Punk ist schon ein Überbegriff, unter dem Musiker und Bands versammelt werden, die völlig unterschiedlich sind – die mal in diese, mal in jene Richtung tendieren, die sich zumal schnell weiter entwickeln, die den Begriff und die Gedanken hinter „Punk“ möglicherweise nicht einmal teilen, die aber von der Musikpresse und der Musik-Industrie in die verkaufsfördernd hippe Schublade gesperrt werden. Und diese Schublade bekommt bald einzelne Fächer – von denen eines Power-Pop heisst. Der Begriff selber wurde angeblich dereinst von Pete Townshend für die Musik seiner Band The Who verwendet, man hat dann zu Beginn der Siebziger Bands, die den (damals unmodernen) Sound der Beatles neu belebten, mit dem Begriff Power-Pop etikettiert. Bands wie Badfinger, The Raspberries und vor Allem Big Star werden als erste Generation des Power-Pop bezeichnet. Als dann im „Jahre Punk“ diverse Bands dessen Wucht mit seligen Harmonien, nicht nihilistischen Texten und Bezügen zu The Who, The Kinks, Beatles etc verbanden, wurde deren Kunst einfach mit dem Etikett Power-Pop versehen. Das heisst: melodische, weniger harte Punk-Acts spielen Power-Pop – wobei natürlich (wie immer) die Grenzen zwischen Punk/New Wave und (Power) Pop durchlässig sind. So sind hier unten Alben von Bands vertreten, die man ohne weiteres auch in einem Kapitel über Punk Anno ’77 unterbringen könnte, andere machen schon seit seligen „Prä-Punk-Zeiten“ Sachen, die sich im Zuge des Hypes mit dem Power-Pop-Etikett versehen lassen. Sleepwalker von den Kinks ist wegen des deutlich erkennbaren Power-Pop Bezuges hier untergebracht. Dave Edmunds spielt schon seit Beginn der Siebziger Rock’n’Roll – aber jetzt passt er in die Schublade. The Jam sind jugendliche Wiedergänger von The Who – sind Punk/New Wave, sind Power-Pop. Elvis Costello macht New Wave bzw Power-Pop – weil ich das jetzt mal so definiere. Will Sagen: Power Pop ist die Überschrift über Musik die nicht (mehr) Punk ist, auch kein New Wave ist, die von Mods und Beatles beeinflusste, kurze und prägnante Songs mit Punk-Härte und unterschiedlichen Beigeschmäckern können. Power Pop ist in den Jahren ’77 bis ’79 eine Kategorie, die für etliche Alben passt – und ich werde unter dieser Überschrift Einiges auswählen, ehe Power-Pop dann in allen möglichen Stilarten aufgeht. Hier erst mal acht Acts mit zehn Alben, die – wenn man so will – Power-Pop bieten. …Ich will.
The Boys
s/t
(NEMS, 1977)
Die britische Antwort auf die Ramones anyone ? 14 Tracks, 6 davon unter zwei Minuten, kaum einer über drei Minuten Länge, und dabei packen die Boys mehr Songideen in einer knappen halbe Stunde auf ihr Debüt, als andere Bands in ihrer ganzen Karriere haben. Es beginnt mit dem gefühlvollen „Sick on You“: „If I’m going to have a puke, you can bet your life I’ll puke on you“ dichten sie, verarbeiten dabei die Beatles mit einer Prise Everly Brothers, und versetzen deren Pop/Rock in die Punk-Ära. Natürlich wurden sie in die Punk-Ecke gestellt – ein Schicksal, welches sie mit vielen Power-Pop Bands ihrer Zeit teilen sollten – dabei hatten sie – genau wie die Kollegen von den Shoes – weit mehr mit klassischem Songwriting ihrer Vorbilder zu tun als mit No Future. Entstanden waren sie aus den Bands London SS und den Hollywood Brats, sie spielten im Roxy, nahmen an gerade mal zwei Tagen das Debüt auf, löschten dann zugunsten mehr Gitarren die Hammond Spuren aus ihrem Sound, wurden von John Peel hoch gelobt und hatten dann das unsägliche Pech, dass Elvis starb. Daraufhin konzentrierte sich ihre bescheuerte Plattenfirma nämlich auf die Produktion von Elvis-Compilations und ließen die talentierte Band verhungern. Immerhin, die Geschichte der Boys geht weiter, weil sie zunächst nicht aufgeben konnten.
