In den kommenden Jahren wird es die großen und spannenden Weiterentwicklungen geben (Siehe Harmonia/Cluster/Eno). In England hatte der einflussreiche DJ John Peel seit Kurzem Acts wie Tangerine Dream (…die keinen „Krautrock“ spielten, sondern“kosmische Musik“ machten…) und Amon Düül II, Faust und Can entdeckt und legte sie seinem Publikum auf die Plattenteller. Der Begriff „Krautrock“ wurde tatsächlich ’71 erstmals für die Werbung von Alben des Bacillus-Labels im US-Billboard Magazin verwendet. Diese eigentlich despektierliche Bezeichnung hatte sich somit eine deutsche Werbe-Agentur ausgedacht. Geläufiger – und weniger ironisch – wurden diese Acts mit dem Begriff „Kosmische Musik“ beschrieben – was zu den Intentionen und Sounds der ersten, bald im UK wirklich erfolgreichen Band (Tangerine Dream) gewiss weit besser passte. Mit der Schublade „Krautrock“ ist es freilich wie mit allen Stil-Schubladen: Unterschiedliche Bands wurden und werden aus werbetchnischen Gründen zusammengesteckt. Krautrock deckte somit alles von Avantgarde, elektronischer Musik, Jazzrock, Psychedelic und Space Rock bis zu Heavy Bluesrock aus dem deutsch-sprachigen Raum ab. Hier beschäftigten sich junge Leute damit, die Musik ihrer anglo-amerikanischen Vorbilder zu kopieren, zu adaptieren – und inzwischen in die eigene musikalische Welt einzubauen. Natürlich gab es Gemeinsamkeiten unter all diesen Acts. Die meisten Bands hatten den (damals allerdings überall präsenten) Hang zur bekifften Improvisation gemeinsam, hatten aber einen höchstens angelernten Blues-Background. Und vor Allem – Viele waren politisch offen links, agitierten und agierten entsprechend, lebten zum Teil in den damals von der konservativen Mehrheit mit Abscheu betrachteten anti-bürgerlichen Kommunen zusammen. Ihre Anti-Establishment Haltung wiederum hatte mit dem Widerstand gegen die verkrusteten Strukturen aus dem gerade mal seit einer Generation überwundenen Nationalsozialismus zu tun. Diese Musiker und ihr Publikum (!) waren äußerst politisch, die Konzerte und allein das Anhören dieser Musik war politische Positionierung. Selbst wenn der Protest gegen die Strukuren nicht explizit textlich geäußert wurde. Diese Langhaarigen-Musik war ein Standpunkt. Das mag die wilde Neugier, die Experimentierfreude gefördert haben. Kraut-Bands mit Lyrics wiederum hatten für ihre meist englischen Texte oft britische/amerikanische Sänger – oder sie blieben wie gesagt instrumental. John Peel meinte in einer seiner Sendungen „…the most interesting and genuinely progressive music anywhere in the world is coming from Germany“. Hier findest du einige Beispiele dafür, wie „Krautrock“ begann international Aufmerksamkeit zu erregen.
Can – Tago Mago
(United Artist, 1971)
Eines DER archetypischen Krautrock-Alben. Avantgardistisch, mitreissend, verrückt… Es gibt kaum mehr als zwei Handvoll vergleichbar guter Alben aus Deutschland. Lies über deren Ege Bamyasi und Future Days in den folgenden Jahren. Aber dann auch….
