1972 – Yes bis Babe Ruth – The Golden Days of Progressive Rock

Jaja – Progressiver Rock… da gibt es gerade in einem Jahr wie ’72 in den Ohren der vielen (heute als lächerlich-konservativ angesehenen) Afficionados noch mehr, als die hier beschriebenen 17 Alben von 15 Acts. Und Manches Album, das ich unter Kapitelüberschriften wie „Hard Rock“, „Psychedelic Rock“…. etc beschreibe, kann man auch dem Genre ProgRock zurechnen… viel Spaß also beim einordnen.

…wer also mag, soll sich sein Prog-Album der Wahl dazudenken, der kann sich Wshbone Ash’s Argus hier mit-anhören. Das ist relativ „hart“ und somit im Hardrock Kapitel beschrieben. Aber Prog- und Hardrock waren 1972 nahe Verwandte. Man höre nur Deep Purple’s komplexe Epen auf Machine Head.. Und vergleiche mal Khan aus der Canterbury Scene mit den hier beschriebenen Alben. Die Bands um die Wilde Flowers – Caravan und Soft Machine – haben einen großer Jazz-Anteil mit britischem Humor in ihren anderswo beschriebenen Progressiven Rock eingebaut. Mit dieser Szene wäre dieses Kapitel zu lang geworden… Und was ist mit all den Folkies, die auch Progressiven Rock mitdenken? Die bekommen auch ein eigenes Kapitel… In DIESEM Kapitel hier geht es um – fast immer britische – Archetypen des Progressive Rock: Um Genesis, Yes, Jethro Tull, Moody Blues, Pink Floyd… Bands, die man mit diesem Stilbegriff verbindet und natürlich ein paar vergessene Meister. Aber – nannte man deren Alben ’72 wirklich „progressiv“? Tatsächlich wurde diese Musik zu Beginn der 70er als typischer britischer Psychedelic Rock angesehen! „Progressive“ war noch kein etablierter Begriff, denn letztlich IST Progressive Rock nichts anderes als die Fortführung des Psychedelic Rock der letzten Jahre. Das United Kingdom hinkte in Sachen Psychedelic ein bisschen hinter den Bands von der Westküste der USA her. Aber die Bands aus dem Londoner UFO-Club (und andere…) waren in den letzten beiden Jahren größer geworden. Mit psychedelischer Musik, die nicht so sehr in LSD, dafür in ein bisschen Marihuana und viel Lord of the Rings-Fantasy und Küchentisch-Philosophie getaucht war. Dazu kamen bei den Ausführenden beachtliche instrumentale Fähigkeiten. Das waren versierte Musiker Mitte Zwanzig. Die hatten den Beat- und Blues-Boom der Dekadenwende geschafft und nahmen sich jetzt neue Konzepte vor. Dem Zeitgeist und der Enttäuschung nach dem Zerbrechen des Traumes von „Peace & Love“ entsprechend reichlich eskapistisch. Das würde mit der Zeit zum Problem werden, der Musik viel verquaste Ernsthaftigkeit aufladen. Dazu würden bald die Instrumental-Eskapaden dieser Könner zum Selbstzweck verkommen. Aber – auch Das hatte sein Gutes – ohne das schlechte Beispiel selbstverliebter Solisten keine Gegenströmung, keine Reduktion, kein Punk, keine New Wave. Und bei den hier beschriebenen Beispielen für ProgRock hört man den Musikern noch ihre unschuldige Begeisterung an. Es sind die „Golden Days of Progressive Rock

Wishbone Ash – Argus
(MCA, 1972)

…wofür auch dieses Album stehen kann. Die unnachahmlichen Twin-Gitarren, die nicht unkomplexen Melodien, die aber dann auch wieder ins elegisch-romantische umbiegen… Wishbone Ash stehen mit Argus in der Schnittmenge zwischen Prog und Hard Rock.

Khan – Space Shanty
(Deram, 1972)

Die sog. Canterbury Scene ist 1972 sehr produktiv. Eines der Highlights – und ein cornerstone des Progressive Rock, obwohl obskur – ist das einzige Album der Band um den Gitarristen Steve Hillage und den Keyboarder Dave Stewart. Die tauchen später bei anderen namhaften Prog-Acts auf. Khan steht stellvertretend für das Kapitel Progressive Canterbury….

Strawbs – Grave New World
(A&M, 1972)

…und auch hier ist viel Progressive Rock drin. Etliche britische Bands, die sich auf alte Folkmusik beziehen, haben etliche Verzierungen und instrumentale Kabinettstücke aus dem ProgRock in ihrem Repertoire. Darüber und über dieses Beispiel in einem weiteren Kapitel…

Yes
Close To The Edge

(Atlantic, 1972)

