante Richtung geweswn sein, aber kurz nach den Aufnahmen verunglückte Gitarrist D. Boon tödlich – und die Minutemen waren Geschichte. Mike Watt und Drummer George Hurley machten mit fIREHOSE weiter und würden mit denen nicht ganz so eklektizistisch werden. Was auch nicht schlecht war.

Black Flag
In My Head

(SST, 1985)

Vieles auf In My Head – dem vorletzten Album von Black Flag wurde vor dem ebenfalls ’85 veröffentlichen, ziemlich schwachen Album Loose Nut aufgenommen – welches ich hier nicht weiter erwähnen will. Eigentlich war In My Head als Greg Ginn-Solo-Album gedacht (… der Titel allein…), auch wenn hier Henry Rollins brüllt und die Band dieselbe ist, wie auf den vorherigen Alben. Aber Black Flag waren in den letzten Jahrens sowieso zu Ginn’s persönlicher Spielwiese geworden, auf der seine Bandmates letztlich nur das machten, was er ihnen befahl. Black Flag hatten sicher von Beginn an polarisierende Musik gemacht – aber seit My War war ihnen ein Teil des Hardcore Publikums verloren gegangen – weil Greg Ginn aus seiner Vorliebe für Doom, Metal, Jazzrock u. dgl. kein Geheimnis machte und entsprechende Songs performte. So ist In My Head ganz logisch so etwas wie die Fortsetzung des vorherigen Albums Slip It In. Die Songs sind nicht so, wie auf dem Hardcore Klassiker Damaged. Da gibt es zerquälte Gitarrensoli auf „The Crazy Girl“, selsame, gedehnte Melodiebögen, über denen Grinn Skalen ausprobiert, Tracks die klingen, als wollte eine Hardcore-Band King Crimson und John Coltrane zugleich belehnen… was vielleicht genau das ist, was Ginn hier bei Tracks wie „In My Head“ vorhatte. Immerhin aber gibt es eine pure (langsame) Punk-Hymne wie „Retired at 21“. Und auch dass das Album wieder so aufgenommen ist, als würde die Band über eine mittelmäßge P.A. direkt in deinem Zimmer spielen, dass insbesondere Ginn’s Gitarre die Ohren zum Klingeln bringt, mag man als Teil der nach wie vor lebendigen Hardcore Ethik lesen. Denn letztlich waren Black Flag doch immer noch Hardcore. Man hätte den alten Fans einfach sagen müssen, dass so ein Stil sich eben ändert… Aus dieser Sicht ist In My Head eines ihrer besten Alben.

D.C.3
This Is the Dream

(SST, 1985)

Im Buch Gimme Indie Rock werden sie nicht erwähnt… aber sie sind einer der zu Unrecht vergessenen SST-Acts. D.C.3 wurden ’83 vom Ex-Black Flag Sänger Dez Cadena gegründet – und der hatte eine Vorstellung von Freiheit beim Musik-Machen, die der von Greg Ginn ’85 nah stand. Schließlich veröffentlichte Ginn Cadena’s Band ja auch auf seinem Label. This Is the Dream klingt wie ein britisches Progressive-Rock Album vom Anfang der 70er, eingespielt von Black Sabbath-Verehrern, aufgenommen mit der Ästhetik des Hardcore. Und genau das war wohl auch Cadena’s Absicht. Er hatte schon bei Black Flag Gitarre gespielt, er wollte die Bands seiner Jugend feiern, er hatte seine eigenen Ideen und zwei fähige Musiker dabei. Da wäre etwa die 10-minütige Suite „I Believe It/Apparent Doom/Ain’t No Time Here Now/Overtime“… Klassischer Doom mit nicht ganz so viel Grusel, wie bei den Vorbildern Black Sabbath, mit Gitarrensolo und progressiven Spinnereien. Der Mann meinte das Ernst. Und er hatte auch Songs für seine Ideen. Einziges Problem: Diese Art Musik wurde nur von kleinen Kreisen gehört, es gab kaum ein Publikum, und wenn ein alter Black Flag Fan D.C.3 hörte, dürfte ihm/ihr das wahrscheinlich zu wenig „real“ vorgekommen sein. Dazu muss man noch beachten – es GAB inzwischen zwar ein kleines Publikum für die abgedrehten Sachen vom SST-Label… aber die Alben waren „independent“ – ihr Vertrieb war schwierig, man musste danach suchen oder hoffen, dass der lokale Plattenladen sich um so etwas bemühte. 1985 gab es nichts, was mit Amazon oder mit den heutigen Streaming-Plattformen vergleichbar war. D.C.3 machten noch drei Alben, die allesamt seltsam, aber irgendwie auch toll sind.