Amon Düül II
Tanz der Lemminge
(United Artists, 1971)
John Peel hatte im Jahr zuvor die beiden Vorgängeralben Yeti und Phallus Dei hoch gelobt und in seinem Programm vorgestellt. Aber Amon Düül II – die Kommune, die Musik machte und freie, psychedelische Improvisationen bisher nicht bekannter Art erfunden hatte – hatte danach ein paar Katastrophen zu verarbeiten. Bei einem Auftritt brannte das Equipment nieder, vier Zuschauer kamen um, das neu besorgte, noch nicht abbezahlte Equipment wurde gestohlen, die Band ging bankrott, der Bassist Dave Anderson verließ die Kommune Richtung Hawkwind, Band-Gründer Chris Karrer spielte auch mit Embryo (siehe weiter unten), die für die Aufnahmen zu Tanz der Lemminge ihren Keyboarder Jimmy Jackson ausliehen… alles wurde auf „Neu“ gestellt… und die Band meisterte das!! Sie schafften es tatsächlich, ein weiteres Doppel-Album einzuspielen, das konzise, ja – womöglich sogar noch etwas gelungener war. Wieder die erste LP mit ausgefeilten Tracks, die zweite mit Free Form Improvisationen. Anderson’s prominenter Bass war ausgetauscht gegen den jazzigen Bass des zuvor auch kurz bei Embryo tätigen Lothar Meid. Die gänzlich ins Klischee der Hippie-Frau passende Renate „Krötenschwanz“ Knaupp sang nur noch einmal ganz frei auf einem Track mit. Aber wie virtuos und sinnvoll diese „Gruppe“ sich im Bereich der „Kosmischen Musik“, im Psychedelic Rock oder Space Rock wiederfand, war beeindruckend. Die erste Seite der LP gehört dem Bandkopf Karrer, der mit „Syntelman’s March of the Roaring Seventies“ alle Ideale des Psychedelic Rock bediente. Der andere Gitarrist John Weinzierl ließ Amon Düül II auf Seite 2 der LP als Heavy Psych Band losdonnern, in die sich eine Sitar und majestätisches Mellotron-Dröhnen verirrt hatte. Und beide Male klang Amon Düül einerseits sehr „free“, andererseits aber sehr bei der Sache. Virtuos und abwechslungsreich. Ihre Verbindung aus Psychedelik, weggetretener Improvisation und sehr free-folk/jazzigen Passagen, dazu aber auch eine gewisse teutonische Ordnung… All das machte Amon Düül II zu einem DER Rock-Acts im post-faschistischen Deutschland – der gerne mit Inbrunst von konservativen Schlager Fans gehasst wurde. Internationaler Erfolg und Reputation wuchsen, insbesondere live durften Amon Düül II in Paris, Rom, London etc. auftreten, junge Leute waren europaweit begeistert von einer deutschen Version von Hawkwind meets Pink Floyd und The Grateful Dead. Dass auch die sehr freie zweite LP des Doppelalbums dazu passte – obwohl insbesondere beim Pink Floyd-artigen „The Marilyn Monroe-Memorial-Church„ die Zügel noch mehr losgelassen wurden – macht Tanz der Lemminge zum nächsten Klassiker des Krautrock. Diese Sound-Exkursionen waren gekonnt und gehörten seinerzeit zum guten Ton. Danach wurden Erfolg und Musik internationaler. Die drei ersten Alben von Amon Düül II sind Pflicht.