The Shoes
Black Vinyl Shoes
(Black Vinyl, 1977)
Die Brüder Jeff und John Murphy und ihr Schulfreund Gary Klebe, drei Pop-begeisterte Jungs aus Zion, Illinois, beschlossen Mitte der Siebziger nach ihrem High-School Abschluss zunächst einmal Musikinstrumente zu lernen, um ein paar selbstgeschriebene Songs aufzunehmen. Sie fanden mit Skip Meyer noch einen Drummer und nahmen im Wohnzimmer die ersten Songs auf, veröffentlichten diese auf ihrem eigens gegründeten Label und erweckten die Aufmerksamkeit von PVC Records. Die mit rudimentärem Equipment aufgenommenen Songs hatten gerade durch ihren rohen Sound eine Prägnanz, die ein Studio nie hätte schaffen können. Der Sound der Gitarren war erstaunlich fett, erinnert manchmal fast an die Wipers, aber die Songs orientierten sich ganz klar an Bands wie den Beatles und Big Star. Die Musik auf Black Vinyl Shoes ist definitiv kein Punk, sondern das, was ich hier als Power-Pop definieren will – und sie ist so, wie man sich ihn wünscht. Die Songs trügerisch einfach, aber dann wieder mit erstaunlicher Melodieführung. „Fire for Awhile“ erinnert sogar an die Beach Boys. Diese Art der Popmusik klingt gerade durch ihre Einfachheit wie aus der Zeit gefallen – und das sollte für zeitlose (Power)-Pop Musik immer gelten. Und Black Vinyl Shoes hat in meinen Ohren noh eine besondere Eigenschaft: Das Album klingt so, als hätten die vier Musiker die Popmusik gerade erfunden – und würden voller Staunen das Ergebnis betrachten.
Elvis Costello
My Aim Is True
(Stiff Rec., 1977)
Na – der hier klang NIE naiv. Declan Patrick MacManus aka Elvis Costello scheint von Anfang an mit voll ausgebildetem Talent – und angefüllt mit beissendem Zynismus – auf der Musik-Szene erschienen zu sein. Immerhin war er seit Beginn der Siebziger – seit seinen „Teens“ – in London’s Pub-Rock-Szene unterwegs gewesen. Dass er später immer der Punk/New Wave-Szene der End-Siebziger zugerechnet wurde, liegt wohl schlicht an den zeitlichen Umständen und an den Bands, die um ihn herum aufkamen. Will sagen – sein Musikalität hätte sich vermutlich in jedem Umfeld durchgesetzt. Wobei seine ätzende Stimme,(die ich nicht wirklich mag) natürlich hervorragend zu Häme und Punk passt. Sein Songwriting aber war immer „klassisch“ – an Rock’n’Roll und Brill Building geschult. Für das Debütalbum wurde ihm die US-Westcoast Band Clover ins Studio geholt, die sich gerade in England aufhielt. Ex-Brinsley Schwarz (und Pub-Rock-) Musiker Nick Lowe produzierte schmucklos – und ließ so die Songs in klassischem Gewand strahlen. Man mag sich fragen, ob My Aim is True besser geklungen hätte, wäre schon Costello’s spätere Band The Attractions mit dabei gewesen. Ich glaube nicht – Songs wie das Byrds-artige „(The Angels Wanna Wear My) Red Shoes“ vertragen den Westcoast Sound von Clover gut, der Hit des Albums, „Alison“, würde auch als New Wave-Track nicht besser klingen. Und für die Single „Less Than Zero“ zogen Clover sich die Country-Hosen komplett aus. Schon der erste Song auf Costello’s Debüt ist einer seiner Größten: Die 1 Minute 22 von „Welcome to the Working Week“ nahmen Vieles vorweg, was noch kommen würde. Lustig, dass Costello viele der Songs auf dem Weg zu seinem Brot-Job schrieb – aus Rücksichtnahmen auf Frau und Kind zuhause. Er war schließlich „schon“ 23 Jahre alt und hatte es eilig mit seiner „Karriere“. Er nannte den ersten moderaten Erfolg von My Aim is True „an overnight success after seven years “. Danach ging’s wirklich los. Ob das jetzt Power-Pop oder New Wave ist, kann ja jeder mit sich selber abmachen.