Meat Puppets
Up On The Sun

(SST, 1985)

…genau wie diese Band, deren Meat Puppets II ich im ’84er Hauptartikel gelobt habe – und die ’85 mit ihrem dritten Album Up On The Sun den zeit-typischen US-Punk weiter über die Grenzen von Folk und Psychedelik dehnte – und damit das machte, was so viele Bands des SST-Labels seinerzeit taten: Indie Rock definieren. Dass Kirkwood, Kirkwood & Bostrom vor drei Jahren noch unbehauenen Punk gespielt hatten, soll sich mal derjenige vorstellen, der sich den Opener ud Titelsong ihres dritten Albums anhört. Ein ziemlich differnzierter Song irgendwo zwischen psychedelischer Ballade und tricky Hardcore. Wieder mit dieser seltsam dahingeschludert scheinenden Haltung und einer eingängigen Melodie. Was das mit Hardcore zu tunhatte? Nun – Nichts. Die Meat Puppets haben sich (wie viele ihrer Kollegen zu dieser Zeit) schon längst von stilistischen Limitierungen frei gemacht… und damit das getan, was den „Indie Rock“ so spannend machen konnte. Einfach mal 20 Jahre Rockgeschichte, Hardcore und Innovation zu etws neuem zusamengebaut, ohne sich darum zu scheren, ob es da kommerziell erfolgsversprechende Rezepturen gab. So hat Up on the Sun tatsächlich mitunter so komplexe Rhythmen, wickeln sich Gitarre Bass Drums so verwirrnd ineinander, dass schlichtes pogen vor irgendeiner Bühne völlig ausgeschlossen war. Dafür sind Songs wie „Hot Pink“ Hör-Musik. Da ist „Swimming Ground“ mit seinem jangly Charakter: Wie ein Smiths Song, aber ohne Morrissey’s Wehleidigkeit, dafür sonnenverbrannt absurd. Das Zusammenspiel der Drei ist absolut virtuos, jeder Jazz-Rock Fan müsste begesitert sein. Aber zugleich scheint all das können den Musikern völlig gleichgültig zu sein, dient all das nur den weirden Text- und Song-Ideen von Curt Kirkwood. Und Ja – auch auf dem SST-Label waren die Meat Puppets eine Ausnahmeerscheinung. Aber das wären sie mit den zwischen ’83 und ’87 erschienenen vier Alben überall gewesen. Im Buch Gimme Indie Rock kommt das Album nicht mehr vor…

Dead Kennedys
Frankenchrist

(Alternative Tentacles, 1985)

Die Dead Kennedys hatten mit ihrem Debüt 1980 den US Hardcore-Punk erfunden. Schon da hätte man erkennen können, dass da fähige Musiker und ein wortgewaltiger politischer Aktivist zugange waren. Beim ’82er Album Plastic Surgery Disaster war das Tempo geblieben, die Komplexität gesteigert worden. Und nun – fünf Jahre nach der Explosion des US Hardcore-Punk – beschlossen sie, alte Pfade zu verlassen. Viele sagen, Frankenchrist sei schwächer, als die beiden ersten Alben – weil DK hier das Tempo gedrosselt haben, weil Jello Biafra’s räudiges Gebell nicht mehr völlig hysterisch klang, weil sie scheinbar „gesetzter“ wurden. Stimmt Nicht! Es war logisch, dass diese Band sich ändern musste, den Fuß vom Gas nahm. Schneller wäre langweiliig geworden, Biafra musste und wollte klarer und politischer werden und die vier Musiker waren raus aus der Pubertät und hatten inzwischen Erfahrung en masse gesammelt. Das zu verleugnen und bewusst juvenil zu bleiben wäre für diese Leute undenkbar gewesen. Zumal Gitarrist East Bay Ray uns hier mit einer ganz famosen Weiterentwicklung seines Surf-Punk Gitarrenspieles beschenkte. Zumal die Verlangsamung maches Detail im Songwriting deutlcher scheinen ließ – etwas, das nur Fundamentalisten stören sollte, weil DK IMMER gute Songwriter waren. Und – Zumal Jello Biafra wieder Lyrics hervorschrie, die mitunter prophetische Dimensionen erreichten: Man muss sich vor Augen halten, dass wir das Jahr ’85 schreiben, wenn er bei „Soup Is Good Food“ singt „Computers never go on strike. To save the working man, you gotta put him out to pasture“. Bei „This Could Be Anywhere“ malt er sich das Leben in unseren Städten genau so aus, wie es sich entwickelt hat und „Stars and Stripes of Corruption“ ist eine 6-minütige Tirade gegen den peinlichen und gefährlichen US- Patriotismus, die bis heute brennend aktuell ist. Der Mann benutzte Worte wie ein Skalpell. Dass die Musik dazu niemanden mehr überrennen wollte, war eine kluge Entscheidung. Das als Mangel an Energie zu sehen, zeugt von einer gewissen Ignoranz – der Bands in „harten“ Genre’s oft genug ausgesetzt sind.