Embryo
Embryo’s Rache
(United Artists, 1971)
Nun – über dieses Album soll an dieser Stelle berichtet werden, weil Embryo (wie man hier lesen kann) eng verzahnt waren mit Amon Düül II. Deren Chris Karrer jammte gerne mit der Band, der AD-Bassist Lothar Meid war ’69 Mitbegründer von Embryo gewesen und Embryo-Keyboarder Jimmy Jackson hatte Finger + Tasten an AD verliehen… Dass es musikalische Parallelitäten gab, war nicht verwunderlich. Der virtuose Multi-Instrumentalist Christian Burchard hatte Embryo ’69 mit Lothar Meid und dem Geiger/Saxophonisten Edgar Hofmann als Kollektiv gegründet. Bei Embryo durfte schon zum letztjährigen Debüt Opal jeder mittun, der gut genug war. Der Anspruch an die Fertigkeiten war dabei allerdings ein weit höherer, als bei den Freigeistern von Amon Düül II. Burchard kannte schließlich ganz tolle US-Jazzmusikern – z.B. Mal Waldron – mit denen er auch auf folgenden Embryo-Alben spielen würde. Dass Jimmy Jackson ’71 ein Album mit besagtem Mal Waldron aufnehmen würde (The Call… Jazzrock mit Kraut drin…), soll erwähnt sein. Aber hier ist Embryo’s Rache das Thema: Ein Album, das auch in die Kiste Jazzrock passen könnte. Oder in die Kiste Psychedelic Rock. Es sind ausgedehnte Improviastionen, wilde Drum-Orgien von Burchard, verzerrte Keyboards und ganz selten mal kraut-typisch schwächliche Vocals. Lyrics waren bei diesen Menschen unwichtig. Hier wurde nach Herzenslust gejammt und gegroovt, man sollte und wollte ein bisschen kontrolliert und auf hohem instrumentalem Niveau wegdriften. Man kann diesem Kraut-Jazz nicht einmal Eskapismus vorwerfen. Nicht jeder Musiker mag berufen sein, sich textlich politisch zu äußern. Embryo feierten mit Embryo’s Rache schon mal Toleranz via Weltmusik. Und einen Song „Espagna si, Franco no“ zu nennen WAR politisch. Und dabei „Revolution is the only way“ zu skandieren noch deutlicher. Wie gesagt – in dieser Zeit war Rockmusik aus Deutschland politisch. Dabei war auch dieser Song eine Session mit viel verzerrten Keyboards, einem schön freien Saxophon und wildem Getrommel, das definitiv nicht nur abgehoben, sondern auch virtuos war. Embryo’s Musik wurde (mir) in den Mitt-Siebzigern ZU jazzig und ZU weltmusikalisch, aber das war so beabsichtigt. Burchard hatte diese eine Idee und eine Botschaft, die er mit voller Kosequenz durch die ganze Welt trug. Die ersten Alben von Embryo – vor allem der tolle Nachfolger Father Son and Holy Ghost – sind (mir) genug von dieser Art Kraut.
Faust
s/t
(Polydor, 1971)
Ein anderer household name des Krautrock – nicht zuletzt im UK – sind Faust. Die Band entstand 1970 im teutonischem Hippie-Umfeld und siedelte sich nahe Bremen in Wümme in einer ehemaligen Schule an, um die piefige deutsche Populärmusik mal ganz knorke umzubauen. Faust waren durch Vermittlung des Musik-Journalisten und Produzenten Uwe Nettelbeck zusammengekommen. In der Schule in Wümme wurde wild Improvisiert und rumprobiert, man lernte sich kennen und machte mit dem Avantgardisten Tony Conrad (Siehe Kluster) und mit der britischen Band Slapp Happy Musik… und schuf mit Faust ein Manifest der experimentellen deutschen Rockmusik, das in sehr vieler Hinsicht seiner Zeit – eigentlich jeder Zeit – voraus war. Dass die LP auf Polydor in durchsichtigem Cover und auf durchsichtigem Vinyl erschien, war ja schon mal sowas von abgefahren! Und dann diese Musik: John Peel war begeistert von den Sound-Collagen, den Gesprächsfetzen, den komplexen Rhythmen, den durchaus auch virtuosen Instrumental-Passagen, die sich mit King Crimson messen konnten, die dann aber auch wieder diese repetitiven Phasen hatte, die man bei Bands wie Can und Amon Düül II liebte. Faust besteht aus drei Tracks, die von straightem ProgRock in gewagte Soundcollagen wandern. Vor allem das 16-minütige „Miss Fortune“ ist eine Tour de Force. Und man kann das ganze Album auch „anstrengend“ finden. 