Cover – Roger Dean

…und hier… DAS PROG-DING!!! Close to the Edge ist das beste Album von Yes. Und damit eines DER ProgRock Alben. Es ist das Album, in dem all die fein-ziselierten Teile, aus denen Yes bestand, zu einem hochkomplexen Muster zusammenfielen. Andere Yes-Alben haben auch ihre Qualitäten, der Vorgänger Fragile ist nah dran, aber wenn es ein Album gibt, das die „Typologie des Progressive Rock“ darstellt, dann wäre es Close to the Edge. Nur das Alte Testament des ProgRock (In the Court of the Crimson King von ’69), Genesis‘ ’73er absurde Oper The Lamb Lies Down on Broadway und der Abgesang des Prog (Wish You Were Here von Pink Floyd ’75) stehen auf gleicher Höhe. Na ja – und viel später Brave von Marillion… aber das ist eine andere Geschichte… Hier schuf eine eingespielte Band Rock-Symphonien, hatte dabei einen wiedererkennbaren, organischen Stil, der ausformuliert war. Da war der Falsett-Gesang von Jon Anderson, der sich noch nicht völlig in ärgerlicher Esoterik und Selbstverliebtheit verloren hatte. Da war Rick Wakeman und seine Kirchenorgel – Ein Tasten-Virtuose, der neben Keith Emerson von ELP (siehe weiter unten) bestehen konnte. Und dieser Bass!! Chris Squire hatte einen eigenen Sound für ein Instrument etabliert, das sonst bloß den Rhythmus spielte! Dass Steve Howe’s Gitarren-Verzierungen daneben Bestand haben, spricht für beide Musiker. Na ja – und Bill Bruford war einer der ganz großen Drummer, hat danach u.a. bei King Crimson gespielt. Und all das wird angesichts der ersten beiden Tracks der LP nur Bürokratie, weil alle Bestandteile dieser Symphonien der Gesamtheit dienten. Natürlich ist der 18-minütige Titeltrack aufgeblasen und hat mit Rock’n’Roll rein garnichts zu tun. Das Prinzip „auch wenn es nicht komplexer geht… wir machen es trotzdem noch komplexer“ wurde nie so konsequent befolgt. Harmonien, Rhythmen und Worte werden zu Labyrinthen, und trotzdem bleiben immer wieder Wendungen und Biegungen in Erinnerung. So bekommen die Einzelteile der Suiten „Close to the Edge“ und „And You And I“ sogar Hit-Charakter. Dass Jon Anderson dazu ernsthaft Zeilen wie „I shook my head and smiled a whisper, knowing all about the place On the hill we viewed the silence of the valley..“ singen konnte, ist bewundernswert. Die nahezu 10 Minuten des Closers „Siberian Khartu“ sind da mit ihrer nicht mehr unterdrückten Kraft fast erholsam. Man bedenke – ’72 war auch Hardrock eine Option. Close to the Edge ist Progressive Rock Yes-Style in Perfektion.

Pink Floyd
Obscured By Clouds

(Harvest, 1972)

Cover Art: Hipgnosis Wie immer bei Pink Floyd

…da muss man jetzt runterkommen… Man kann sicher zurecht feststellen, dass Pink Floyd ein Main Act des ProgRock waren. Sie prägten zuerst den Psychedelic Rock in England, insbesondere solange Syd Barrett bei Verstand war. Inzwischen war Der verschwunden und sein Nachfolger David Gilmour und Roger Waters hatten das Kommando übernommen. Seither hatten Pink Floyd die Kurve Richtung Progressive genommen. Schon Meddle, der Vorgänger von Obscured By Clouds war ein – zugegebenermaßen recht psychedelisches – ProgRock-Album. ’72 begannen die Vier neue Songs für den Nachfolger zu schreiben – und bekamen das Angebot, für den Regisseur Barbet Schroeder die Musik zu dessen neuem Film La Vallée zu machen. Für ihn hatten sie schon ’69 den Soundtrack More abgeliefert. Der war nicht toll, passte aber in ihr System. Also gingen Pink Floyd gerne zwei Wochen nach Frankreich und nahmen zehn Songs auf. Vier Instrumental-Tracks, sechs Stücke mit Gesang, offenbar Ideen, die spontan entstanden und Resten aus den Sessions zum kommenden Mega-Seller The Dark Side of the Moon. Man bekommt hier trotz des Film-Themas keine durchgängige Idee, eher eine lose Songsammlung. Pink Floyd hatten sonst immer ein Konzept, bauten Alben auf ein paar schlauen Harmonien auf. Hier aber spielten sie nur. Der Film über eine Forscherin, die auf einer Expedition in Borneo bei einem Naurvolk das Paradies zu finden hofft, passte in die Zeit, scheint aber für die Skeptiker, die Pink Floyd gerade wurden, fast etwas ZU verträumt. Vielleicht verarbeiteten sie hier Reste? „Burning Bridges“ ist ein feiner Song, klingt, als wäre er ein Meddle-Outtake. „Wot’s… Uh The Deal“ hätte auch einen Platz auf einem der vorherigen Alben von Pink Floyd verdient. Nicht dass Obscured By Clouds obskur blieb… In den USA wurde es Pink Floyd’s bis dahin erfolgreichstes Album. Und Gilmour’s „Childhood’s End“ sowie Waters‘ „Free Four“ machen das Album lohnenswert für Progressive Rock-Liebhaber. Übrigens: Pink Floyd nutzten hier erstmals den Synthesizer! Für einen 2-wöchigen Pausenfüller ist Obscured By Clouds sehr gelungen. Auch wenn sie mit der Filmfirma in Streit gerieten und das Album deshalb nicht nach dem Film benannten. Aber was danach kam, war viel größer…

Genesis
Foxtrot

(Charisma, 1972)

Cover: Paul Whitehead. Wie bei den Alben davor

Genesis wiederum erreichten schon mit Foxtrot einen Gipfel der Popularität. Mit Musik, die mit dem Pop ihrer späteren Jahre wenig zu tun hat. Mit einer englishness, die allein ihnen schon einen Sonderstatus einräumt. Zu deser Zeit war Peter Gabriel der Vordenker, Phil Collins war noch „nur“ Drummer (aber was für einer!) und die Band folgte den wirren Visionen Gabriel’s. Dass sie sehr kraftvoll spielen konnten, hatten sie auf den vorherigen Alben bewiesen. Nursery Crime und Trespass sind schon Grundlagen des ProgRock. Aber nun hatten sie ein Produktions-Team angeheuert, dass ihren Sound deutlich verbesserte. Die Instrumente sind auf Foxtrot klar getrennt, zugleich haben Rhythmus und Soli Kraft, wo nötig, sind zurückgenommen wenn der Song es erfordert. Und wieder ist dies die Eigenschaft, die die Band in dieser Phase prägte: Genesis waren tolle Solisten – aber das stand nicht im Vordergrund. Es sind die Songs und (meinetwegen) auch die Texte von Gabriel, die in ihrer verdrehten Fantastik die Musik auf Foxtrot ausmachen. Klar – Gabriel’s theatralischer Gesang war ein Charakteristikum. Aber auch die an Klassik angelehnten Kompositionen mit komplexen Wendungen, die trotzdem immer wieder zu Ohrwürmern wurden, machten die Musik so besonders. Foxtrot ist keyboard-lastig, aber Tony Banks schuf genau die richtige Atmosphäre, Gitarrist Steve Hackett klang wie kein anderer, ließ die Gitarre eher singen, als sich an irgendeinem Blues-Lick zu versuchen. Tracks wie „Can-Utility and the Coastliners“ sind sehr organisch. Pastoral, zugleich wuchtig, komplex und von bestechender Melodik. Hier glänzten die Musiker sogar als Solisten – aber ohne sich in unnötiger Athletik zu verlieren. Na ja – und die zweite Seite der LP wird von der legendären Suite „Supper’s Ready“ beherrscht. Ob da die Lyrics wirklich SINN machen, ist egal. Die Ideen in diesem Track allein hätten schon für ein komplettes Album gereicht. Im fünften Teil der Suite („Willow Farm“) denkt man automatisch an Alice in Wonderland, Gabriel zog bei Konzerten hier sein Blumen-Kostüm an – und die Gitarren- und Keyboard-Passage ist virtuos und hochmelodisch zugleich. Wie gesagt: Das Verdienst von Genesis ist – sie machten ProgRock, der vielleicht spinnert, aber nie banal war. Ohne Ego-Trips, mit komplexen, zugleich seltsam hit-tauglichen Songs. Foxtrot ist unentbehrlich, wenn man ProgRock kennen will.