The Crucifucks
s/t

(Alternative Tentacles, 1985)

The Crucifucks mögen einen Teil ihrer (relativen…) Bekanntheit daher haben, dass sie die erste Band des bald zu Sonic Youth wechselnden Drummers Steve Shelley sind. Aber damit tut man ihnen Unrecht. Allein schon der Umstand, dass die Band aus Lansing, Michigan beim Label Alternative Tentacles unterkommt, könnte ein Qualitätsbeweis sein. Und tatsächlich sind sie den Gründern des Labels, den Dead Kennedys, durchaus ähnlich. Vor allem insofern, als ihr Sänger – Doc Corbin Dart – eine ähnlich… nervende? bissige? bekloppte? – Art des Vokal Vortrages hat, wie Dead Kennedys‘ Jello Biafra. Die Band ist vielleicht nicht ganz so virtuos wie ihre Brüder im Geiste, auch wenn man hier schon hört, warum Sonic Youth Steve Shelley holen würden, aber sie haben auch ein Ohr für Songs, und ein Track wie „Legal Genocide“ beeindruckt mit seiner wirren Wucht. Zwischen die Tracks hat Doc Dart Telefongespräche mit der Polizei gestellt, die deren Hilflosigkeit und Borniertheit darstellen (sollen), seine Lyrics wiederum überschreiten lustvoll die Grenzen des guten Geschmacks. Sentenzen wie „So kill every policeman that gets in your way/ It’ll set a good example for the children today/ It’ll keep ‚em out of trouble shooting pigs after school/ Wasting cops will be the hero’s golden rule“ sind mehr als provokativ, sie sind geschmacklos. Aber was erwartet man von einer Band, die sich im konservativen Amerika Crucifucks nennt? Sogar Andrew Earles ließ sie in „Gimme Indie Rock“ unerwähnt. Vielleicht fand er sie nicht originell genug… was ich wiederum nicht verstehen würde, weil sie sich mit Tracks wie dem unheimlichen „By the Door“ mit seinem Hass auf alles Religiöse, oder mit dem Opener „Democracy Spawns Bad Taste“ durchaus von den Kollegen unterscheiden und gute Song-Ideen haben. ABER!! Diese Stimme ist echt anstrengend. Und das ist so gewollt!!

Dinosaur
s/t

(Homestead, 1985)

Dieses Album und diese Band wiederum findet deutlich lobende Erwähnung in „Gimme Indie Rock“ … und das zu Recht. Dinosaur – bzw. Dinosaur Jr., wie sie sich nach kurzer Zeit nennen mussten, weil es wohl eine Westcoast-Hippie Band gab, die den Namen für sich beanspruchten – wurden zu einer festen Größe des Indie Rock der 80er und 90er. Sie sind bis heute (2022) aktiv, und haben zwar auch mal schwächere Alben gemacht, aber allein ihr Sound, aufgebaut um die psychedelischen Neil-Young-Gitarrensoli und J Mascis‘ müde Knabenstimme – und um dessen untrügliches Gespür für Songs mit unwiderstehlich süßen Hooks – machen sie zu einer festen Größen in der Pop-Geschichte. Sie haben mindestens drei klassische Alben gemacht (You’re Living All Over Me (’87), Where You Been (’93) und Beyond (’03)), aber schon ihr Debüt war ein wilder Ritt mit Stil. Mr. Joseph Donald Mascis Jr. war schon ’85 alleiniger Herrscher über das Songwriting, der ebenfalls enorm talentierte Lou Barlow (…bald Kopf von Sebadoh und Autor des Songs „Gimme Indie Rock“!!!) durfte zu Dinosaur keine Note beisteuern. Noch war die Publikums-Reaktion auf diesen Hardcore-meets-Neil-Young Sound nicht vielversprechend. Das Album verkaufte sich kaum, ausgedehnte Gitarrensoli und saccharin-süße Songs wie „The Leper“ oder „Repulsion“ waren nicht angesagt. Erst einmal musste sich ein Publikum finden, mussten sich die Ohren einer jungen Generation an diese ungewohnte Musik gewöhnen. Aber Sonic Youth hörten die Band in New York, und nahmen sie als Vorband mit auf Tour… und so landeten Mascis und Genossen bei SST und die „Karriere“ begann. Manche bezeichnen Dinosaur als schwach. Man kann aber bei mäandernde Tracks wie „Severed Lips“ die Unentschiedenheit zwischen Hardcore, Folk und Experiment auch mögen. Es ist – wie erwähnt – Musik aus einer Zeit, in der Hardcore aus den Grenzen ausbrach und neue Wege fand.

