1983 – Black Flag und SST Records bis Cramps – Die Schaumkrone des US Hardcore, der Anfang der Alternative

Hardcore, die schnellere Form des Punk, hat sich seit dem Ende der Siebziger ganz prächtig entwickelt. Insbesondere in den USA gibt es inzwischen einige stilistische Varianten des zunächst scheinbar so schlichten Getrümmers.

Das betrifft nicht nur die politische Haltung der Bands, auch die Einflüsse reichen von Pop über Metal bis Reggae – und etliche Bands haben einen originären Sound – auch wenn das nie so geplant war. Für das Jahr ’82 habe ich noch den breiten Bogen vom britischen Punk über Hardcore aus den USA bis zum D-Beat aus England geschlagen. Jetzt, da diese erste Welle des Hardcore sich auftürmt, konzentriere ich mich – allein schon wegen der Menge an tollen Alben – hier erst einmal auf die US-Hardcore Szene. Nach Meinung „echter“ Hardcore-Hardcore Fans dürfte US-Hardcore spätestens in diesem Jahr in den Ausverkaufs gelangt sein. Etliche Bands sind jetzt (moderat) erfolgreich und bekannt, es gibt eine breitere Fanbase, Black Flag, Minutemen oder Minor Threat werden von College Rock Stationen gespielt – und mir ist das egal. Ich suche mir die Alben, die wichtig und gut sind, egal ob obskur oder nicht, die sich ausreichend voneinander unterscheiden, die gute Ideen, gute Songs bieten, bei denen ich die Energie, die Kraft, den Krach und die Dringlichkeit höre, die ich suche . Und wenn damit jemand kommerziell erfolgreich“ ist, dann finde ich das gut. Da sind die Veteranen von Black Flag und ihr Label SST mit den einzigartigen Hüsker Dü und Minutemen (dazu ein eigenes Kapitel…), da sind die Bad Brains mit ihrem völlig eigenen Sound, es gibt die Cramps und die Misfits, deren Hardcore aus der Gruft stammt. Da gibt es das erste Album von Social Distortion, die in Zukunft so etwas wie eine glaubwürdige und erfolgreiche Major-Hardcore-Punk-Band werden, da gibt es die großartigen Straight Edge Begründer Minor Threat und ihre Kumpels Government Issue, auf deren Label Dischord auch die unbekannteren aber keinen Deut schwächeren Scream ihr erstes Album veröffentlichen. Da ist der alte Greg Sage mit seinen Wipers, der schon lange eigenartigen Gitarrensolo-Hardcore macht, noisigen Hardcore aus Detroit von Negative Approach und Necros und die Vorstufe zum Crossover von den Suicidal Tendencies und die Hardcore-Antithese von No Trend. Die Bandbreite ist riesig, gemeinsam haben diese Alben, dass sie meist von sehr ökonomischer Länge sind, aber immerhin bezeichnen diese Bands ihre Releases inzwischen oft als komplette Alben. US-Hardcore ’83 zeigt, wie differenziert die „alternative“ zur Rockmusik werden wird.

Black Flag
The First Four Years

(SST, Rel. 1983)

Das Cover zeigt natürlich die EP’s. Design von Raymond Pettibon…

Fast alle hier vertretenen Bands haben vor ihren 12“-Alben Singles und EP’s veröffentlicht und insbesondere Punk (wie Soul…) ist ein Genre, bei dem die Kurzfassung besser ist, als das lange Elend. Aber andererseits… Black Flag, neben den Dead Kennedys DIE Flagschiffe des Westcoats-Hardcore, haben ’81 mit Damaged Punk einen heftigen Stoß versetzt und einen Album-Klassiker in die Welt gesetzt -aber vor diesem Album hatten sie drei epochale EP’s veröffentlicht – die sie ’83 auf einem Album kompilieren. The First Four Years bietet in 25 Minuten genau das, was der Titel sagt. Dies sind die Wurzeln des US-Hardcore – die EP Nervous Breakdown von 1978 gilt als eines der wichtigsten US-Punk Statements. Black Flag haben hier Keith Morris als Sänger, der mit den Circle Jerks‘ 1980 das Album Group Sex aufnehmen wird, das ebenfalls zu den Fundamenten des Hardcore gehört. Black Flag klingen noch nach den britischen Vorbildern, deren Singles Greg Ginn wohl gerade verschlungen hatte. Die nachfolgende EP Jealous Again mit Ron Reyes aka Chavo Pederast am Mikro ist genauso kurz und genauso Klasse – der Sound beginnt sich zu verändern, wird metallischer, die Texte ernsthafter und kritischer, die Band tourt die Westcoast ‚rauf und runter, macht beim Film The Decline of the Western Civilization mit und trägt zum Soundtrack bei (zusammen mit den Circle Jerks, mit Fear, den Germs und X…) Reyes verlässt die Band und mit Dez Cadena werden die knapp fünf Minuten der EP Six Pack aufgenommen. Black Flag sind durch ihren Gitarristen und Songwriter Greg Ginn, durch ihre politische und musikalische Konsequenz unangreifbare Institution geworden. Ihr Sound – insbesondere Ginn’s atonales Gitarrenspiel, aber auch seine erkennbare Vorliebe für Doom – speziell für Black Sabbath, auf deren Namen auch der Name Black Flag zurück geht – die kluge corporate identity der Alben mit den vier Balken (die schwarze Flagge, die für Anarchie stehen soll) machen Black Flag stylish und zeitlos. Noch ist Bassist Chuck Dukowski dabei, das Sprachrohr der Band, der Organisator, der zusammen mit Ginn das Label SST gründet und mit seinem Bass den Sound genauso prägt wie Ginn. Beim ersten regulären Album Damaged war – auch mit Enmpfehlung von Minor Threat’s Ian MacKaye – der Brüllwürfel Henry Rollins dazugestoßen, dessen furchterregendes Auftreten und Straight Edge Haltung das Image der Band noch einmal tiefer prägte. Black Flag standen vor dem Durchbruch – aber dann kam es zu Differenzen mit dem Vertrieb, zu Vertrags-Problemen und erst einmal durfte zwei Jahre lang Nichts unter dem Namen Black Flag veröffentlicht werden.

Black Flag
My War

(SST, 1983)

Cover-Art – Raymond Pettibon, der Künstler
für Black Flag.