1971 war das sicher so – der Erfolg war jedenfalls bescheiden, obwohl die Kritik begeistert war. Produzent Nettelbeck hatte auf dem gut sichtbaren Textblatt noch eine absurde Geschichte ergänzt, aber es ist die Musik auf diesem Album, die – bei aller Komplexität auch eine Geschichte erzählt. Faust ist ein völlig eigenständiges Werk, das zwar eindeutig von „Rockmusikern“ gemacht war, das aber weit ausserhalb der Normen der Rockmusik blieb. Typen wie der Drummer Werner Diermaier und Bassist Jean-Hervé Péron waren mit diesem Album sofort respektierte Avantgarde. So ist Faust auch heute noch spannend – auch wenn manchee Idee inzwischen von Anderen technisch besser gelöst und weitergeführt wurden, und die Ästhetik dieses Albums eindeutig 70er ist… Nun – DAS gilt für alle Alben hier…
Tangerine Dream
Alpha Centauri
(Ohr, 1971)
… zum Beispiel auch für das zweite Album der Band (das war sie 1971 noch) Tangerine Dream. Tangerine Dream werden meist nicht in den Krautrock-Topf gesteckt… ihre Art der „elektronischen“ Musik nennt der Erbesnzähler Berlin School oder Progressive Electronic. Aber auf Alpha Centauri erzeugten Edgar Froese, Chris Franke und Steve Schroyder + Gäste die Töne noch überwiegend mit Gitarre, Drums, Bass, Flöte – und den damals teuren und noch ziemlich „analogen“ Keyboards und primitiven Synthesizern ihrer Zeit. Und auch hier orientierten sie sich – wie auf dem Debüt – durchaus erkennbar an Pink Floyd. Nichts dagegen!! Denn DAS hat diese Band auf sehr gelungene Weise hinbekommen. Und der Schritt Richtung Synthesizer Musik – Berlin School war im Rückblick sicher logisch. Aber… Alpha Centauri ist (für mich) klar in der „Krautrock-Ästhetik“ verwurzelt. Tangerine Dream hatten wie ihre deutschen Kollegen offenbar Pink Floyd’s A Saucerful of Secrets gehört, aber deren britischen Humor nicht adaptiert. Das Album ist ein Schritt in die Richtung, die man dann ein-zwei Jahre später mit dieser Band und ein paar Seitenarmen (v.a. Klaus Schulze) als Berlin School Electronics und vor Allem „Kosmische Musik“ verbinden würde. Alpha Centauri hat allerdings noch etliche Psychedelic Rock-Eigenheiten – und die stehen dem Album gut. Alle drei Tracks sind recht abwechslungreich (wenn man das beim auf 22 Minuten ausgewalzten Titeltrack sagen darf). Die prominente Flöte von Chris Franke gibt der Musik etwas verträumt-naives. Vor Allem die verzerrt dröhnende Orgel beim 13-minütigen „Fly and Collision of Comas Sola“ verhindert zu viel Esoterik. Klar – diese Musik war (wie vieles, was in dieser Zeit in Deutschland an neuer Rockmusik gemacht wurde) zum „Wegdriften“ gedacht. Aber vor Allem beim Titeltrack wurde der Synthesizer (neben der genannten Flöte…) so prominent eingesetzt, dass die weitere Entwicklung dieses Acts logisch war. Und man bedenke: Solche Musik – sozusagen das Space-Element von Pink Floyd als Essenz – gab es bis dahin noch nicht!! Tangerine Dream wurden als Innovatoren gesehen. Sie beeindruckten John Peel offenbar sehr. Verständlich- Die folgenden fünf Alben sind groß, der Nachfolger Zeit ist das Referenzwerk der elektronischen Musik – Sparte Berlin School.