Emerson, Lake & Palmer
Pictures At An Exhibition

(Manticore, 1972)

Cover Art – William Neal. Hat auch das Cover von Tarkus gemacht. Und diverse andere

…da sind die hier schon entbehrlicher. Das wirklich „große“ Album des Trio’s Emerson, Lake & Palmer ist Tarkus von 1971. Aber diese drei Hochleistungsmusiker waren natürlich zu mehr in der Lage. So nahmen sie sich (durchaus aktuellen Trends entsprechend) für das Live-Album Pictures at an Exhibition einige Kompositionen des Russen Modest Mussorgsky vor und… tja… ver-rockten sie? Banalisierten sie? Jedenfalls führten sie diese Musik einer klassik-fernen Hörerschicht zu. Das kann ja auch freundlich betrachten. Ex-Nice Musiker Keith Emerson war ein hervorragender, an Klassik geschulter Pianist. Ex-King Crimson Greg Lake wurde auf diesem Album als Bassist, Gitarrist und Sänger (einiger selber verfasster Songs…) zum Star. Und Ex-Atomic Rooster Carl Palmer konnte mit kraftvollen Drums beindrucken, die das Rückgrat bildeten. Die Kompositionen von Mussorgsky stehen ausser Zweifel. Ob man sie mit verzerrter Kirchenorgel haben muss, ist Geschmackssache. Greg Lake darf bei „The Sage“ gerne an King Crimson erinnern. Zurückhaltend mit Akustik-Gitarre und majestätischer Stimme. Die darauf folgende Adaption von Mussorgsky’s „The Old Castle“ ist pure Leistungsschau… und das muss dann eben so ein. Wir haben es hier mit Progressivem ROCK zu tun. Der wurde so gewünscht. Die „Promenade“ – das wiederkehrende Thema zwischen den Bildern der Ausstellung wurde wunderschön zelebriert und – man kann es nicht leugnen – diese prägnante Melodie wurde für viele junge Menschen zum Lockruf Richtung Klassik. Die Verkäufe von klassischen Aufnahmen zogen an. Dass ELP aus der Baba Yaga-Thematik eine Instrumental-Schlacht machten, war einfach logisch. Das war der Zweck dieser Konzerte und der Sinn hinter diesem Trio. Wenn man das so sieht, ist Pictures at an Exhibition ein tolles Stück Handwerk. Dass alles live eingespielt wurde, kann beeindrucken. Dass sie für die LP am Schluss noch eine Version von Tschaikovsky’s Nussknacker-Suite anhefteten, war unnötig. Aber..!! „Unnötig“ ist eine der Eigenschaften des Progressive Rock. Schuld daran ist diese Band! Und die „pure Musik“ hier ist beeindruckend. So kann ProgRock eben auch sein.

Jethro Tull
Thick As A Brick

(Chrysalis, 1972)

Cover von Chrysalis‘ Roy Eldridge. Der war zuvor Journalist. Die Artikel sind vom Bassisten Jeffrey Hammond.. nicht vom 8-jährigen Gerald Bostock

Jethro Tull wiederum kamen aus einer ganz anderen Ecke als ELP. Der Querkopf und Querflötenspieler Ian Anderson hatte sich aus Blues, Folk, klugen Lyrics und Konzepten einen eigenen Kosmos geschaffen, der ihn und seine Band Jethro Tull (…der Name eines Agrarwissenschaftlers aus dem 18. Jhdt…!) inzwischen zu einem der erfolgreichsten Acts des Progressive Rock gemacht hatte. Auch hier galt, dass das Gebilde Jethro Tull ohne Anderson undenkbar war. Mit dem letztjährigen Album Aqualung und dem Single Hit „Locomotive Breath“ waren sie zu Stars in der Szene geworden. Und Ian A. hatte sich über Kritiker, Publikum und Bands des Progressiven Rock geärgert und war zugleich amüsiert, weil man Aqualung als Konzeptalbuum bezeichnet hatte. So beschloss er, mit Thick as a Brick (Slang für „Dumm wie Brot“) eine Monty-Python-artige Persiflage auf das Konzeptalbum und auf ProgRock an sich zu machen. Und wie das so ist bei Monty Python… da steckte auch eine Menge Zuneigung in der Persiflage. Das Album besteht aus einem einzigen, zusammenhängenden Track, die Verpackung ist liebevoll, die Artikel und Headlines sind ein Spaß zu lesen, die Musik mag ironisch gemeint sein – aber Spaß, Können und Idee fielen zu einem sehr gelungenen Album zusammen, das viele Progressive-Fans ernst nahmen. Es war ja auch alles Notwendige da. Diese Band konnte alles, was man für ProgRock braucht. Keine drei Minuten und es wird soliert, dass es kracht. Komplexe Unisono-Passagen von Bass, Drums, Gitarre, Tempowechsel, Rhythm-Breaks, dazu Anlehnungen an Klassik und Folk via Bläser und der unverkennbaren Querflöte – alles was Recht ist. Dass der Text absurd und kindlich-philosophisch verbrämt war, gehörte zum Programm. Jethro Tull kolportierten die Legende, dass ein achtjähriger Schuljunge namens Gerald Bostock die Lyrics verfasst habe, zu denen die Band nur die Musik geschrieben hätte. Natürlich glaubten viele Fans die Story. Das Leben in einer Kleinstadt aus der Sicht eines altklugen Kindes zu beschreiben, IST eine intelligente Idee. Und wie Ian Anderson die Texte vortrug, ist schon stylish. Seine Stimme war immer wiedererkennbar. Auch die melodischen Wendungen waren Tull-typisch. Und vor Allem: Die Musiker hatten offenbar echten Spaß. Immer wieder gibt es Passgen, die an britischen Folk gemahnen – das hatte Anderson einfach drauf – dann kommen wieder kraftvolle ProgRock Ausbrüche, die an Genesis erinnern. Wären einzelne Songs herausgelöst und als Single veröffentlicht worden, wäre ein Hit- Erfolg in dieser Zeit durchaus zu erwarten gewesen. Aber Jethro Tull wollten es als Spaß verstanden wissen. Und wer den Witz nicht verstand, hatte trotzdem was davon. So gesehen ist Thick as a Brick sogar misslungen…