Die Sessions zu My War zogen sich so über einige Zeit hin, und als das Album erschien, dürfte es einige Fans überrascht haben. Die erste Seite der LP ist noch US-Hardcore, wie man ihn von der Band kennt – das Tempo ist inzwischen manchmal leicht gedrosselt, aber immer noch rasant, Henry Rollins klingt ernsthaft angepisst, der Titeltrack verspricht keinen Spaß, ist dafür extrem intensiv. Chuck Dukowski hatte die Band verlassen – u.a. weil Greg Ginn mit seinem Spiel nicht mehr zufrieden war – und so übernahm Ginn den Bass – und wenn man sich die zweite Seite der LP anhört, wird klar, was Ginn bemängelt haben dürfte. Hier klingen Black Flag wie eine psychotische Hardcore Version von Black Sabbath. Ginn hatte die US-Doom Band Saint Vitus bei SST unter Vertrag genommen, die Tourneen, die Gewalt im Hardcore-Publikum, der Ärger mit der Industrie, sein Marihuana-Konsum und natürlich Ginn’s Vorliebe für Doom macht Tracks wie „Nothing Left Inside“ oder „Scream“ (beide über sechs Minuten lang) nur logisch. Hier klingt Henry Rollins wirklich zum Fürchten und Greg Ginn’s abstraktes Gitarrenspiel zerfließt in kranke Soli, man merkt, dass er sich in der Zeit der Aufnahmen Birds of Fire von John McLaughlin’s Mahavishnu Orchestra angehört haben soll. My War ist längst kein normales US-Hardcore Album mehr – es ist ein deutliches Zeichen dafür, in welch rasantem Tempo sich der US-Hardcore stilistisch weiter entwickelt…

Minutemen
What Makes a Man Start Fires

(SST, 1983)

Auch hier – Illustration – Raymond Pettibon

… was man auch am 1983er Album der Minutemen sehen kann. Die hatten drei Jahre zuvor ihr erstes Konzert als Vorband von Black Flag gegeben, ihr eklektischer Mix aus Post-Punk, komplexen Rhythmen und Noise mag ja von allen möglichen Besserwissern Hardcore genannt werde – ich weiss aber nicht, was die Minutemen mit Black Flag oder Minor Threat gemein haben – ausser der Tatsache, dass Greg Ginn sie so sehr mochte, dass er sie bei SST unterbrachte. Das erste komplette Album The Punch Line (81) hatte immerhin Hardcore-Stilistik und mit weniger als einer Viertel-Stunde auch die klassische Hardcore-Spieldauer, dieses zweite Album ist mit ca. einer halben Stunde regelrecht elaboriert. In der Tat nahmen sich die beiden Kindheits-Freunde D. Boon (g, voc) und Ben Watt (b, voc), ihr formidabler Drummer George Hurley (dr) und Gast-Gitarrist Joe Baiza vom Saccharine Trust ganze drei Nächte Zeit mit den Aufnahmen zu What Makes a Man Start Fires. Die Musik der Minutemen zu beschreiben, ist schwierig – Watts war Fan von Dylan, der Album Opener „Bob Dylan Wrote Propaganda Songs“ ist höchstens halb-ironisch – klingt nach Punk, Funk, Noise und Pop, ist komplex, blitzschnell und catchy zugleich. Dass die Drei mit Achtziger Rockmusik aufgewachsen sind, dass der Drummer Steely Dan-Fan war, dass sie alle Punk lieben – all das kann man in der Musik suchen, aber letztlich klingen die Minutemen nur nach sich selbst.

Minutemen
Buzz or Howl Under the Influence of Heat

(SST, 1983)

Und wieder… Raymond Pettibon…

Im selben Jahr noch erscheint die EP Buzz or Howl Under the Influence of Heat – und was soll ich sagen? Der gleiche heisse Scheiss – vielleicht noch um eine Spur ausgetüftelter. Wir haben D. Boon’s hektische, frenetische Gitarre, die alle Virtuosen verlacht, Watt’s Stakkato-Bass-Riffs, bei denen man hört, dass er als kleiner Ben den Unterschied zwischen Bass und Gitarre nicht kannte und wir haben ein weiteres Mal George Hurley’s beeindruckend komplexes, nie selbstverliebtes Drumming. Minutemen sind eine Einheit, sind EIN Ding und ihre Songs sind Jazz, Punk, Funk, und tolles Songwriting in Hardcore. Dass mit „Dreams Are Free, Motherfucker!“ und „The Toe Jam“ zwei sinnlose Eskapaden die Viertelstunde unterteilen, mag man kritisieren, aber dafür haben wir zwei Minuten „I Felt Like a Gringo“ und mit „Little Man With a Gun in His Hand“ einen Klassiker der Band. Dass Buzz or Howl… mit etwas über 15 Minuten Spielzeit länger ist als die erste LP, finde ICH ein bisschen absurd – aber vor Allem egal. Letztlich habe ich mit …Fires und Buzz or Howl… ¾ Stunde Minutemen-Musik – beyond classification

Hüsker Dü
Metal Circus EP

(SST, 1983)

Cover – Fake Name Communications = Drummer Grant Hart…

Hüsker Dü kommen aus Saint Paul, Minnesota – sind also keine der bei SST üblichen L.A. Hardcore Bands. Sie haben den Kontakt zu SST über die Minutemen bekommen und veröffentlichten vor SST mit dem Live Album Land Speed Record (’82 – noch auf Ben Watt’s und D. Boon’s New Alliance Records) und der Studio LP Everything Falls Apart (83 – auf dem bandeigenen Label Reflex) zwei harte, schnelle Hardcore Alben. Aber den drei Musikern war das Korsett des schneller, schneller noch schneller von Beginn an zu eng. Gitarrist Bob Mould wollte genau wie seine Kollegen Grant Hart und Bassist Edward Norton mehr Melodie, ja, durchaus mehr Pop. Ihren Namen hatten die drei Musiker schließlich gewählt, weil der sich NICHT nach Hardcore anhört. So wurde die EP Metal Circus zum ersten deutlichen Statement Richtung rasantem Indie-Rock. Natürlich zogen sie immer noch das Hardcore-Publikum zu den Konzerten, natürlich ist Metal Circus mit sechs Tracks in (immerhin) 18 Minuten genretypisch kurz gehalten. Aber Norton und Hart experimentierten zu dieser Zeit mit LSD, psychedelische Untertöne mögen allein schon aus dieser Richtung eingeflossen sein – und Bob Mould’s wachsendes Können als Gitarrist, seine Liebe zu Bands wie den Beatles und vor allem zu den gerade (wieder)entdeckten Byrds (’84 gibt es die 7“ Eight Miles High“!!) wird auf dieser EP deutlich. Natürlich ist da noch immer ein weiss-glühender Lavastrom an Gitarren, trudelndem Bass und furiosem Schlagzeug – aber die Noise-Stromschnellen haben melodische Untiefen und hier und da ragt sogar der eine oder andere Felsbrocken heraus. „Deadly Skies“ und „Diana“ bekamen Airplay in den College-Radio Stationen, das Publikum, das Hüsker Dü hörte, war nicht mehr nur Punk. Der zweite Schritt war getan und bald schon (im kommenden Jahr…) kam mit Zen Arcade der Sündenfall: Ein DOPPELALBUM…