Sonic Youth
Bad Moon Rising

(Blast First, 1985)

Wenn man die Bands (und ihre Alben) in „Gimme Indie Rock“ vergleicht, wird schnell deutlich, WIE wenig der Begriff Indie Rock mit einem bestimmten Stil zu tun hat. Es geht um eine Haltung zur Musik, nicht um bestimmte Stilmittel. So sind Hardcore und Punk nur EIN Startpunkt für diesen Begriff. Die in dieser Zeit noch herzlich unbekannten Sonic Youth etwa haben Punk gekannt – aber sie kamen aus der New Yorker No Wave/Noise-Szene, sie hatten mit La Monte Young und Glenn Branca eine Art von Krach gemacht, die irgendwann als moderne Klassik anerkannt werden würde – aber aus ihrer Bewunderung für die Washington DC Hardcore Szene mit Minor Threat, Void etc. machten die Musiker nie einen Hehl und immerhin bekamen sie nach den Aufnahmen zu ihrem zweiten Album Bad Moon Rising mit Steve Shelley einen Drummer, der bei den Punks Crucifucks gespielt hatte. Nach Streitereien mit ihrem bisherigen Label hatten die Vier bei Homestead unterschrieben und beschlossen ein Album zum „Zustand des Landes“ zu machen. Dass die Noise-Spezialisten dabei nicht im normalen Song-Format arbeiteten, ist typisch für sie, macht das Album aber zu einem schweren Brocken. Sie hatten ihre bisherigen Improvisationen zwar satt, aber Songs waren – und würden nie – das Ding bei dieser Band sein. Tracks wie „Brave Men Run (In My Family)“ fließen in den folgenden Track hinein, da wird eine Note gespielt, Kim Gordon murmelt ein paar Sätze und die Rückkopplungen der Gitarren bauen sich zu einem stillen Sturm auf. Schon hier zeigte sich, welche hervorragende Rolle die Bassistin und Sängerin Kim Gordon für diese Band spielte. Ihre Ideen sind schon hier die Besten, ihr Puls lebenswichtig für die Improvisationen der beiden Gitarristen. Mit „Death Valley 69“ versuchten sie zaghaft einen „Song“ – mit Lydia Lunch als Sängerin, aber in den USA wurde die düstere Sicht auf das eigene Land nicht honoriert. In Europa aber waren die Medien aufmerksam geworden und Sonic Youth wurden von Greg Ginn zu SST gelockt und machten mit EVOL im folgenden Jahr ihr erstes Meistewerk.

Rites Of Spring
s/t

(Dischord, 1985)