Gentle Giant
Three Friends

(Vertigo, 04-1972)

Cover von Rick Breach. Designer u.a. für Vertigo

Und noch ein Konzept-Album. Hier aber ernst gemeint. Three Friends behandelt das Leben von drei Leuten, die als Schulkinder befreundet im Leben verschiedene Wege gehen. Was als nette Idee beginnt, zerfasert dann im Laufe des Albums textlich und thematisch. Aber das ist bei einer Band wie Gentle Giant egal. ’72 brauchten Musiker offenbar ein esoterisches Konzept, um ihre Fähigkeiten, ihre Ideen und Songs zu präsentieren. Dabei war bei einer Band wie Gentle Giant der Rahmen für ein Album doch eigentlich relativ unwichtig. Denn… was waren das für Musiker! Auf noch auf höherem Niveau unterwegs, als Yes oder Genesis. Und ebenfalls in allen Belangen mit ihrem eigenen, eigenartigen Stil gesegnet. Absolut nur als sie selber erkennbar. Ihr Amalgam aus mittelalterlicher Musik, Folk, Soul, Rock, Jazz, Blues wurde seltsamerweise nie beliebig. Die Stimme von Derek Shulman spielt dabei nur EINE Rolle. Alle (zu dieser Zeit) sechs Bandmitglieder konnten quasi jedes Instrument spielen. Bloß Drummer Gary Mortimor saß nur an den Drums. Allerdings konnte er den komplexen Sprüngen der Songs mühelos folgen. Die drei Shulman-Brüder und ihr Freund Kerry Minnaer fischten sich aus jedem Teich heraus, was ihnen passend erschien, scherten sich – als bewusste Entscheidung nach einem einzelnen Hit in einer früheren Band – nicht um kommerzielle Erwägungen und ließen alle Kenntnisse und Fähigkeiten in eigenartige Songs fließen. Die Harmonien sind schräg, es gibt ausgefeilten Satzgesang, alle vier Komponisten singen und pop-übliche Strukturen sind nicht vorhanden. Dass Three Friends dennoch – nach etwas Gewöhnung – sehr gut hörbar ist und man sich – wie bei Genesis – bald an die Wendungen und Drehungen der Melodieführung gewöhnt hat und einen Song wie „Peel the Paint“ tatsächlich erinnert, ist eine der Leistungen dieser Band. Gentle Giant waren zu Beginn der 70er eine der leuchtendsten Facetten des Progressive Rock und sollten gehört werden…

Gentle Giant
Octopus

(Vertigo, 11-1972)

Cover von Roger Dean… siehe Yes und Babe Ruth

…zumal sie noch im selben Jahr mit Octopus ihr erfolgreichstes Album folgen ließen. Hier musste der Drummer ausgewechselt werden, und mit John Weathers kam einer dran, der offenbar auch Hardrock konnte… was die anderen natürlich auch konnten. Aber nun hatte diese Band eine Power in ihren weiterhin verschachtelten Songs, die gut tat. In dem Zusammenhang etwas irritierend, dass das herausstechende Stück auf Octopus dennoch A Capella vorgetragen wird. „Knots“ hat alle Eigenschaften der großen Gentle Giant-Tracks mit verrückter Melodie, seltsamen Rhythmussprüngen und unheimlich annmutender Alice in Woderland-Atmosphäre… und dann tanzen da seltsame Knochen, dann kommt King Crimson-Powerrock dazu. Auf Octopus hat jeder Track eigenen Charakter. Zwar war zu Beginn ein Konzept angedacht, aber klugerweise ließen die Shulman’s und Minnaer diesmal kein Thema überhand gewinnen. Und diese Band konnte tatsächlich auch mal hart rocken… letztlich ja nicht verwunderlich bei Musikern, die ALLES können. „A Cry For Everyone“ mag nicht der beste Song des Albums sein, aber beeindruckend ist er schon mit seiner treibenden Wucht und den plötzlichen Sprüngen in abstrakten Jazz und seltsam mittelalterlich anmutende Tanzfiguren, incl. abgedrehtem Keyboard-Solo. Wie gesagt – diese Band konnte alles spielen. Octopus ist ein Song-Album, eine Leistungsschau, die nicht in Selbstverliebtheit ausufert. Jeder Ton hat Sinn, man kommt – bei allen acht Gentle Giant-Alben bis ins Jahr 1976 – nie auf die Idee, dass die sich hier in Muskelspielen versuchen. Das waren schlicht Musiker, die voller Spaß ihr Können in ausgefeilte Songs fließen ließen. Man höre einfach mal das sanfte „Dog’s Life“ an. Wo sie mit ausgefeiltem Streicherarragement und einer schrägen Melodie in gepflegte englische Vorgärten wandern. Mit Melone und kariertem Sacko. Mit Octopus begann angeblich die beste Phase von Gentle Giant. Ich finde, die waren schon seit drei Jahren – also von Beginn an – extrem gut in ihrer stlistischen Ecke des Progressiven Rock. Und – wie schön ist „Think of Me With Kindness“? Da klingt sogar Sänger Derek Shulman nett.