Dicks
Kill From the Heart

(SST, 1983)

Artwork – Carlos Lowery

Die Dicks sind in 1980 Austin, Texas entstanden, sind also genauso wenig eine „typische“ L.A. Hardcore Band wie Hüsker Dü. Die Band um den offen homosexuellen Sänger Gary Floyd hatte sich in Texas einen beeindruckenden Ruf erspielt, war auch schon weit über schlichten Punk hinaus, als sie dieses Album noch mit der Ur-Besetzung aufnahmen. Dazu gingen sie nach L.A. und ließen sich vom SST-Haus-Produzenten Spot produzieren. Nach den Aufnahmen zog Floyd 1983 endgültig nach L.A., suchte sich ein paar neue Musiker, und startete die Dicks neu. Man muss sich vor Augen halten, dass seine offen zur Schau gestellte Homosexualität zu Beginn der Achtziger in der Punk-Szene regelrecht gefährlich war – und Gary Floyd war dazu auch noch in allen politischen Positionen völlig eindeutig. Ich kann mir denken, dass er mit Songs wie „Bourgeois Fascist Pig“ oder dem später von Mudhoney gecoverten „Dicks Hate the Police“ unter linken Punks offene Türen einrannte – mit „Little Boys Feet“ aber auch Befremden auslöste. Aber das soll nicht von dem (auch wieder) sehr eigenwilligen Sound der Dicks ablenken: Floyd war ein veritabler Blues-Shouter, klang, als hätte er seinen Stil in einer der Bluesrock Bands der frühen Siebziger erlernt. Dazu vermischte die Band auch noch andere Blues-Elemente mit Hardcore-Härte und Punk-Hymnen. So klingt der Titeltrack nach Ramones im Blues-Fieber, so covern sie hier Jimi Hendrix‘ Purple Haze“ und lassen bei „Anti-Klan (Part Two)“ die Dobro scheppern. Das Album passt in all seiner Eigenart ins Programm von SST. Die Dicks wechselten danach zu Alternative Tentacles (auch sehr korrekt…) und machten eine pure Punk-Blues LP, die mir nicht mehr so gefiel. Kill From the Heart ist spannender Hardcore/Blues-Punk. Leider auch schwer zu finden, aber es lohnt sich, danach zu suchen

Ein DIY Label und sein Ethos

Die Bosse von SST habe ich mit ihrer Band Black Flag ganz oben ausführlich vorgestellt. Sie haben im Jahr 1978 etwas getan, was etliche andere Musiker bald nachahmen und die Musiklandschaft der Achtziger und Neunziger prägen wird: Sie gründen in DIY-Manier ein eigenes Label, weil sie mit ihrer Musik bei den Etablierten keinen Vertrag bekommen. Es sind die beiden Black Flag Gründer – Gitarrist und Spiritus Rector Greg Ginn und sein Bassist Chuck Dukowski – die aus dem Elektro-Teile Versand Solid State Transformers in Long Beach einen Versand für ihre selbst produzierten Tapes, 7“ und 12“ entstehen lassen. Der Name wird zu SST gekürzt, die Solidarität mit den Kollegen, die vergleichbaren Musik machen (und demnächst auch Greg Ginn’s Vorliebe für Doom a la Black Sabbath) veranlassen sie, auch anderen Bands die Möglichkeit zu Releases zu bieten. Die ersten Produkte auf SST sind die oben erwähnten Black Flag EP’s Nervous Breakdown und Jealous Again, das Vinyl Presswerk findet Ginn im Telefonbuch, SST Haus-Produzent Spot ist ein Freund, die Gestaltung der EP-Cover übernimmt Ginn’s Bruder Simon Pettibon – seines Zeichens Grafiker und freier Künstler, der sich mit Cover, Konzertplakaten und dem Logo von Black Flag schnell einen Namen macht. Die Alben werden bei den Konzerten und in kleinen Plattenläden der Umgebung preiswert angeboten, aber bald werden sie zu gesuchten Objekten. Das dritte Album auf SST ist die erste EP der Black Flag Vorband Minutemen, das Label hat natürlich so gut wie kein Geld – ist independent aber arm, Polizei und FBI beobachten das verdächtige Treiben all dieser Punks, insbesondere, weil das Publikum bei der Musik oft komplett ausrastet und die Konzerte in wilde Pogo-Schlägereien ausarten (woran genau diese Polizei durchaus eine Mitschuld trägt), aber Ginn und Kollegen können Nichts gegen die Schikane unternehmen. Damaged , das erste komplette Album von Black Flag auf SST, soll über einen Major vertrieben werden – ein Schritt, der sich als fatal erweist. Wegen „Jugend-gefährdendem Inhalt“ gibt es rechtliche Probleme, die Black Flag für fast zwei Jahre an neuen Veröffentlichungen hindern. Dafür lassen Ginn und Dukowski die Meat Puppets, Saccharine Trust und mit den Minutemen-Kumpels Hüsker Dü eine erste Band außerhalb des L.A. Dunstkreises auf SST veröffentlichen. Der Erfolg wächst… dem Label bald über den Kopf, Hüsker Dü und die Minutemen machen 1984 ihre Doppel-LP’s Zen Arcade und Double Nickles on the Dime und SST ist mit der Masse an Käufern zunächst überfordert. Bald verlassen Hüsker Dü SST, Black Flag lösen sich auf, die Minutemen machen nach dem Tod von D. Boon 1985 Schluss – dafür kommen mit Sonic Youth, Dinosaur Jr., den Bad Brains etc namhafte neue Bands dazu. Mike Watt von den Minutemen macht mit fIREHOSE weiter, Black Flag reformieren sich, Dukowski spielt mit SWA – und SST wird zu einem Label mit einer Riesen-Reputation – zur Indie-Institution. Mit Negativland haben SST bald einen Problemfall im Rooster, der das Label wegen Urheberrechts-Streitigkeiten mit der Band U2 fast in den Ruin treibt, wegen des Erfolges, aber auch weil Ginn einfach zu viele Alben herausbringen lässt, verliert SST ab dem Ende der Achtziger langsam wieder seinen hervorragenden Ruf, dem Label wird Verrat am Indie-Gedanken vorgeworfen und bald heisst es von Seiten der Credibility-Wächter „Corporate SST Still Sucks Rock“. Weil der Vertreiber der Platten Pleite geht, stellt SST in den Neunzigern fast den Betrieb ein – nur noch Greg Ginn’s Projekte behalten den SST-Banner – aber letztlich ist dieses Label mit all den Künstlern die genannt wurden, auch mit etlichen obskureren, eine Quelle guter Musik gewesen. Etliche Platten von SST sind Klassiker – und die DIY-Haltung war mindestens bis in die Mitt-Achtziger glaubwürdig, danach wurde einfach der Erfolg und der dazu gehörige Druck zu groß. Ich sage: Danke SST.