Neben dem Umstand, dass Rites of Spring ab Sommer ’86 zusammen mit Minor Threat den Kern der allmächtigen Fugazi bilden sollten, haben sie gleichzeitig noch die – von ihnen selber abgelehnte – Ehre, als Gründer des sogenannten “Emo-Core” bezeichnet zu werden. Dabei muss man allerdings bedenken, dass dieses Stiefkind des Punk nichts mit der weinerlichen Adoleszenz der Emo-Acts der 00er Jahre zu tun hatte. Rites of Spring pressen schlicht ihren Hardcore-Punk mit Herz und Verstand heraus. Bei der Band um den Gitarristen Guy Piciotto waren die Breaks komplizierter, die Songs emotionaler, vor Allem die Texte persönlicher – aber eben auch besser – als man es im testosterongesteuerten Rest der Hardcore Szene gewohnt war. Die Klasse und Glaubwürdigkeit dieser Band wurde von Minor Threat’s Ian MacKaye erkannt – er wird bei ein paar der 19 Konzerte der Rites of Spring dabei gewesen sein. Das waren legendäre Auftritte, meist in der Heimatstadt, bei denen Hardcore und Emotionen wohl nicht nur den Sänger buchstbäblich zum Weinen gebracht haben sollen. Diese Musik und die Konzerte im sog. Revolution Summer von 1985 waren Ausdruck einer Veränderung in der Washingtoner Hardcore-Musiker-Szene, die in dieser Zeit begannen, die Gewalt bei den Auftritten, das Macho Gehabe vieler Fans durch eine Haltung aus Anti-Sexismus, Veganismus und bewusster Gewaltfreiheit zu ersetzen. Wenn Minor Threat das Gewissen der DC-Szene gewesen sein mögen, waren Rites of Spring ihr verborgenes, wild schlagendes Herz. Rites of Spring war das Debüt auf Dischord und blieb die einzige LP der Band, 1991 wurden die Songs mit der EP All through a Life von 1987 ergänzt und als CD mit dem Titel End on End wiederveröffentlicht. Und Songs wie das unsterbliche „For Want Of“ sind in ihrer emotionalen Offenheit in den heutigen zynischen Zeiten fast lachhaft – aber das war ernst gemeint und es war beeindruckend komplette und komplexe Musik.

Gray Matter
Food for Thought

(R&B Rec., 1985)

Im Vergleich zu Rites of Spring ist die Washingtoner Band Gray Matter eine Fußnote geblieben. Was nicht am Mangel an musikalischer Überzeugungskraft lieget. Die vier Teenager hatten in ihrer Schulzeit in diversen Punk-Bands in der regen DC-Szene gespielt, insbesondere Gitarrist Mark Haggerty und Drummer Dante Ferrano waren mit Iron Cross recht erfolgreich gewesen – hatten aber – wie die Rites of Spring Leute – Probleme mit der wachsenden Gewalt in der Hardcore-Punk-Szene und taten sich ’83 mit ihren Schulfreunden Geoff Turner (voc, g) und Steve Niles (b) als Gray Matter zusammen. Sie bekamen einen Vertrag und Studio-Zeit bei R&B Records, ihre Anti-Gewalt Haltung und die Musik gefielen dem Doyen der DC Hardcore Szene – Minor Threat’s Ian McKay – und der half bei den Aufnahmen zum Debüt Food For Thought. (Man beachte… die waren alle um die 18-20 Jahre alt…). Die Musik ähnelt der von Rites of Spring… sie ähnelt so gesehen Allem, was in dieser Zeit in der Hardcore-Hauptstadt entstand. Schneller, melodischer Punk mit Vocals und Texten, die gerne auch mal introspektiv werden. Aber wo der Opener „Retrospect“ noch klarer Hardcore ist, da wird „Oscar’s Eyes“ schon zu einer differenzierteren Sache. Diese Jungs hatten die Stooges und die Dead Boys gehört, sie wollten aber auch klar auf einer eigenen Schiene fahren. Und das war auch möglich – mit Dante Ferranto hatten sie einen hervorragenden Drummer, der fast ungebührlich im Zentrum stand. Geoff Turner hatte eine ziemlich jungenhafte Stimme. Aber gerade das macht manche Tracks hier spannend. „Give Me a Clue“ ist ein regelrecht komplexer Song mit ungewohnten Harmonien. mit der Energie der Jugend herausgehauen. Ganz passend, dass sie „I Am The Walrus“ von den Beatles coverten… Diese Band wusste, was sie wollte… jedenfalls zunächst. 1986 folgte mit Take it Back auf Dischord eine großartige EP…. und dann ging die Band auseinander. Es gab noch eine Reunion und hier und da Konzerte, aber Gray Matter wurden zur nur noch in den entsprechenden Kreisen geschätzten Band. Food for Thought und Take it Back gibt es als Compilation…. es lohnt sich….