Graham Parker and the Rumour
Stick to Me
(Vertigo, 1977)
Es ist naheliegend, Graham Parker and The Rumour im Zusammenhang mit Elvis Costello zu benennen. ’77 wurden beide tatsächlich in den gleichen Top geworfen. In den Topf mit den zornigen jungen Männern, die irgendwie auch „Punk“ waren. Wobei – sowohl Costello als auch Parker haben eine Zugehörigkeit zum Punk sicher vehement verneint. Parker ist nicht einmal Teil dieser Generation – er ist 1950 geboren. Und wer sein drittes Album Stick to Me heute hört, der mag hier und da eine „punk-nahe“ Ästhetik bemerken, aber eigentlich sind Sound und Songwriting Parker’s und seiner famosen Band Rhythm’n’Blues, Soul, Pub-Rock und Rock’n’Roll… und somit also der Power Pop, der dieses Kapitel bezeichnet. Produziert wurde Stick to Me von Nick Lowe, dessen Ex-Bandkollegen Bob Andrews und Brinsley Schwartz waren Teil von The Rumour – und hatten Anfang der 70er mit der Band Brinsley Schwartz britischen Westcoast Psychedelic-Rock gemacht. Das waren also auch Musiker, die man kaum Punk nennen konnte. Mit Parker hatten diese erfahrenen Musiker einen Sänger und Songwriter, der in dieser Zeit so brannte wie Elvis Costello. Er hatte im Vorjahr die beiden Alben Howlin‘ Wind und Heat Treatment und vor allem mit „(Hey Lord) Don’t Ask Me Questions“ gemacht, die in ihrer ungestümen Wucht beeindruckt hatten – und dadurch in die Schublade kamen, die gerade offen war. Wie gesagt – das passte Parker garnicht, er wollte ein Album mit Orchester und Bläsern, bekam aber „nur“ eines, in dem nur ab und zu das große Besteck aufgefahren wurde – und damit Eines, das sich nach weissem Soul und eben Power Pop anhört. Da ist mit dem Titeltrack ein Hit, der mit Streichern beginnt, dann aber schwitziger Rhytm’n’Blues wird. Auch sonst hatte Parker wieder feine Songs dabei: „Problem Child“ ist ein kraftvolle Soul-Stomper, „Clear Head“ belehnt Reggae, „The Heat in Harlem“ ist wirklich heiß. Und Parker’s nölige Stimme war sowieso einmalig. Damals wurde es wegen zu wenig Punk missachtet. Mit offenen Ohren muss man das schlechte Urteil revidieren
Dave Edmunds
Get It
(Swan Song, 1977)
Eigentlich war geplant, dass obiger Elvis Costello für Dave Edmunds ein paar seiner Songs zu dessen ’77er Album beitragen würde – aber Dave Edmunds wollte nicht, und Costello hatte sowieso eigene Pläne. Edmunds wiederum war schon weit über 30, er hatte Ende der Sechziger mit dem Blues-Rock Trio Love Sculpture zwei famose Alben – und sich als Gitarren-Virtuose einen Namen – gemacht. Aber dann machte er ’72 das Solo-Album Rockpile, auf dem er seine Liebe zu klassischem Rock’n’Roll feierte – und bei dieser Liebe blieb er dann. Er war befreundet mit Costello’s Produzent Nick Lowe, und so holte er sich dessen Hilfe für das ’77er Album Get It. Edmunds Einflüsse sind sofort erkennbar: Die Beatles, die Everly’s, Rock’n’Roll, Country – ein Gebräu das man natürlich heute, ohne die dereinst üblichen Ressentiments gegen Alles, was vor Punk geschah – getrost unter das große Zeltdach Power Pop stellen kann. Die Tatsache, dass Get It auf Led Zeppelin’s Swan Song Label veröffentlicht wurde, zeigt, wie gut der Geschmack und wie ehrenhaft das Konzept der Superstars war. Es zeigt aber auch, dass die Musik hier bestimmt kein Punk