Minor Threat
Out Of Step

(Dischord, 1983)

Artwork – Cynthia Connolly. Hat viele Cover für Dischord gemacht… cynthiaconnolly.com

Neben SST gibt es das in der Gegend um Washington DC beheimatete Label Dischord als Fahnenträger des US-Hardcore. Und Dischord’s Black Flag sind Minor Threat. Auch die haben ihr DIY-Label gegründet, um ihre eigenen Songs ganz ganz unabhängig von der Industrie unter’s Publikum zu bringen, sie kleben die Cover selber, verkaufen ihre Produkte bei Konzerten und in befreundeten Läden in der Gegend, sind extrem gegen Drogen, gegen Fleischverzehr, gegen das politische Establishment und fassen sich auf ihren Produkten Hardcore-Kurz. 1981 haben sie (in insgesamt 16 Minuten) auf zwei EP’s alles Wichtige gesagt (u.a. den Begriff „Straight Edge“ mit dem gleichnamigen Song erfunden), auf der EP Out of Step kommen noch mal 21 Minuten dazu, in denen sie ihr gewachsenes Können in allen Bereichen beweisen. Auch hier gilt, dass Fundamentalisten bei dieser EP den Verlust an Furor und die „cleanere“ Produktion bemängeln, ich halte das einfach für natürlich – und die Tatsache, dass ihre Kopf und Sänger Ian MacKaye die Band wegen zu großer Beliebtheit in Indie-Kreisen Ende ’83 auflöste für ehrenwert, aber auch ein bisschen Komisch. So viel Ethos ist anstrengend. Minor Threat bewegen sich (für mich) zwischen Black Flag und den Minutemen. Sie sind eindeutig das, was hunderte von Harcore-Bands gerne wären: Schnell, hart, kurz, komplex ohne Angeberei, und in ihren Aussagen klar wie ein Gebirgsbach. Dass MacKaye Songs schreiben kann, wird er bei der nachfolgenden Band Fugazi noch klarer herausstellen, hier gibt es mit „No Reason“ und „Cashing In“ zwei Songs, die ich jedem vorspielen würde, der noch nicht wüsste, was Hardcore eigentlich ist – OK, die beiden EP’s von ’81 sind kraftvoller bzw. konzentrierter – Minor Threat verzetteln sich in den 21 Minuten von Out of Step tatsächlich die eine oder andere Sekunde lang. Aber ich muss den klassischen Status ihres kompletten Outputs betonen. Wem Spaß und Sinn wichtiger ist als Credibility, dem sei die Complete Discoraphy von 1989 anempfohlen. Mindestens aber muss man die erste EP Minor Threat und dieses Album hier kennen und haben.

Scream
Still Screaming

(Dischord, 1983)

Cover-Art – Jeff Nelson. Mitbegründer von
Dischord…

Zunächst – es könnte sein, dass Erbsenzähler jetzt beklagen, dass Still Screaming aber 1982 veröffentlicht wurde… Ich sage Nein, es war Januar 1983, als dieses Album aus Tracks von 80/81 in die Läden kam. Aber egal -auf jeden Fall gehören Scream zur Speerspitze des US-Hardcore. Dass ab 1987 ein gewisser Dave Grohl hier die Drums bedient, will ich hier kurz erwähnen – aber ’82/83 sind es die Bürder Peter und Franz Stahl aus Arlington nahe Washington DC, die das erste echte „Album“ (Also keine Single bzw EP) mit einer längeren Spielzeit (also mehr als 25 Minuten…) auf Dischord veröffentlichen dürfen. Sie haben ihre eigene Duftmarke, mit abwechslungsreichem Songwriting, mit Mitgröhl-Refrains bei „Piece of her Time“, mit Reggae Einflüssen, u.a. vom Bassisten Skeeter Thompson mitgebracht, mit politisch korrekten Texten in einer Zeit als „correctness“ noch kein Schimpfwort ist, mit rasantem Speed, der Thrash vorwegnimmt, mit etlichen ganz hervorragenden Songs, so dass die fast 42 Minuten, die das Album dauert nicht zu viel werden. Es gibt bei „Amerarockers“ eine Verneigung Richtung Bad Brains, und bei „Laissez-Faire“ eine Verneigung Richtung Hüsker Dü. Scream sind manchem Fundamentalisten vielleicht nicht zu Unrecht ZU abwechslungsreich, aber das ist beim Dischord-Label durchaus erlaubt, zumal den Musikern Genre-Begrenzungen von Beginn an ein Gräuel waren – sie ihren Kram einfach nur „Musik“ nannten. Fundies werden immerhin mit Songs wie „Bedlam“ besänftigt. Still Screaming ist ein Abbild der Möglichkeiten einer Szene, die sich inzwischen immer mehr Variationen erlaubte.

Government Issue
Boycott Stab

(Fountain of Youth, 1983)

Cover – ?

Government Issue bzw. ihr Sänger John Stabb und seine immer wieder wechselnde Mannschaft ist nicht nur durch ihre Herkunft aus Washington mit Ian MacKaye und Minor Threat verbunden. Beide Bands teilen sich oft genug Auftritts-Gelegenheiten und Fans und ihre erste 7“-EP Legless Bull wurde ’81 auf Dischord veröffentlicht – eine acht-minütiger Überfall, der sich an Intensität nicht von Minor Threat’s ersten beiden 7“es unterscheidet, bei dem Gitarre und Rhythmusteam durch zehn ultra-kurze Explosionen rast, während Sänger Stabb sehr eigenständig und humorvoll seine Botschaften herausschreit. Das Album Boycott Stab ist eine großartige Angelegenheit (.. von nun 16 Minuten Länge…). War Legless Bull noch schlecht produziert, so gab Freund/Produzent MacKaye sich jetzt ein bisschen mehr Mühe (… und hatte auch mehr Erfahrung, die EP war erst die vierte Veröffentlichung auf Dischord gewesen …), Die Band war zum befreundeten Label Fountain of Youth gewechselt (das bald an Vertrags-Schwierigkeiten kaputt ging), aber Streit mit Dischord gab es deswegen nicht. Government Issue sind eine dieser Bands, denen das schlichte Grundgerüst des Hardcore nur dazu diente, sich weiter zu entwickeln, mehr Songs und mehr Abwechslung zu auszuprobieren. Man könnte sagen, hier werden klassische Rock und Punk-Strukturen auf den rasanten Hardcore aufgesetzt – aber das hört sich langweiliger an, als es im Ergebnis ist. Das chaotische, über drei-Minütige „Sheer Terror“ spielt mit Dub und Metal-Anleihen, ohne peinlich oder aufgesetzt zu klingen, G.I. gelang es immer wieder, glaubwürdig neue Elemente in ihren Sound einzubauen und sie hatten mit Tracks wie „Plain to See“, bei dem Gitarrist Tom Lyle mal so richtig zeigt, wie Virtuosität im Hardcore aussieht, sehr gute „Songs“ dabei. Wie bei den meisten hier vorgestellten Alben – Boycott Stab ist ein kurzweiliger Spaß. Und die weiteren Alben der Band bis zum ’89er Klassiker Crash sind sehr hörenswert