Moody Blues
Seventh Sojourn

(Threshold, 1972)

Cover von Phil Travers. Designer für fast alle Cover der Moody Blues

…und im „Nett Sein“ waren die Moody Blues Meister. Deren Stil war auch 1972 noch sehr 60er… Sehr melodisch und sehr wenig auf die im ProgRock durchaus übliche instrumentale Meisterschaft ausgerichtet. Ihr größter Hit „Nights in White Satin lag nun fünf Jahre zurück. Seither hatten sie ihren Stil aus weich orchestrierter, gerne blumiger und philosophisch verbrämter Psych-Romantik ausgearbeitet. Das soll nicht negativ rüberkommen. Darin waren sie sehr gut und ihre Songs hatten immer eine unterschwellige Kraft, die man bewundern musste. Der Vergleich ist beliebt: Moody Blues waren Procol Harum light…. und darin sehr gut. Dass das neue Album Seventh Sojourn hieß, weist darauf hin, dass sie selber ihr erstes Album The Magnificent Moodies von 1965 nicht ernst nahmen. Damals waren sie NOCH softer. Inzwischen hatten sie sogar ein paar Neuerungen im Sound, Seventh Sojourn ist Protro- Alan Parsons Project (…was ein Qualitätsmerkmal ist). Songs wie „Lost in a Lost World“ und „Isn’t It Strange“ zeigen, was diese Band so gut konnte. Der Sound ist weich, folky, klingt enorm harmonisch, die Songs sind ausgefeilt – dabei waren alle fünf Musiker zu dieser Zeit nach eigenen Aussagen sehr unglücklich. Sie wollten/mussten die kommerziellen Erwartungen erfüllen, hatten Geld genug, besorgten dem Keybaorder Mike Pinder das neue Chamberlin als Ersatz für das altgediente Mellotron, hatten sich allerdings gegenseitig nach mehr als fünf Jahren gründlich satt. Man muss sich vorstellen: Das waren fünf Jungs Mitte Zwanzig, die seit 1967 nur im Rhythmus Tour, Aufnahme, Tour lebten. Dass dabei noch ein so harmonisches Album herauskam, ist ein Wunder. Bei „New Horizons“ klingen sie wie beschrieben positivly wie das Alan Parsons Project, die Gesangsharmonien sind toll und überspielen ein weiteres Mal, dass sie keinen wirklich prägnanten Lead-Sänger hatten (auch wenn Justin Hayward kein schlechter war…). Gegen die eigenen Erwartungen wurde Seventh Sojourn erfolgreich, blieb in den USA fünf Wochen an der Album-Chart-Spitze. Aber die Moodies hatten genug von einander. Außer einer vertraglich vereinbarten Tour 1974 machte sie Pause bis 1978. Da war ihre Musik dann angesichts Punk und New Wave nur noch unbedeutend… Seventh Sojourn aber ist der Abschluss eines Septetts von feinen, sehr harmonischen Soft-Prog-Alben.

Renaissance
Prologue

(Sovereign, 1972)

Coverdesign – Hipgnosis – siehe Pink Floyd

Auch Renaissance könnte man als „nette“ Progressive Band sehen. Sie hatten 1969 auf ihrem Debütalbum Psychedelic Rock mit Klassik und Folk verbunden. Herausgekommen war ein wunderbares, sehr romantisches Album, stark von klassischer Musik beeinflusst. Sie hatten ein liebliches Image – auch weil sie zuerst mit Jane Relf, inzwischen mit Annie Haslam eine Sängerin vorn stehen hatten. Aber inzwischen hatten interne Streitereien die Band zerrissen. Illusion von 1971 war davon geprägt gewesen und hatte nicht gut funktioniert. Für den Nachfolger Prologue hatten Bandgründer Jim McCarty und Gitarrist Michael Dunfort schon die Songs geschrieben… und waren dann mit den anderen Bandgründern Keith und Jane Relf ausgestiegen. Eigentlich war nur noch Keyboarder John Tout aus der Anfangszeit dabei. Aber der hatte mit Annie Haslam eine hervorragende Sängerin in die Band geholt, die sowohl den sanften Folk-Sound ihrer Vorgängerin konnte, als auch technisch anspruchsvoll und kraftvoll komplexe Melodien schaffte. Tatsächlich hält ihre Stimme gemeinsam mit Tout’s Klavier das Album zusammen. Und sie hatten ein paar weitere Veränderungen zugelassen – der neue Gitarrist Rob Henry durte elektrische Gitarre spielen, auch das gab es zuvor nicht bei Renaissance. Dass die Songs so gut waren und die neuen Mitglieder kein Problem damit hatten, daraus ein neues Album zu machen, wurde zum Glücksfall. „Kiev“ oder der 11-minütige Closer „Rajah Khan“ mit orientalischer Anmutung und reinem textlosem „Naaa naaa naaa“ Gesang sind gelungener symphonischer ProgRock. Prologue war so gesehen auch ein Epilog, hier verabschiedete Renaissance sich vom rein akustischen Folk-Prog und wurden klassik-affiner. Das stand der Band in den kommenden Jahren ausgezeichnet, das machte sie besonders, ließ sie eine ganz eigene Nische besetzen und führte zu Meisterwerken wie dem ’75er Klassiker Scheherazade and Other Stories. Tatsächlich sah diese komplett umgebaute Band Prologue als ihr Debüt. Es ist eines DER Beispiele für den Seitenzweig Symphonic Prog. Womit allein es schon in dieses Kapitel gehört.