ist, sondern klassischer Rock(n’Roll). Mit Detail-Versessenheit, Kompetenz, und Lust eingespielt. Ob beim Rock’n’Roll von „Let’s Talk About Us“ von „Fever“-Komponist Otis Blackwell, ob bei Hank Williams Country-Klassiker „Hey Good Lookin’“ oder bei Graham Parker’s „Back to School Days“ – Alles klingt klassisch und zugleich frisch und zeitgemäß. Wer den Beweis braucht, dass Power-Pop zu 80% Rock’n’Roll ist (und umgekehrt), der höre sich Get It an. Übrigens hört man hier, wie Lowe, Edmunds, Drummer Tery Williams und Keyboardern Bob Williams als Rockpile zur eingespielten Band werden, die nur aus rechtlichen Gründen bis 1980 kein Album einspielen durfte. Ein Jammer.
The Diodes
s/t
(CBS, 1977)
The Diodes und ihr selbstbetiteltes Debütalbum ist in Europa vermutlich einfach nur deswegen so unbekannt, weil sie aus Toronto, Kanada stammen. Die ’76 gegründete Band musste sich ihre Szene buchstäblich selber schaffen. Sie supporteten die Talking Heads in ihrer Heimatstadt, eröffneten mit ihrem Manager den Crash ’n‘ Burn Club, gingen Anfang ’77 auf Tour, spielten im CBGB’s neben den Cramps und sind so etwas wie die Urväter der kanadischen Punk-Szene. Und als wäre das nicht genug der Ehre, kann man ihr Debütalbum getrost in eine Reihe mit den 70er Alben der Ramones, der Clash und der Sex Pistols stellen – mit der Ergänzung, dass hier neben „piss & vinegar“ mit einer erstaunlichen, an Garage-Rock und British Invasion geschulter Pop-Sensibilität agiert wird. Die Tatsache, dass das von Paul Simon für die US-Psych-Band The Cyrkle geschriebene „Red Rubber Ball“ das Album eröffnet, mag da Programm sein. Klar, dass auch eigene Songs wie „Child Star“ (über den Verfall von Kinder-Schauspielern nach deren erster Karriere) oder das stark nach Garage-Rock riechende „Blonde Fever“ äußerst gelungen sind. Der Vergleich mit den Ramones mag hinken – das Tempo ist im Studio gesitteter als live – aber das Talent für Schlagworte ist vergleichbar. Das Album wurde in den USA und Kanada veröffentlicht, aber in Europa kam man nur an das teure Import – so blieb der Erfolg aus. ’78 gingen The Diodes mit den Ramones auf Tour, das zweite Album ließ auf sich warten, dann ließ Columbia sie wegen ausbleibendem Erfolg fallen und sie mussten sich um sich selber kümmern. Die Band machte unermüdlich weiter, spielte mit allen möglichen namhaften Kollegen (Circle Jerks, Ultravox, U2 (!)), aber mehr als Credibility und Ehre kam nicht dabei heraus. The Diodes (und den Nachfolger Released) kann man ohne jede Einschränkung empfehlen. Die Punk-Seite des Power-Pop… so wie…
The Jam
In The City
(Polydor, 1977)
… The Jam aus dem United Kingdom. Das waren 1977 drei junge Musiker, die sich eindeutig an den Vorvätern des Power Pop – an The Who und The Kinks – und an Soul und R’n’B orientieren. Von der Kleidung, dem Gehabe bis zum Songwriting sind die Vorbilder erkennbar – aber sie sind auf sehr geschmackvolle Weise in die Zeit des Punk transformiert. Sprich: Punk schimmert durch jedes Knopfloch. Tatsächlich hatte Paul Weller, der Kopf von The Jam, die Band schon 1972 gegründet. Im Style der Mod’s und in der Wucht solcher moderner Rhythm’n’Blues Bands wie Dr. Feelgood sah er einen Angelpunkt für die eigene musikalische Entwicklung, er wechselte vom Bass zu