Fang
Landshark! EP

(Boner, 1983)

Artwork – Marc & RoseAnn Berlin

Ich mach weiter so – hab‘ ich ja gesagt: Landshark!, die erste EP von Fang, einer Hardcore/Noise Band aus Berkeley, dauert 16 Minuten – ist also eine EP, die eine für Hardcore fast epische Länge hat. Aber bei Fang muss der Song auch mal länger als ein-einhalb Minuten dauern, sie sind nicht, wie der Rest der glatzköpfigen Hardcore-Szene, schnell und noch schneller, und ihre Lyrics sind nicht so politisch (belehrend). Fang klingen wie Punks auf Downer. Sänger Slammie aka Sam Mcbride hört sich eher nach Drogen und Depressionen an – und war in der Tat stark Heroin-abhängig und kam Ende der Dekade wegen des Mordes an seiner Freundin im Drogen-Blackout für sechs Jahre ins Gefängnis – und Gitarrist Tom Flynn spielt virtuos mit Feedbacks und seltsamen Chord-Wechseln – und gehört damit auch zu den (vielen) Virtuosen in diesem Umfeld. Landshark! Ist ganz ohne Zweifel der Höhepunkt des musikalischen Outputs von Fang, es verwundert nicht, dass Kurt Cobain die EP liebte, hier spielten sie noisigen, sehr eigen(artig)en Hardcore der manchmal gar Sludge vorwegnahm. Leider kam danach aus verschiedenen Gründen Nichts großes mehr – Fang gingen zum eigenen Nachteil in Richtung Metal, die acht Tracks der EP aber sind allesamt hörenswert in ihrer trägen, zynischen Wucht, sei es der oft gecoverte Opener „The Money Will Roll Right In“, seien es Tracks wie „Law And Order“, „An Invitation“ oder „Skinheads Smoke Dope“ (sic!). Und dass mir die rheumatische Unverschämtheit „Destroy the Handicapped“ gefällt, mag ja unkorrekt sein, aber wen schert’s. Wem Black Flag’s Ausflüge in den Doom auf My War mag, dem sollte auch Landshark! gefallen – und dass das Album auch Grunge vorwegnimmt, habe ich schon angedeutet. Dazu noch der Hinweis, dass Gitarrist Tom Flynn ebenfalls sein eigenes Label gründete – streng DIY natürlich und bald mit gutem Ruf. Auf Boner veröffentlichen in den Achtzigern Steel Pole Bathtub und… tadaaaa…! Die Melvins, die man durchaus mit Fang vergleichen kann.

Bad Brains
Rock For Light

(PVC, 1983)

Cover-Art – Paul Bacon. Etablierter Jazz-und
Buch-Cover Artist

Das zweite Album der Washingtoner Rastafarians Bad Brains ist für so Manchen schon deswegen ein No Go, weil es – durchaus mit Recht – als lackierter Aufguss des Cassete-Only Debüt’s vom Vorjahr gelten kann. Tatsächlich ist das Tracklisting teils gleich, allerdings wurden die Songs des Debüt’s zusammen mit einigen neuen Tracks vom Cars-Musiker und Pop-Produzenten Ric Ocasek komplett neu aufgenommen. Und dank des unglücklich gewählten Produzenten klingt Rock For Light für die Einen zu schlaff, zu sauber und zu dünn. Tolerantere aber hören die gelungenen, extrem komplexen und rasend schnellen neuen und alten Tracks, erkennen an, dass der Sound 80er-mäßig dünn ist, der Musik selber aber nicht wirklich schadet und freuen sich über die Re-Issues die re-mixed und re-mastered wurden und dem Album dann endlich den verdient kraftvollen Sound verliehen haben. Es gibt drei längere Reggae-Tracks, die – wie beim Debüt – ebenfalls einige Hörer irritiert haben dürften, die aber IMO genauso zum Genpool der Band gehören, wie die positiven Botschaften der Lyrics. Und Songs wie der Opener „Coptic Times“ oder „We Will Not“ – beide nicht auf dem Debüt, zeigen die Bad Brains in ihrer ganzen Pracht. Diese Musiker sind fast schockierend versiert, allein was Drummer Earl Hudson da leistet, ist atemberaubend. Sänger H.R. (das steht für Human Rights – er ist der ältere Bruder des Drummers…) ist mit seinem kreischenden Organ mindestens originell, und Gitarrist Gary Miller aka Dr. Know und Bassist Darryl Jenifer zeigen mit ihrer Jazz-Virtuosität, dass Reggae, Hardcore und Metal ziemlich nah bei einander liegen können. Rock For Light ist mir im Vergleich zum Debüt das liebere Album, allerdings muss man aufpassen, welche Version man findet. Die Re-masterten Versionen sind einfach besser als das schwächliche Original von 1983.

Suicidal Tendencies
s/t

(Frontier, 1983)

Artwork – Dee Zee (…?)