Family
Bandstand

(United Artist, 1972)

Cover Design von John Kosh und Peter Howe. Nur richtig als ausgeschnittene Radio-Front

Meist ist Progressive Rock nahezu Blues-frei. Heimlich haben sicher all die hier beschriebenen Bands irgendwann Blues-Jam’s zelebriert und so Improvisation gelernt. Aber es gab auch ein paar Progressive Acts, deren Wurzeln erkennbar im Blues steckten. So wie Family. Deren Sänger Roger Chapman mit seinem unverkennbaren rauen Vibrato, ihr Gitarrist Charlie Whitney, dessen Licks definitiv an Blues geschärft waren… Dass Family aber auch britische Psychedelik im Rezept hatten, war nicht zu leugnen. Ihre ersten beiden Alben sind fantastische erdige Psychedelik. Nun – 1972 wurde Psychedelic Rock im UK eben zu Progressive Rock, wenn nicht zu arg ausgeufert wurde. Und Family hatten einen sehr muskulösen Sound und mit Whitney/Chapman zwei Songwriter, die ihren Kram beisammen halten konnten. Bandstand war nun schon ihr sechstes Album – und erstmals hatten sie mit „Burlesque“ einen Hit in den Charts. Diesen kraftstrotzenden Rocker kann man kaum „Progressive“ nennen. Das ist Blues mit schlauen Lyrics und ohren-zerfetzendem Gesang. Dass darauf Songs folgen, die mitunter sogar nach Folk klingen, funktioniert eben wegen dieser Stimme! Roger Chapman war nicht nur ein furchteinflössender Performer, sein ziegen-meckernder Gesang ist sicher gewöhnungsbedürftig. So was hat auch Joe Cockenr nie erreicht… und er machte Family wiedererkennbar. Und das war eine Band mit famosen Musikern: Bassist John Wetton würde ’73 zu King Crimson wechseln, Poli Palmer (key) und Rob Townsend (dr) waren später gefragte Session-Men. Das wirkliche Pfund, mit dem sie wuchern konnten, waren die schönen Songs. Immer nah am Blues und Folk, immer kraftvoll, sogar eine Akustik-Ballade wie „My Friend the Sun“ ist freundlich und wuchtig. Mein Favorit wäre „Glove“. Exzellente Melodie, toll gespielt, toll gesungen, nah am Soul und unverkennbar Family. Sie galten als Musician’s Musicians und manche mögen Family nicht. Auch wenn – oder weil – Bandstand ihr konsumerabelstes Album ist. Dabei sind Music in a Doll’s House (’68) und Family Entertainment (’69) IMO unverzichtbarer britischer Psychedelic Rock mit Blues-Fundament… und mit dieser STIMME!!!

Gnidrolog
…in Spite of Harry’s Toe Nail

(RCA, 04-1972)

Das kommt ja oft genug vor: Eine Band macht ein-zwei tolle Alben… und keiner merkt’s. Und damit ist die Geschichte der Band vorbei und erst Jahre später werden die paar gepressten Alben zu gejagten Sammlerstücken. Gnidrolog’s zwei ’72er Alben – im Abstand von sechs Monaten veröffentlicht – kann man im Original heutzutage (2024) nur für dreistellige Beträge bekommen. Immerhin gibt es diverse Re-Issues. Die Band selber existierte seit ’69, der seltsame Name war aus einer Buchstaben-Umstellung der Namen der beiden Bandgründer – Stewart und Colin Goldring – entstanden. Auch Gnidrolog waren inzwischen versierte Musiker, sie waren mit Wishbone Ash, John Martyn, Skin Alley, Soft Machne, King Crimson, David Bowie… mit allem was Rang und Namen hatte auf Tour gewesen. Dass die ein ausgefeiltes Programm und Songs genug – auch für zwei Alben – hatten, sollte nicht überraschen. Das Feedback am Anfang von „Long Live Man Dead“, dann die harte Unisono Passage von Bass, Drums Gitarre, scheint auf härteren Stoff vorzubereiten. Aber auch diese Band hatte – wie Family – weit mehr im Programm: Alle Bandmitglieder konnten – Gentle Giant-mäßig – mehrere Instrumente spielen, schon im Opener spielen Drummer, Sänger und Gast John Earle Oboe und Flöte, man mag sich an Jethro Tull erinnert fühlen, aber dafür ist hier zu wenig Folk. Obwohl – den können Gnidrolog eben auch. Die nutzten die ganze Palette von Heavy Psychedelic bis Baroque Pop – und das, ohne ihren Charakter zu verleugnen. Auch für Gnidrolog gilt das, was all die hier beschriebenen Bands und Alben ausmacht: Man kann Gnidrolog immer als Gnidrolog erkennen. Auf …in Spite of Harry’s Toenail stechen zwei Songs besonders heraus: „Snails“ und .“Time and Space“. Letzterer beginnt als wunderschöne Oboen- und Flöten-Ballade und läuft in ein hartes Gitarren-Thema aus. Der Gesang von Colin Goldriing ist aggressiv, macht die Band noch einmal besonders. Man nennt die Musik dieser Band gerne Electric Prog… und vergleicht sie auch mit Van Der Graaf Generator. Alles nett, alles ein bisschen hilflos. Es wird der Klasse dieses Albums nicht gerecht….

Gnidrolog
Lady Lake

(RCA, 12-1972)

Cover – Bruce Pennington. Illustrator, der Jahrzehnte später die Alben von Blood Incantation gemacht hat!!