Gitarre, verschwor die Kumpels Bruce Foxton, der den Bass übernahm und Drummer Rick Buckler zu einer kraftvollen Einheit und begann – nachdem zunächst Vorbilder aus Rock’n’Roll und Soul gecovert wurden – eigene Songs zu schreiben. Und das war ein Glücksfall: Paul Weller mag seinen Style abgeschaut haben – aber er hatte von den Vorbildern alles Wichtige gelernt und er war ein wacher Kopf, der ein Ohr für großartige Melodien hat. Viele dachten, In the City sei das Werk eines Frühvollendeten. Die Energie, die hier hervor birst, lässt es locker neben den Punk-Alben dieses Jahres bestehen, das Songwriting ist noch unbehauen, wie gesagt an Vorbildern orientiert, aber dennoch eigenständig und einfallsreich. Das Cover des „Batman Theme“ ist am Vorbild von The Who orientiert, die Themen von Songs wie dem Titeltrack oder „Bricks and Mortar“ spiegeln ur-britisch juvenile Unzufriedenheit wider – wobei man in linken Punk-Kreisen über Weller’s Verachtung für „Punk’s trendy left-wingers“ nicht entzückt war. Die folgende „White Riot“ Tour mit The Clash wurde jedenfalls vorzeitig abgebrochen….
The Jam
This Is the Modern World
(Polydor, 1977)
…und nach einer eigenen Tour ging die Band sofort wieder ins Studio – und das, obwohl Weller durch eine frische Liebe und die teilweise Verachtung seines Publikums nicht wirklich bei der Sache schien. This Is the Modern World, das zweite Album von The Jam, gilt somit als ihr schwächstes – und ich würde es hier auch ignorieren, wäre ich nicht der Meinung, dass es auch etliche Stärken hat. Die Singles von The Jam hatten den erhofften Erfolg, die Band galt was, wurde trotz aller Differenzen dem Punk-Hype zugerechnet… und diesem Trend wurde gerade der letzte Saft ausgepresst. Aber Weller hatte bei allem Tumult immer ein paar gute Songs im Köcher. Sein erster Love Song „I Need You (For Someone)“ ist gelungen, der großartige Titeltrack und „Standards“ zeigen, wie sehr Weller als Songwriter wächst, die Cover-Version von „In the Midnight Hour“ ist kraftvoll. Manche Tracks mögen hastig hingeworfen sein – es fehlte offenbar die Qualitätskontrolle – aber Weller brauchte diese Delle, um größere Klasse zu erreichen – und der kraftvolle Sound der Band The Jam wurde hier noch einmal konzentriert. This Is the Modern World ist unter den Alben des Jahres ’77 mindestens erwähnenswert – und es hat mit der Zeit gewonnen…
The Kinks
Sleepwalker
(Arista, 1977)
Da ist es im Zusammenhang mit den beiden ersten Alben von The Jam natürlich passend, auf das fünfzehnte Album von Paul Wellers Vorbildern The Kinks einzugehen, es zu loben und in diesen Zusammenhang zu stellen… Die Kinks gehörten in England natürlich zu den etablierten Bands – wobei die ganz große Zeit vorbei schien, die letzten Konzept-Alben eher halbgar waren. Aber Punk im UK war ein Stil, der zu den Kinks passte. Sie hatten die Plattenfirma gewechselt und man kann annehmen, dass Ray Davies von der Wut und Wucht etlicher Bands durchaus angetan war – so mag er zu dem Schluss gekomen sein, dass diesmal eine konzept-freie Songsammlung angeraten war. Die Kinks haben per Definition schon immer Power Pop gespielt, dieses Album zeigt immerhin, dass sie auch nach 13 Jahren noch Kraft und Ideen hatten. Ihr Konk-Studio war aufgerüstet worden, so dass