Die Suicidal Tendencies kommen auch aus Kalifornien, genau genommen aus Venice, und gehören in den frühen Achtzigern stilistisch noch klar zu den Hardcore-Bands, über die ich hier schreibe – auch wenn schon auf diesem ersten Album ein paar Prisen Metal zu finden sind. Bald werden sie zu denen gehören, die man als Begründer des Crossover/Funk-Metal bezeichnet, stehen dann mit den Red Hot Chilli Peppers in einer Reihe – aber schließlich ist im Fundament des Crossover eine Menge Hardcore enthalten. Wäre die Story hinter der Band das Einzige interessante, so würde ich dieses Debüt-Album hier auslassen, aber die Musik der Suicidal Tendencies ist fast genauso bunt wie Bandanas und Lebenslauf ihres Kopfes, Songschreibers und Sängers Mike Muir. Suicidal Tendencies ist schmutzig und roh, die Songs werden mit gewaltiger Energie und Wut hervorgebracht, Muir’s Stimme mag ungewöhnlich seinn, er klingt mitunter ein bisschen schwachbrüstig, aber dann rappt er wieder in einem Affenzahn, dann hat er wieder diesen unnachahmlichen „Fuck You“ Style – abwechslungsreich kann man das auch nennen. Und das Album ist voller memorabler Tunes – bei „I Saw Your Mummy…“ betreten sie Blues-Territorium, „Institutionalized“ wurde einer der ersten Hardcore Tracks, der in Heavy Rotation auf dem Musik-Videoclip-Sender MTV lief, verwunderlich, weil der Track kompromissloser Hardcore ist, verständlich, weil er neben einer guten Melodie auch noch schlaue Lyrics hat. Muir entpuppte sich als geschickter Texter – und seine Verbindungen zu den Gangs seiner Stadt (bzw. die Verbindungen seiner Band zu den berüchtigten mexikanisch/amerikanischen Venice 13) spielt dabei sicher eine große Rolle. Die ST’s wurden freilich beim Publikum von Minor Threat oder Black Flag bald als inkonsequente Metal-Heads angesehen und ihr kommender Erfolg raubte ihnen bei diesem Publikum einiges an Credibility… aber dieses Album ist (für mich) nur ein weiterer Beweis, dass Hardcore in dieser Zeit stilistisch interessante und verdammt intelligente Musik war. Und dass die Band die Wiege etlicher berühmter Sidemen ist – z.B. von Metallica, Mars Volta oder Dillinger Escape Plan – kann durchaus für sie sprechen.

Social Distortion
Mommys Little Monster

(13th Floor Rec., 1983)

Cover Illustration – Art Morales

Weil mich die mitunter fast faschistoide Haltung sogenannter „Hardcore-Punks“ der ersten Stunde in Bezug auf die Credibility von Musikern schon immer eher genervt als interessiert hat, habe ich bestimmte Vorstellungen davon, wie dieses Publikum zu den Kaliforniern Social Distortion stand. Ihr erstes komplettes Album Mommy’s Little Monster aber sollte damals eigentlich mit all seinen Eigenschaften – roher Produktion, an nur einem Tag aufgenommen, kurze Spielzeit, in-your-face Attitüde, auf einem krediblen Indie veröffentlicht – bei den richtigen Leuten auf Zustimmung getroffen sein. Dass Social Distortion und ihr Kopf Mike Ness schon seit ’78 unterwegs waren, und dass sie die Vorbilder deutlich erkennbar zeigten, ist ehrenwert, und soweit sie Sex Pistols, The Clash und The Ramones heissen auch passend für die Szene in L.A. Man hört aber auch Ness‘ Liebe zu den Stones und zu Johnny Cash heraus – und ich vermute, dass das nicht überall Zustimmung fand. Letztlich wurden sie mit ihrem an britische Bands angelehnten Punk wiederum zu Vorbildern für die US–Bands wie Offspring, Pennywise, Rancid – und landeten 1989 tatsächlich beim Major-Label Epic, nachdem Mike Ness diverse Drogen-Eskapaden und ReHab-Aufenthalte überstanden hatte. Und unbenommen aller Vergleiche oder Bedenken ist Mommy’s Little Monster durch den wirklich Hardcore-schnellen Opener „The Creeps“, aber auch durch „normale“ Punk-Hymnen wie „Hour of Darkness“ ein Beispiel für das, was es 1983 an tollem „normalem“ Punk zu hören gab

Negative Approach
Tied down

(Touch and Go, 1983)

Foto – Marc Barie

Damit es nicht langweilig wird beim nacheinander Hören – und weil die Stimme ein bisschen in Mike Ness‘ Richtung tendiert – will ich die kurzlebige, aber einflussreiche Band Negative Approach und ihr einziges Studio-Album Tied Down empfehlen. Negative Approach kamen aus Detroit und etablierten die Midwest Hardcore – Szene sozusagen alleine mit den Freunden und Kollegen von den Necros. NA hatten im Vorjahr eine (acht-minütige) selbst-betitelte EP veröffentlicht und waren jetzt beim aufstrebenden Indie Touch and Go untergekommen. Ihre Songs klingen mitunter fast nach Noise-Rock, ihre Hooks sind schockierend brutal und haben keinerlei Thrash- oder sonstigen Metal Anmutungen. Negative Approach zeigten auf diesem Album, wie es in dieser Musikrichtung weiter gehen würde und dürften Nachfolger wie die Butthole Surfers oder Steel Pole Bathtub beeinflusst haben. Insbesondere Frontmann John Bannon schockiert mit gewalttätigem Gebell, das es so noch nicht gegeben hatte. Man kann nur staunen, dass er die physischen Anstrengungen überstanden hat und bald mit den Laughing Hyenas Hardcore in Noise und Blues tauchen würde. Auch Tied Down hat den Vorteil einer destillierten Spielzeit von knapp 17 Minuten (ich wünschte mir, diese Kürze würden hier und da auch Bands aus anderen Lagern an den Tag legen). Und damit ist das Album für Hardcore ja sogar regelrecht lang (Vgl. Minor Threat etc…). Aber es gibt ja wie gesagt die Vorjahres-Single/EP Negative Approach mit ihren acht Minuten Spielzeit und dem meiner Meinung nach mieserem Sound. Das ist für Puristen die bessere Wahl. Ich mag Tied Down lieber.

Necros
Conquest for Death

(Touch and Go, 1983)

Cover – Glen E. Friedman

Ein ganz kleines bisschen weniger originell – aber dennoch wuchtig, wichtig und massiv – ist das erste Album der Negative Approach-Kollegen Necros. Auch sie stammen aus dem Mittleren Westen der USA – einer Gegend mithin, in der sie sich als Harcore/Punks – weit mehr als Jugendliche aus dem toleranteren Sunshine State – der Missbilligung ihrer Umwelt ausgesetzt gesehen haben dürften. Vielleicht stammen Wut und Wucht hinter ihrer Musik aus dieser Nichtachtung. Necros‘ Conquest for Death hat (…, ich habe damit angefangen – ich mach jetzt weiter damit…) natürlich auch die knapp 20 Minuten Playtime, ist – ähnlich wie Tied Down – Punk mit viel Noise und angepisstem Pathos, hier gibt es keine Metal-Anleihen, der Sänger schreit seine Wut heraus und Songtitel wie „Police Brutality“ verweisen auf die in dieser Szene üblichen, bei Konzerten gemachten Erfahrungen. Man kann hier möglicherweise die mangelnde Originalität beklagen – Necros haben keinen John Bannon als Sänger und ihre Musik ist ein Mix aus Black Flag und Minor Threat. Hardcore aus den USA eben. Aber die Kraft und Explosivität des Hardcore Punk jener Zeit springt aus jedem Song. Interessant noch zu erfahren, dass der Bassist Corey Rusk ’83 das ehemalige Fan-Zine Touch and Go übernommen hatte und – ähnlich wie Black Flag’s Greg Ginn und Chuck Dukowski oder Ian MacKaye von Minor Threat – daraus ein DIY Label formte, auf dem zunächst dieses Album in der Stückzahl 2.000 veröffentlichte. Dass Touch and Go sich im Laufe der Zeit auch zu einem DER Indie Labels entwickelte, soll hiermit erwähnt sein (Bands wie Big Black, Butthole Surfers Jesus Lizard sind dort…). Dass Conquest for Death danach nicht mehr re-released wurde, ist ärgerlich, hängt mit der Trennung von Rusk und der Band und nachträglichen Streitereien zusammen. Rusk traf sich danach mit John Bannon bei den oben erwähnten Laughing Hyenas und leitete Touch and Go. Dieses Album von Necros ist unauffindbar, aber es gibt immerhin die Bandcamp-Seite von Necros. Die nachfolgenden Alben allerdings sind nicht so doll – zu viel Metal, zu wenig Sturheit.