…und auch nicht der Klasse des Nachfolgers Lady Lake. Die Goldring-Brüder nahmen ein bisschen von der Aggression raus, holten ein bisschen mehr Symphonie in die Songs und hatten weitere tolle Arrangement-Ideen. Dass hier ein 11-minütiges Epos mit dem Titel „I Could Never Be a Soldier“ am Anfang steht, passt natürlich zum Progressve Rock dieser Tage. Und dass der Song genauso überzeugen kann, wie der 9-minütige Titeltrack oder das etwas kürzere „Ship“ ist beileibe keine Selbstverständlichkeit. Es GAB 1972 auch viele unerfreuliche Progressive Rock Alben. Bloß – die bleiben hier unerwähnt. Lady Lake gehört schlicht wegen seiner Wiedererkennbarkeit mit den feinen Songs und durchaus auch wegen der Virtuosität der Band in dieses Kapitel. Und dass das Plattencover an 80er Speed-Metal Bands erinnert, spielt wirklich keine Rolle. Dass die Band wegen interner Querelen 1973 auseinanderbrach, war sehr bedauerlich. Einer der Goldring-Brüder wurde vom Bassisten Peter Cowling rausgedisst. Der Streit eskalierte und die Band war am Ende. Zunächst bemerkte das ja auch niemand – aber im Laufe der Zeit wurden beide Alben der Band in den entsprechenden Spezialisten-Kreisen zu gesuchten Preziosen. Das ist nicht immer ein Hinweis auf Qualität – hier aber stimmt der Mini-Hype. Wer Progressive Rock mit Stil und Klasse haben will, sollte die Re-Issues suchen. Es gibt beide Alben als Doppel-CD. Immerhin.

Gracious
this is… Gracious!!

(Philips, 1972)

Billig-Cover vermutlich von irgendeinem Philips Designer für die this is… Serie

Warum wiederum dieses Album/diese Band komplett in Vergessenheit geriet und ihr zweites Album this is… Gracious! so obskur ist, ist eines der (vielen) Rätsel in der Rock-History. Band und Album hatten Alles, was man will und braucht im Progressiven Rock: Aber das Bandgefüge war wohl instabil und Vertigo – ihr eigentliches Label – verlor gerade seltsamerweise Interesse und Vertrauen in diese Art komplexer Rockmusik. So war die Band nach den Aufnahmen zu this is… Gracious! schon ’71 auseinander gebrochen… was man diesem sehr kompakten, schlauen, Album nicht ansatzweise anmerkt. Schon Gracious!‘ Debüt war überzeugend gewesen. Eine Mischung aus Moody Blues-Melodik, King Crimson-Härte und klassischer Musik. Nach ein paar Wochen Tour – u.a. auch in Deutschland – wurde ein bisschen am Personalkarussell gedreht und dann das zweite Album aufgenommen. Seltsamerweise musste die Band ihre gerne 10+-minütigen Tracks im Studio am Stück aufnehmen… was sie offenbar nicht überforderte. Der Opener von this is… Gracious! geht über die gesamte erste LP-Seite und ist ein wilder Ritt mit Mellotron, Gitarren, exaltiertem Gesang und tollen Songs. Diese Musiker konnten komponieren. Dass sie „Super Nova“ als Suite in vier Teilen fabrizierten, war in dieser Zeit nicht wirklich ungewöhnlich. Ungewöhnlich war allerdings die Klasse und das Können dieser Musiker… und der dystopische Inhalt dieses Opus‘: „Blood-red sun, what has it done? Heat-torn sky, the rivers run dry. Not a fertile thing but a dead horizon looking at me from everywhere I gaze. Hollow skull, emotionless grin mesmerized in front of the dead. Not a hope in hell anyone survived even if we’ve feared that there’s something here“. Dass das Material auf der zweiten Seite der LP nicht gegen diesen Brocken abfiel, ist beeindruckend. Gracious waren zwar erkennbar von King Crimson beeinflusst – aber das war keine Imitation, dazu hatten sie zuviel eigenen Stil. Da war mehr Hardrock, mehr Melodik, ein eigenwilliger Sound, der u.a. auch durch den Sänger Paul Davis und die schönen Solo-Duelle von Gitarrist Alan Cowderoy und Keyboarder Martin Kitcat (tatsächlich..!!) geprägt war. Es ist traurig, dass die Band nach den Aufnahmen zerfiel. Noch ’71 gab es eine Tour durch Deutschland, bei der Kitcat ersetzt weden musste – dann gab der Rest auch auf und als this is… Gracious! ImMai ’72 als eine Art Billig-Version in der „this is-Serie“ bei Philips erschien, war niemand mehr da, der eine Support-Tour hätte spielen können. Dass die beiden Gracious-Alben inzwischen kaum zu finden sind, mag nicht überraschen, ist aber ein Jammer. Die Qualität ist nicht geringer, als die der Genesis-Alben dieser Zeit. Und besser als der Emerson, Lake & Palmer’s Output sind sie allemal.

Catapilla
Changes

(Vertigo, 1972)

Cover – Martyn Dean. Bruder von Roger Dean (siehe die Cover von Yes, Gentle Giant etc…)

Auch wieder so eine Band, die vom Progressive Boom einiger Label hochgekocht wurde und nach ausbleibendem Erfolg zugrunde ging. Hier war es auch das legendäre Vertigo Label, das sich ab ’72 (…wie bei Gracious…) langsam von den ZU anspruchsvoll scheinenden Bands trennte, nachdem es zwei Jahre zuvor noch Prog- und Psych-Acts im Dutzend unter Vertrag genommen hatte.
Die Londoner Catapilla waren 1970 um den Saxophonisten Robert Calvert entstanden, hatten ein schönes, aber eben auch erfolgloses Debüt und eine Tour neben Roy Harper und Graham Bond hinter sich gebracht… um dann von vier von sieben Mitgliedern verlassen zu werden. Calvert blieb Catapilla, die Sängerin und Songwriterin Anna Meek und der Gitarrist und Songwriter Graham Wilson behielten die Flügel an und das zweite Album Changes wurde von den Dreien mit neuem Keyboarder und neuem Rhythmusgespann aufgenommen. Catapilla fallen in dieser Reihe insofern auf, als sie eindeutig Jazz-beeinflussten Progressive Rock spieten. Das war eben auch eine Version des Progressive Rock – Viele Bands hatten Jazz-Einflüsse in ihrer Musik – siehe Gentle Giant. Das Können war bei allen hier beschriebenen Acts vorhanden. Aber Catapilla waren da eindeutig. Ihr letztjähriges Debüt hatte ganz tief im Jazz gesteckt, aber nun warfen Calvert und seine beiden Getreuen eine Schaufel Psychedlic und Space Rock ins Feuer. Anna Meek’s (hervorragender) Gesang verließ die Janis Joplin Blues-Pfade und wurde theatralisch, driftete in textlose Geräusche und abgedrehte Space-Hymnen ab. So hätte sie wunderbar zu den Kollegen von Gong gepasst (…mit denen Saxophonist Calvert bald zusammenarbeiten würde). Changes ist in seiner Verbindung von Jazz, Rock und spaciger Psychedelik ein Kuriosum (bzw. ein Wunder…) Der Opener „Reflections“ hat mit Fusion-Jazz NICHTS zu tun, obwohl die instrumentale Ausstattung genau das anbieten würde. Bei „Charing Cross“ beschränken Catapilla sich auf knapp sieben Minuten, in denen ein echter Song in den Weltraum fliegt. Improvisation, aber auch Konzentration auf den Song halten sich auf diesem Album die Waage. Man kann sich selbstverständlich an dem tollen Zusammenspiel der sechs Musiker delektieren. Calvert klingt nie wie einer der bekannten Jazz-Saxophonisten. Sein Spiel ist eher dem Sound als der Technik verpflichtet… was einiges an Können erfordert. Mag sein, dass Changes zuviel vom Hörer fordert(e), jedenfalls blieb der Erfolg auch hier aus, die Band trennte sich und mit der Zeit wurde die LP zum gesuchten Sammlerobjekt (…wie viele Vertigo-Alben). Das wunderbare Cover von Roger Dean’s Bruder Martyn tat vermutlich sein übriges.