Sleepwalker einen volleren Sound hat, fast ein bisschen überproduziert klingt und als erstes Album ihrer „Arena Rock Phase“ bezeichnet wird – was mitnichten heissen soll, dass das Album schlecht wäre. Davies hatte wieder etliche tolle Songs auf Lager, die sich nun keinem thematischen Überbau unterordnen mussten. Und er hatte natürlich inzwischen alle möglichen Sprachen ‚drauf: „Mr. Big Man“ klingt nach Glam, Theater und Pop, der Titeltrack des Albums wurde zur Überraschung der Band ein kleiner Chart-Erfolg in den USA – trotz eines für Ray Davies erstaunlich düsteren Textes: „When everybody’s fast asleep, I start to creep through the shadows of the moonlight, I walk my beat. Better close your window tight I might come in for a bite. I’m a sleepwalker, I’m a night stalker“ Dass der Song wieder eine dieser unwiderstehlichen Melodien hat, versteht sich. Ray Davies war in Form. Und mit „Juke Box Music“ gibt es einen weiteren Klassiker der Band auf dem Album. Pop von den Kinks = Power Pop.
Dwight Twilley Band
Twilley Don’t Mind
(Shelter, 1977)
Die Dwight Twilley Band ist zwar nicht ganz so alt, wie die Kinks, aber ihre Wurzeln reichen immerhin bis ins Jahr ’67, als sich der Keyboarder und Gitarrist Dwight Twilley und der Bassist Phil Seymour in Tulsa bei einem Beatles-Konzert kennenlernten. Die zwei probten, schrieben fleissig Songs, spielten Folk, dann an The Who orientierten Pop – und hatten ’75 mit der als Demo aufgenommenen Single „I’m On Fire“ tatsächlich einen Hit in den USA. Aber dann gab’s nur noch Pech: Die beiden waren zu der Zeit in England um das Debüt aufzunehmen, aber dieses wurde zurückgehalten, in den USA wurden die Demo’s neu aufgenommenen, der Release wurde wieder verschoben, weil das Label rechtliche Probleme hatte und als das Debüt Sincerely ’76 (siehe Power-Pop ’76…) herauskam, war der Erfolg der Single mehr als ein Jahr her. Jetzt sollte zum zweiten Album Twilley Don’t Mind eigentlich alles besser werden. Shelter hatte einen neuen Vertrieb, die Aufnahmen liefen gut – aber dann misslang der Mix des letzten Songs und es kamen nur neun Tracks auf ein gerade mal halb-stündiges Album, das wieder von den Kritikern geliebt, von den Käufern aber ignoriert wurde. Twilley und Seymour hatten sich mit Tom Petty, der auch auf Shelter war, angefreundet. Aber dessen Erfolg und ihr Misserfolg nervte Seymour so sehr, dass er die Partnerschaft mit Twilley beendete. Dieses letzte Album der beiden allerdings ist, auch wenn es nicht ganz die Klasse von Sincerely hat – sehr hörenswert. Auch im Vergleich mit den zu dieser Zeit angesagten (Post)-Punk-Acts. Die Liebe zu den Beatles, Kinks und The Who ist auch hier hörbar, der Gesang ist sehr jungenhaft – vielleicht fehlt ihm der Dreck des Punk – und die neun Songs sind fehlerfrei. Die drei Minuten von „Looking for the Magic“ etwa sind meisterlicher Gitarren-Power-Pop – mit Tom Petty als Gast. „Post-Punk“ Bands wie Squeeze haben das nicht besser hinbekommen. Auch das fein orchestrierte „Sleeping“ oder der Opener „Here She Come“ zeigen, wie zeitlos diese Art Musik sein kann, wenn alle Elemente stimmig ineinander greifen. Twilley und Seymour machte solo weiter, blieben aber beide leider trotz Lobes von allen Seiten relativ erfolglos. Power-Pop-Helden eben.