Descendents
I Don’t Want to Grow Up

(New Alliance, 1985)

Und jetzt – bitte die Tränen trocknen: Denn die Descendents waren von Beginn (1977..!) an Punks mit einem völlig abgedrehten Sinn für Humor und einem Ohr für poppige Punk-Hymnen, wie man ihn nur in ein paar Jahren auf den besten Alben ihrer Epigonen Bad Religion oder Offspring finden würde. Nach dem absolut formidablen ’82er Debüt Milo Goes To College war Sänger Milo Aukerman… na ja… auf’s College gegangen, um Biochemie zu studieren. Aber er wollte wohl noch nicht erwachsen werden und ging im Frühjahr ’85 mit seinen Kumpels ins Studio, um seine Absicht musikalisch kundzutun. Dass dieses zweite Album nicht ganz die Klasse des Debüt’s erreichen KONNTE, war logisch. Aber es ist nah genug dran, um zwingend Teil der Punk-Geschichte zu sein. Man könnte auf die Virtuosität bei diesen Tracks hinweisen, die meist zwischen einer halben und zwei Minuten dauern. Die Rasanz der Rhythm Section, das einfallsreiche Drumming und der melodische Bass, mit denen die Gitarren mithalten müssen. Man kann die mitunter auch ziemlich geschmacklosen Lyrics erwähnen – bei „No FB“ geht es um den „stinky beaver“ eines Mädchens, und das hätte definitiv nicht sein müssen. Aber vor allem auf den gerade mal 14 Minuten der zweiten LP-Seite sind wirklich hervorragende Songs zwischen Pop und Punk versammelt: Der Opener „Silly Girls“ ist schon unwiderstehlich, bei „In Love This Way“ klingen die Descendents gar wie die Smiths!! Milo Goes… war vielleicht wirklich komplett genial und I Don‘ Want to Grow Up ist nur noch fast genial. Aber mit den beiden LP’s hat man 28 Songs in 50 Minuten, die ALLES vordenken, was in den 90ern von Offspring bis Green Day nur noch ausgeschmückt wurde. Das nennt man einflussreich. Und einen Riesenspaß.

D.I.
Ancient Artefacts

(Reject, 1985)

Was diese Band gemacht hat, war nicht weit von der Musik der Descendents weg – denn D.I. (…stand erst für Drug Ideology, dann für nichts mehr) starteten auch zu Beginn der 80er, machten zwischendurch immer wieder Pause, weil vor Allem Sänger, Drummer und Bandkopf Casey Royer zwischendurch mit Diesem und Jenem zusammen bei anderen Hardcore-Punk-Acts spielte und insbesondere mit DER Band des Orange County Punk – mit den Adolescents – ’81 ein Album machte, das den selben Stellenwert hat, wie Milo Goes to College von den Descendents. Die andere Macht in dieser Szen war übrigens Social Distortion. Da spielte er auch mit. Jedenfalls kann man von den beiden nach dem ersten Split der Adolescents veröffentlichten Alben von D.I. einiges erwarten. Man muss dabei bedenken, dass der nah an Pop und Surf-Sound gebaute Skate-Punk dieser Bands erst in ein paar Jahren Hunderttausende ziehen würde. Und Royer hatte mit den Agnew-Brüdern Rikk und Alfie noch zwei Leute aus dem Umfeld der Adolescents/Social Distortion dabei. Aber das sind Personalien, die die Musik nicht beschreiben. Ancient Artefacts ist ein abwechslungsreiches Album, bei weitem nicht so albern, wie man beim Begriff Skate-Punk erwarten mag. „Wounds From Within“ etwa klingt fast nach zerquältem New Wave. Aber vor Allem pure Punk-Hymnen wie „O.C. Life“ oder „Falling Out“ sind hochklassiger, schneller Hardcore. Da ist nicht so viel Witzigkeit, dafür gute Melodien, schnelles Tempo, fast „elegante“ Gitarren und Musiker, die genau wissen, was sie tun. Es gibt insbesondere auf diesem Debüt ein paar Tracks, die nach Punk UND Gothic klingen. Da dürfte Rikk Agnew seine Finger im Spiel gehabt haben. Er hatte ’82 mit der Gothic/Deathrock Band Christian Death deren Klassiker Onyl Theatre of Pain eingespielt. Kurz – in Ancient Artefacts fließt alles ein, was die Musiker vorher gemacht haben. Dass die Band nicht bekannter wurde, liegt nur daran, dass sie mit ihrer Musik zu früh dran waren. Ihre ersten beiden Alben lohnen sich sehr

D.I.
Horse Bites, Dog Cries

(Reject, 1985)