No Trend
Too Many Humans…

(No Trend Rec., 1983)

Cover – ?

Hardcore in diesen Zeiten, abgefeiert von kahlrasierten junge Menschen, die konsequent kein Fleich essen und gesund leben, sich auf den Konzerten allerdings gerne beim Tanzen umhauen – das steht doch irgendwie auch für eine positive Haltung zur Existenz, da mögen Politiker und Gesellschaft noch so verachtet werden, diese Leute hatten eine Vision – und wurden zur Mode. Und da kam mit No Trend die Hardcore Band, die Hardcore beendete. Ihr Debüt-Album Too Many Humans… ist das nihilistische Ende, das Bands wie Black Flag mit My War oder Fang mit ihrer EP Landshark! nicht zu erreichen wagten. Tatsächlich hatte die Band sich an der Ostküste in Maryland als Reaktion auf den „Erfolg“ solcher Washington DC Bands wie Minor Threat gegründet – die Musiker verabscheuten die Punk Szene Washington’s und hatten eigentlich vor, nur eine einzige Single zu veröffentlichen. Aber die Ideen flossen, ein paar Konzerte – nicht mit, sondern gegen das Publikum – versprachen Spaß und so kam dann Too Many Humans… zustande. Mit Musik, die Bestandteile des verhassten Genre’s beinhaltet, mit negativen Lyrics, mit einer anti-sozialen Haltung und schlammigen, noisig-chaotischen Gitarren, einem sumpfigen Bass, der sein Vorbild Jah Wobble/P.I.L. nicht verleugnet und mit dem Sänger Jeff Mentges, der Nichts und Niemanden mag – aber Spaß daran hat: „Too Many / Fucking Humans / They Breed Like Rats / And You’re No Fucking Better „ – der Titeltrack sagt schon alles. Und auch hier weise ich darauf hin – wäre nur die Haltung interessant, dann würde ich Too Many Humans… gar nicht erwähnen. Der Closer „Happiness Is…“ ist eine Collage aus Radio-und TV-Schnipseln, gerade wegen seiner Unprofessionalität gelungen, aber Tracks wie „Kiss Ass to Your Peer Group“, das bei Konzerten gerne auf 20 Minuten ausgedehnt wurde, weisen darauf hin, wo Bands wie die Butthole Surfers etc. sich hin bewegen würden, Post-Hardcore eben…

The Wipers
Over the Edge

(Restless, 1983)

Art Direction – Greg Geffner

Bei den Wipers (die kommen vom Land.. aus Oregon) von Hardcore zu sprechen, ist eigentlich ein Witz. Die Band um den schon über dreißig Jahre alten Greg Sage mag ja so independent wie Black Flag sein, und ihre konsequente Verweigerungshaltung gegenüber der Musik-Industrie mag so glaubwürdig wie legendär sein – aber die Musik auf ihrem dritten Album Over the Edge hat mit dem, was man sich unter Hardcore-Punk vorstellt, Nichts zu tun. Und dennoch… ich weiß, dass Leute, die Black Flag und Minutemen lieben, seltsamerweise Greg Sage’s melodisches Gitarrenspiel und seine, treibenden, düster-romantischen Songs hoch schätzen. Ich mein‘ ja nur: Kurt Cobain name-droppte die drei ersten Alben der Wipers unter seinen Top 50 – in einer Liste neben Black Flag, Bad Brains, Fang etc… Und er ist mit seinem Geschmack nicht alleine. So würde auch ich diesen dritten Teil einer famosen Trilogie von Alben jedem vorspielen, der sich für die Bands und die Musik in diesem Kapitel interessiert. Dabei hatte Greg Sage eigentlich ein Problem mit der Kürze der Songs in der Punk-Szene, trat zwar auch live vor einem vergleichbaren Publikum auf und hatte einen hervorragenden Ruf – aber fühlte sich ganz schlicht keiner Szene zugehörig. Wer sich Over the Edge anhört, dürfte erkennen, dass hier Musik gemacht wird, die vielleicht die Haltung mit Punk teilt, die aber weder das Tempo noch die Aggressivität, noch den Sound mit den vorher beschriebenen Bands teilt. Over the Edge klingt höchstens wie eine Vorschau auf die besseren unter den Grunge-Bands der kommenden Jahre, aber es gibt auch große Unterschiede zu diesen. Die Gitarren sind – insbesondere auf diesem Album – süß und saftig, Songs wie „The Lonely One“ müssten eigentlich fast kitschig sein, aber Klarheit und Reduktion machen sogar diese „Ballade“ zu einem völlig eigenständigen Stück Musik ohne Vorbilder oder Nachahmer. Beeindruckend, wie Bass und Drums Fahrt aufnehmen und Sage ein „Solo“ spielt, dass jede Peinlichkeit meidet. Die Rhythmen auf diesem Album erinnern an Kraut-Motorik, und das wird gepaart mit Hymnen wie „No Generation Gap“ oder dem tatsächlich fast an melodiösen Punk gemahnenden Hit „Romeo“. Die Wipers sind eine dieser Bands, die man als Solitäre bezeichnen kann. Hardcore? Vielleicht.