Stackridge
Friendliness

(MCA, 1972)

Cover – Dave Brothwick

Die Band Stackridge existierte seit 1970, hatte sich in den Monaten seither einen Namen gemacht und ein Debüt mit einer sehr „britischen“ Art von progressivem… Folk? Rock? Baroque Pop? geliefert. Sie bewegten sich schlicht wie viele ihrer Kollegen irgendwo in diesem Zwischenbereich. Dafür hatten sie sehr durchdachte Songs komponiert, waren – auch wie all ihre Kollegen – versierte Instrumentalisten und hatten in den zwei Jahren mit Wishbone Ash, Renaissance und den Folkies Lindisfarne getourt. Ihr zweites Album Friendliness ist tatsächlich as british as 5-O‘Clock Tea. Texte, die an Kinks und Beatles erinnern, mit einem Song der tatsächlich „Teatime“ heisst. Dass diese Band im UK gut ankam, aber den Sprung in die Charts jenseits der Insel nicht so recht schaffen wollte, mag so erklärbar sein. Dabei ist Friendliness tatsächlich (auch) ziemlich stylish und charakteristisch. Der Gesang mag nicht so sehr im Gedächtnis bleiben, aber diese Songs, diese Texte…! Das war durchdacht, vielleicht ein bisschen ZU durchdacht. Dabei ist ein Song wie besagter Walzer „Teatime“ wunderbar komponiert. Oder der flotte instrumentale Opener „Lummy Days“ – der Celtic Folk, Klassik und Prog verbindet… oder „Syracuse the Elephant“ – ein Song, der tatsächlich an psychedelische Preziosen von XTC erinnert. Dass George Martin ihr nächstes Album produzieren würde, ist nicht verwunderlich, half aber auch nur bedingt. Friendliness ist der passende
Titel für diese Version des Progressive Rock. Das Album SCHEINT nie zu komplex, klingt sonnig-psychedelisch. Es ist eine eigen-artige Version des Progressive Rock, und was will man mehr?

Babe Ruth
First Base

(Harvest, 1972)

Cover – Roger Dean (siehe Yes und Gentle Giant)

Zuletzt – wieder eine Band, deren Musik man auch Hardrock nennen könnte. Aber dass die Bereiche Progressive und Hardrock sich in dieser Zeit stark überschneiden, wurde nun schon etliche Male erwähnt. Babe Ruth waren die Band des Gitarristen Alan Shacklock. Eine dieser britischen Figuren, die sich gerade in den frühen 70ern mit exzentrischem Individualismus einen Namen machten. Der Typ hatte immer einen Hut an, war ein versierter Gitarrist, ein fähiger Songwriter und wurde zu einem der erfolgreichstenProduzenten England’s. Mit Platin-Alben von Mike Oldfield, Meat Loaf oder Bonnie Tyler… was nicht unbedingt für Qualität spricht. Das erste Album seiner ersten Band aber ist ein feines Stück Progressive Rock. Der Opener „Wells Fargo“ ist nicht mal allzu komplexer Hardrock, immerhin mit Saxophon-Solo. Aber beim zweiten Track „The Runaways“ übernimmt Janita Haan den Gesang und man bekommt einen sehr schönen Progressive Folkrock-Track geboten. Dann wird Frank Zappa’s „King Kong“ gecovert und Keyboarder Dave Punshon darf in Unisono-Passagen mit Shacklock seine Fähigkeiten ausstellen. Dann kommt wieder ein Folk-naher Track – Jesse Winchester’s „Black Dog“ wird ohne Mühe auf acht Minten gedehnt. Janita Haan’s Stimme und instrumentale Verzierungen machen tollen ProgRock aus dem Folksong. Und dann kommt der bekannteste Track von Babe Ruth: „The Mexican“ wurde von Musikern wie Jellybean, GZA oder Helloween gecovert. Dass Shacklock sich im Text auf die klischeehaften Falschdarstellungen von Mexikanern im John Wayne Film „Alamo“ bezog, dass der Basslauf extrem funky ist… man kann den Erfolg verstehen. First Base ist vielleicht zu sehr all over the place, aber auch Shacklock hatte Stil. In Kanada und den USA wurde das Album erfolgreich. In England blieb der Erfolg aus. Die Band machte unverdrossen weiter, und dann stellte Shacklock sich ins Studio und wurde Erfolgsproduzent. First Base blieb sein bestes eigenes Album. Und das Plattencover vom Band-Entdecker Roger Dean (siehe auch Yes und Gentle Giant’s Octopus) ist wunderbar.