…womit wir zum besten Album von D.I. kommen. Nebenbei – Horse Bites, Dog Cries wurde ’85 aufgenommen, aber bis Anfang ’86 zurückgehalten, weil es nicht dem Debüt im Wege stehen sollte – aber es gehört zum Debüt – denn D.I. waren nach Ancient Artefacts sofort wieder ins Studio gegangen – vielleicht auch, weil die Fluktuation in den Bands dieser Szene so groß war, man aber inzwischen sehr gut aufeinander eingespielt war. Hier war das Tempo durchgehend hoch, die Gothic-Spuren waren verschwunden, dafür gab es jetzt mehr tolle Songs. Mit „Hang Ten in Berlin“ wurde einer der besten Tracks vom Vorgänger-Album neu eingespielt, das Gleiche wurde mit „Spiritual Law“ gemacht, der Opener „Pervert Nurse“ ist ein Hit. Mit „Guns“ gibt es einen heute wieder erschreckend aktuellen Song (…für 2022, nach den School Shootings in den USA…), in dem D.I. ironisch den Waffen-Wahn in den USA kommentieren. Das Album ist sehr politisch – und die Orange County Punk-Szene war weit links, bot den in der Einleitung genannten Zynismus auch in ihren Texten dar. Dennoch – mit einem Album wie Horse Bites, Dog Cries konnten D.I. nicht auf kommerziellen Erfolg hoffen. Fans gab es, aber Punk und Indie Rock war noch ein Randgruppen-Ding. Wäre es vier Jahre später erschienen, dann hätte Horse Bites, Dog Cries wohl sicher weit mehr Aufmerksamkeit bekommen. So ist es ein unbekannt gebliebener Klassiker das Hardcore-Punk den es lohnt, auf Vinyl zu suchen.

Naked Raygun
All Rise

(Homestead, 1985)

Achtung! Hier jetzt wieder eine der hundert Bands, die im Laufe der Jahre vergessen wurden. Eines der Alben, das in Gimme Indie Rock von Andrew Earles gelobt wird – mit den Worten: Naked Raygun waren Chicago’s Antwort auf Mission of Burma (…was ja schon ein hohes Lob ist…) das ’84er Debüt Throb Throb war toll, Steve Albini – Meister-Produzent und Big Black Kopf war damals so begeistert vom Gitarristen Santiago Durango, dass er ihn in seine Band holte – zum zweiten Album mussten Naked Raygun Gründer und Sänger Jeff Pezzati und sein Gitarrist John Haggerty die Rhythmus-Sektion ersetzen. Aber das gelang sogar zum Vorteil der Band. Vor Allem Drummer Jeff Spicer war einer, der mit Kraft und Einfallsreichtum den Hardcore Punk der Band auf ein höheres Level hob. Ihr Sound wurde nun veredelt – Earles beschreibt den so kompliziert wie treffend als Midwest-post-hardcore-meets-second-wave-U.K.-punk-rock-of-Stiff-Little-Fingers… Das heisst – die Hardcore-Songs haben gerne was hymnisches, sind ziemlich catchy, „I Remember“ könnte ein paar Jahre später von einer der Pop-Punk Bands a la Bad Religion oder Offspring gecovert werden und würde in deren Repertoire passen. Aber noch waren Naked Raygun eben auch Hardcore, Noch war da eine Härte, ein sehr unmittelbarer Sound, wie man ihn auch bei Black Flag hört. Soll heissen, All Rise klingt, als stünde die Band im Zimmer und hätte eine Anlage, die hauptsächlich LAUT ist. Aber das sind auch immer schöne Melodien, die Gitarren von John Haggerty sind nicht virtuos-verstiegen wie die von Greg Ginn… und so wurden Naked Raygun ein bisschen unter den kommenden Pop-Punk-Acts verschüttet. Dabei ist ihr Hardcore doch viel glaubwürdiger. Nun – Haggerty verließ die Band bald und gründete mit Pegboy eine starke Konkurrenz zu den eben genannten Pop-Punk Acts.

Mission of Burma
The Horrible Truth About Burma

(Ace of Hearts, 1985)