The Misfits
Earth A.D./ Wolf’s Blood

(Plan 9, 1983)

Cover – Marc Rude. Grafiker

Also schön. Wenn ich einen Bezug finden muss, dann kann ich bei Earth A.D./Wolf’s Blood von den Misfits zunächst mal darauf verweisen, dass sie in der ’83er Inkarnation mit Robo den ehemaligen Drummer von Black Flag dabei haben. Aber spielen die Misfits Hardcore? Wie gesagt, dieses „Genre“ hat seine Grenzen inzwischen weit hinausgeschoben – und die Misfits gehören zu denen, die sich um besagte Grenzen nie geschert haben. ’82 gab es mit Walk Among Us ein Album mit neu eingespielten, alten Single-Tracks, das großartigen, komplett eigenständigen Horror-Punk bot, das zum Klassiker wurde. Earth A.D./Wolf’s Blood ist wieder eine ganz andere Sache, die 50ies Pop Melodien werden jetzt gegen drei-Akkord-Punk eingetauscht, die Band spielt mitunter völlig out of tune, SST-Produzent Spot macht seinen Job im Sumpf – und genau das passt zur Musik. Es ist das letzte Album, bei dem sie das Muskel-Paket Glen Danzig als Sänger dabei haben, somit eigentlich das letzte ernst zu nehmende Misfits-Albem (neben dem Archiv-Material von Static Age und den seltsam sinnlos kompilierten EP’s), es zeigt, wo Glen Danzig mit seiner folgenden Band Samhain hin will, es ist Chaos und Hardcore und Punk und es dauert (im Original) eine knappe Viertel-Stunde. Manchem ist dieses Album ZU primitiv, ich halte es gerade wegen seiner Rohheit für großartig. Man höre nur „Green Hell“ oder das bezeichnend benannte „Death Comes Ripping“, bei dem eigentlich alle Beteiligten mal ganz gepflegt die Kontrolle verlieren. Horror-Punk.

The Cramps
Off the Bone

(I.R.S., 1983)

cover – ein gewisser „Dead Jaw“. Original mit 3D-Brille

Kaputter Punk, die Zweite. Die Cramps haben sich auf ihrem eigenen Terrain seit den Mitt-Siebzigern eingerichtet und unverzichtbar gemacht. Man muss bedenken, dass sie 1976 entstanden, dass ihre Musik sicher über britischen Punk informiert ist, aber die Kombination aus B-Movie-Ästhetik, Psychobilly, Garage Rock und Gruft von Vorne herein einzigartig war. Ihre ersten Singles veröffentlichten Lux Interior, seine Gespielin Poison Ivy Rorschach und ihr erster Gitarrist Bryan Gregory schon ’78 – als Bands wie Black Flag oder Minor Threat gerade begannen ihre Ideen zu formulieren. Solch derangierte Musik wie bei den Cramps konnte nur in New York entstehen, nach den beiden hervorragenden Alben Songs the Lord Taught Us (80) und Psychedelic Jungle (81) war eine Kompilation der vorherigen Singles erforderlich. Diese waren oft Cover-Versionen mehr oder minder obskurer 50er Tracks – durch eine schmutzige Pfütze und einen Häcksler gezerrt, umgebracht und dann mit Elektroschocks wiederbelebt. Interior heult, schreit, croont, Gitarren schreddern und ein wechselndes Rhythmus-Gespann rumpelt. Aber all das mit Stil im Übermaß. Man höre sich die psychopathische Version von „Lonesome Town“ an – eigentlich von Ricky Nelson an Teenager-Girls gerichtet, hier mit eindeutigen Selbstmord-Absichten geweint. Oder den 62er „Surfin‘ Bird“, schon bei den Thrashmen dereinst ziemlich kaputt, hier so dekonstruiert, dass es klappert. „Fever“, das man von Elvis kennt, wird in den Schacht geschoben, unbekanntere Rockabilly-Tracks von Leuten wie Jack Scott („The Way I Walk“), Mel Robbins („Save It“), Hasil Adkins („She Said“), Ronnie Cook („Goo Goo Muck“) bekamen in der Zeit vor den beiden Alben eine Comic-Behandlung, die nicht nur komisch war, sondern auch zum Fürchten. Off the Bone ist ein weiterer Beweis für die Einzigartigkeit der Cramps. Ob sie Hardcore im Sinne der anderen hier sind? Vermutlich auch nicht, aber ich schätze, wer die Misfits mag, könnte auch die Cramps mögen.

20 Best

Wie immer – die Nerd-Top 10, jetzt wegen der Kürze der Alben aber 17+3. Gerade beim US-Hardcore ist das ganz ganz schwierig. Diese Art der Musik hat sich in kürzester Zeit aus schlichtem, schnellen Punk in verschiedenste komplexe Varianten entwickelt. Die Bands aus Los Angeles, Washington DC, dem Mittleren Westen der USA oder New York sind sehr unterschiedlich und verändern sich in den gerade mal fünf Jahren von ’79 bis ’84 immer weiter – als wären 20 unterschiedliche Typen in einem Raum und laufen mit einem Affenzahn auseinander. Aber ich fasse mich kurz: Müsste ich jemandem eine Auswahl an Alben/EP’s nur mit Hardcore aus den USA der frühen Achtziger – empfehlen, dann wären es die Folgenden:

Germs – (GI) (1979)

X – Los Angeles (1980)

Dead Kennedys – Fresh Fruit for Rotting Vegetables (1980)

Circle Jerks – Group Sex (1980)

Black Flag – Damaged (1981)

Adolescents – s/t (1981)

Agent Orange – Living in Darkness (1981)

Fear – The Record (1982)

The Faith / Void – s/t (1982)

Angry Samoans – Back From Samoa (1982)

Descendents – Milo Goes to College (1982)

Misfits – Walk Among Us (1982)

Flipper – Album: Generich Flipper (1982)

Bad Brains – Rock for Light (1983)

Suicidal Tendencies – s/t (1983)

Hüsker Dü – Zen Arcade (1984)

Minutemen – Double Nickles on the Dime (1984)

Das Single/EP-Format ist DAS Format im Hardcore, daher hier noch drei der Besten – oft gerade mal 10 Minuten mit dem Wichtigsten…

Black Flag – Nervous Breakdown (1978)

Minor Threat – Out of Step (1983)

Fang – Landshark! (1983)

Und das ist nur die Spitze des Eisberges (wie man in diesen Artikeln lesen kann) Black Flag, Dead Kennedy’s, Minor Threat, Hüsker Dü, Minutemen, Misfits, X, Descendents – sie alle haben noch weitere tolle Alben gemacht. Und natürlich kommen nach ’84 noch etliche weitere Klassiker – zumal es mit den Meat Puppets, den Cramps, den Wipers, den Replacements noch etliche Bands gibt, die in diesen paar Jahren Hardcore so weit fassen, dass ich sie HIER nicht nennen will, sie aber andererseits genau das tun, was mich am US-Hardcore so begeistert. Diese Musik hat schon jetzt hunderte von Facetten… und ist die Wurzel aller sog. „alternativen“ Rockmusik ab den Mitt- Achtzigern.