Pezband
s/t
(Passport Rec., 1977)
Die ’71 in Chicago entstandene Pezband hat in Europa nie wirklich Fuß gefasst. Als sie ’77 ihr Debüt bei Passport Rec. veröffentlichten, waren sie schon erfahrene Routiniers. Sie hatten in sechs Jahren in allen namhaften Venues an der Ost- und Westküste der USA gespielt und galten als hoffnungsvoller Act – in Kreisen, denen Punk zu wild war, die aber auch Progressive Rock und Psychedelic satt hatten. Auch diese Band orientierte sich an den Beatles und an den Kinks, hatte mit Bandgründer Mimi Betinis einen Sänger, der ein bisschen wie Paul McCartney klang, und der sich erst vor einem Jahr dazu entschlossen hatte ans Mikro zu treten. Und sie waren auch in all den Jahren fähige Songwriter geworden. Beim Debüt Pezband half auf einem Song Bruce Springsteen’s Saxophonist Clarence Clemmons mit und mit Larry Fast war ein innovativer Synthesizer-Spezialist dabei. Allerdings hatten diese Vier eigentlich keine Special Guests nötig. Pezband klingt eigenständig – es ist Power Pop, der zwar die Beatles auswendig kennt, der aber mit soviel Enthusiasmus gespielt wird, als wäre er gerade neu erfunden. Womit er natürlich aus der Zeit fällt. Allerdings fiel das damals zu wenigen Menschen auf. Der Hype um spektakulärere Bands war ’77 zu laut für die Pezband. Wer klassischen Power Pop hören will, muss dringend Tracks wie „Please Be Somewhere Tonight“ oder den Opener „Baby It’s Cold Outside“ hören. Auch sehr schön, gerade weil etwas kitschig: „Hold On“. Oder Tracks wie „Tracer“, „Princess Mary“ und „Gas Grill“. Aber Bands wie die Pezband, die Dwight Twilley Band oder Artful Dodger waren – auch optisch! – einfach nicht auffällig genug. Die ebenfalls in den USA entstandenen Cheap Trick hatten immerhin mit Rick Nielsen einen einzigartigen Gitarristen – und mit Epic eine grosse Plattenfirma im Rücken. Bei der Pezband ging es zunächst mit dem Support für Fleetwood Mac und Supertramp weiter, sie spielten aber immerhin auch mit den Ramones im CBGB’s und gingen dann nach England um mit Laughing in the Dark einen noch besseren Nachfolger aufzunehmen. Aber dann kriselte zu Beginn der 80er das Label, der Support ging flöten – und die Band löste sich auf. Ihre beiden ersten Alben haben es verdient, neu gehört zu werden.