Ich vergleiche Mission of Burma in meinem Kopf immer mit den Minutemen – denn sie haben auch von Beginn an (…also von ’79 an) Hardcore nur als „Haltung“ genutzt, die Härte und Kompromisslosigkeit dieser Musik sicher bewundert, aber nie zum Selbstzweck gemacht. Auch sie waren virtuose Musiker, die ihr Können jedoch nie zur Schau gestellt haben. Aber es gab schon von der ersten EP an eine zusätzliche Dimension, da gab es immer Songs, die mehr wollten, als nur Tempo oder Härte. Da war immer der Spaß am Experiment und am Songwriting. M.o.B. wären in jedem musikalischen Umfeld eine wichtige Band geworden. Und so hält Andrew Earles in seinem „Gimme Indie Rock“ ihr ’82er Album Vs. zu Recht für eines der zentralen „Werke“ der (Indie) Rockmusik. (…lies darüber in meinem Hauptartikel 1982…). Nun – seit ’83 war die Band Geschichte. Gitarrist Roger Miller hatte einen furchtbaren Tinitus – und die Musiker gingen jetzt anderen Geschäften nach (siehe Volcano Suns hier hinter…). Aber das Label Ace of Hearts Records brachte als Nachschlag ein Live-Album in die Läden: Ein Wunder, dass dieses Album tatsächlich funktioniert – die 10 Tracks sind an verschiedenen Orten mitgeschnitten worden und die Voraussetzungen für vernünftige Live-Aufnahmen waren in diesen Kreisen denkbar schlecht. Billige Anlagen, schäbige Locations, wenig Erfahrung… Aber hier kann man eine Ahnung von der Wucht der Band bekommen (die sie im Studio nach eigenen Worten nie reproduzieren konnten) und The Horrible Truth About Burma hat auch noch ein paar Tracks, die man auf den Studio-EP’s/der LP nicht zu hören bekam. Sie covern „Heart of Darkness“ von Pere Ubu, sie covern „1970“ von den Stooges – und sie passen perfekt zwischen diese beiden Fixpunkte. Ihr mysteriöser Tape-Manipulator Martin Swope macht ihren seltsamen Post-Hardcore noch unheimlicher, das auf keiner Studio-LP enthaltene Instrumental „Tremolo“ zeigt, wie sich „Indie Rock“ entwickeln kann… und vor Allem… dass dieser Begriff ALLES enthalten kann. Erst in ein paar Jahren würde die Bedeutung von M.o.B. Wirklich erkannt werden. Dann kam 1990 das zurückgehaltene zweite Album + einer EP als Let There Be Burma heraus und dann reformierte sich die Band 2002. Aber da war „Indie Rock“ schon etabliert.

Volcano Suns
The Bright Orange Years

(Homestead, 1985)

Wie gesagt… Mission of Burma waren 1985 Geschichte. Ihr Live Album ein leckerer Nachschlag. Aber die Musiker blieben nicht untätig. So hatte M.o.B.-Drummer Peter Prescott 1984 mit ein paar Leuten die Volcano Suns formiert. Und natürlich ist deren freigeistiger Umgang mit Punk/Populärmusik schon beim Debüt The Bright Orange Years deutlich erkennbar. Zwar hatte Prescott keinen Tape-Manipulator dabei, aber Songs wie „The Mouth That Roared“ – mit Posaune und zerhackten Rhythmen – war nicht der alltägliche Punk. The Bright Orange Years ist tatsächlich auch wieder so ein Album, das 4-5 Jahre später womöglich mehr Ohren hätte zum Zuhören bringen können. Aber – „Indie Rock“ oder „Alternative“ hatte noch keine kommerzielle Bedeutung, die Bands wurden kaum beworben, mussten ihre „Promo-Touren“ oder dgl. selber organisieren, der Begriff Indie war noch nicht einmal „erfunden“ und Bands, die dieses Irgendwas zwischen Noise, Punk, Hardcore und Rock spielten, waren seltsame Spinner. Und gerade dieses Album zeigt zugleich, wie spannend – und auch „schön“ Indie Rock sein kann: Man höre doch mal die klingelnden Gitarren beim Instrumental „Truth is Stranger Than Fishing“. Die beachte die Sehnsucht von „Balancing Act“… scheinbar war Prescott für die süßen Pop-Momente bei M.o.B. Zuständig…? Man könnte bei einigen Songs meinen, da sind etwas entspanntere Hüsker Dü am Werk. Prescott ist ja Drummer… und zugleich Sänger, was allein schon bewundernswert ist. Dazu hat er auch noch eine gute Stimme, bellt nicht nur wie ein Hardcore-Hund. Jedenfalls hatte dies Band haufenweise Ideen, wurde sofort eine Band, die von anderen Musikern bewundert wurde, und kam ganz passend nach drei LP’s beim ehrenwerten Indie Homestead im Sammelbecken von SST unter. Das machte dann fünf wirklich hörenswerte Alben bis 1989. Eine tolle Band – ein guter Ersatz für Mission of Burma.