Cheap Trick
s/t
(Epic, 1977)
Cheap Trick stehen wegen ihrer kommenden Single-Hit-Erfolge synonym für Power Pop in seiner US-Variante. Auch diese vier Musiker spielten schon seit ’73 zusammen und hatten einen Stil entwickelt, der Beatles-Harmonie-Seligkeit mit der Power des Hard Rock a la The Who mit einem – für US-Verhältnisse – ziemlich schrägen Sinn für Humor paarte. Auf ihrem ersten Album wurden sie vom Aerosmith Produzenten Jack Douglas betreut, der ihnen einen entsprechend harten Sound verpasste. Dass Hauptsongwriter und Gitarriste Rick Nielsen einen Wall of Guitars aufbauen konnte, dürfte auch in Douglas‘ Sinn gewesen sein. Sänger Robin Zander nahm dem Sound mit seiner John Lennon-Stimme sicher etwas von der Härte – aber Cheap Trick ist im Vergleich mit dem, was noch kommen würde ein echtes Hard Rock Album – mit Melodien, die von den Beatles hätten kommen können. „Taxman, Mr. Thief“ etwa paart auf’s feinste die harten Gitarren mit Beatles-Harmonien, ähnlich melodisch kommt „Oh Candy“ rüber – ein Song über den Selbstmord der befreundeten Fotografin Marshall Mintz. Und der Hard Rock von „The Ballad of T.V. Violence“ behandelt den Serien-Mörder Richard Speck mit harten Gitarren und poppiger Melodie. Der Umgang der Band mit Pop, Rock, Grausamkeit und Romantik ließ sie aus den Power-Pop Bands herausstechen. Hier hört man Cheap Trick noch in ihrer Rohform – wer es etwas ausgefeilter und weniger „hart“ mag, sollte sich das zweite Album der Band anhören…
Cheap Trick
In Color
(Epic, 1977)
In Color hat mit Tom Berman einen weiteren namhaften Hard Rock Produzenten, die Band aber betont auf diesem Album ihre leichte und romantische Seite. Hier ist das Live bald zum Metal-Kracher umgebaute „I Want You to Want Me“ – ein sonniger Pop-Track, der in dieser Form auch den Everly Brothers gestanden hätte. Der wird dann von „You’re All Talk“ gefolgt, das auch auf’s Debüt gepasst hätte. Aber die Fähigkeit der Band, sonnige Melodien mit Power, eigenem Stil und den Gitarrenfeuerwerken von Rick Nielsen zu einem ziemlich eigenwilligen und geschmackvollen Gebräu zu vermischen, ist auch hier schon intakt. Beide Alben sind Klassiker ihrer Zunft – und werden im kommenden Jahr nur noch von der gelungenen Kombination beider Seiten der Band auf dem dritten Album Heaven Tonight übertroffen. Diese beiden Alben Kann man als Hard-Rock-Variante des Power Pop sehen.
10 mal Power Pop – durch die Dekaden
Zuletzt mein etwas beliebiges Spiel mit den „Top Ten“ des behandelten Genre’s. Und gerade bei einem so wenig fassbaren Begriff wie „Power Pop“ ist es schwer, die besten 10 Alben zu benennen. Diese Auswahl würde sich sowieso schon in wenigen Stunden verändern, weil mir dann noch dieses oder jenes Album einfiele. Dann hat Power Pop großen Einfluss auf Alben, die man aber auch Punk, New Wave, Alternative, Pop, Psychedelic… whatever nennen kann. So habe ich hier nun 10 Alben benannt, ohne mehfach-Nennung einer Band und dabei einen zeitlichen Bogen über fast 30 Jahre gespannt. Sie alle haben immerhin ihr höchst melodisches Songwriting gemeinsam… ganz schön bliebig. Aber so eine Aufzählung soll Neugier wecken.
Big Star – #1 Record (1972) – deren beide folgende Alben sind genauso gut und klassisch
Cheap Trick – Heaven Tonight (1978) – siehe oben, auch die beiden ersten Alben sind sehr gelungenen
The Jam – All Mod Cons (1978) – Oder ist das Punk oder Mod Revival?
The Cars – s/t (1978) – Die New Wave Version von Power Pop. Definitiv.
Nick Lowe – Jesus of Cool (1978) – muss man kennen, weil er der Pate des Power Pop in England ist und die gemütliche Pub-Rock Variante des Power Pop vertritt.
Game Theory – Lolita Nation (1987) – Viel zu unbekannter Paisley Power Pop…
The Posies – Frosting on the Beater (1993) – Die Grunge-Version von Power Pop.
Weezer – s/t (1994) – auch hier: Der Nachfolger Pinkerton ist vergleichbar und genauso gut.
Teenage Fanclub – Grand Prix (1995) – auch hier kann man Alles davor und danach empfehlen.
Supergrass – dto (1999) – ein Brit-Power-Pop Diamant, der ihre beiden beachtlichen vorherigen Alben übertrifft.