Conrad Schnitzler
Eruption (Schwarz)
(Private Pressung, 1971)
…um scheinbar beim Thema Kosmisches Kraut zu bleiben: Eine weitere wirklich spannende deutsche „Band“ waren die ebenfalls in Berlin entstandenen Elektronik-Pioniere Kluster: Dieter Moebius, Hans-Jachim Roedelius und Conrad Schnitzler hatten seit ’69 zwei ziemlich avantgardistische Alben gemacht, die etliche Kilometer further out waren, als die der Kollegen von Tangerine Dream. Dass ihre Musik damals mit Hilfe „normaler“ Instrumente entstand, die dann durch diverse Filter und Tape-Maschinen gepresst wurden, sollte erwähnt sein… Und man sollte wissen, dass Conrad Schnitzler wenig Interesse an bekiffter Freundlichkeit hatte. Kluster’s 1970er Album Klopfzeichen ist ein eiskalter Brocken aus Geräuschen, Stimmen und fremden Sounds. Und der auf 200 LP’s limitierte Live Mitschnitt Eruption war auch kein dösiger Sphärentraum. Aufgenommen hatten es Kluster aka Moebius, Rodelius und Schnitzler + Klaus Freudigmann am 17. Mai ’71 an der Uni Göttingen. Schnitzler veröffentlichte es 1974 erneut unter dem Titel Schwarz… Veröffentlichungs-Wirrwarr, zu dem gehört, dass es seine Alben inzwischen auf dem feinen Label Bureau B gibt. Schnitzler hatte bei Joseph Beuys Kunst studiert, war unter „Kraut-Avantgardisten“ eine große Nummer – in bescheidenem Rahmen. Er besorgte bald den Düsseldorfern Kraftwerk Synthesizer und gründete den semi-legendären Zodiac Club in Berlin. Nach besagtem Konzert lösten sich Kluster auf und Schnitzler produzierte seine Kunst auf eigene Faust. Ab da nahm er nach Farben sortierte Alben mit elektronischer Musik auf. Wobei man schon bei Schwarz – wie gesagt – vorsichtig sein sollte. Das hier hat nichts mit Chill-Out und wenig mit Techno zu tun. Es ist Musik, die in Cut-Up Technik zusammengebaut ist, es ist Industrial im wahren Sinne des Wortes. Da werden Maschinen zum klingen gebracht, da werden die Rhythmen mit Hämmern erzeugt, da soll nichts „nett“ klingen und Melodie entsteht eher aus der Tonhöhe der Klänge. Logisch dass die beiden Stücke hier „Eruption I + II“ heissen . Dass Schnitzler keinerlei Unterstützung von irgendwelchen Plattenfirmen bekam, sollte nicht verwundern – und Labels wie raster-noton oder Bureau B gab es damals nicht. So veröffentlichte er seine Alben selber in kleiner Stückzahl und machte keine Kompromisse. Heute wird sowas mit anderen Ohren gehört. Es ist interessante, experimentelle Musik, eine der Wurzeln der Elektronischen Musik.
Cluster
s/t
(Philips, 1971)
…aber Schnitzler’s Kluster-Kollegen Moebius und Roedelius wollten den Kontakt zur Menschheit wohl doch noch aufrechterthalten… Man trennte sich von Schnitzler, benannte sich um in Cluster und nahm in Hamburg mit dem innovativen Produzenten Conny Plank Cluster ’71 auf. Lustiges Side-fact: Kurz zuvor hatte Planck Kraftwerk I aufgenommen… der Mann war an vorderster Avantgarde-Front unterwegs. Hätten es die Hörer gewusst, dann hätten sie die Musik auf Cluster’s Debüt mit dem Etikett Space Ambient Drone bekleben können – So war Cluster ’71 eben nicht ganz so finster wie die Eruption, sondern wurde eher als kosmische Musik wahrgenommen, die meinetwegen Richtung Black Hole treibt. Es gibt keine wohltuenden Anfänge oder Enden auf den drei titellosen Tracks, es gibt wenig bis keine Melodie, dafür aber sonisches Pulsieren und Dröhnen, elektronische Störgeräusche und stimmloses Fiepen. ABER!! All das kombiniert sich in erstaunlicher und sicher geplanter/gewollter Schönheit. Cluster klangen somit auch wieder nicht wie ihre Kollegen – die beiden Musiker schufen hier (ohne Synthesizer!!) gemeinsam mit Conny Planck aus dem Nichts wieder etwas Neues. Es war eine weitere Facette experimenteller Musik aus Deutschland. Auf diesen Tracks schwebte kein Patchouli in der Luft, aber die Luft gefror auch nicht. Cluster füllten den Zwischenraum von Popmusik und Moderner Klassik. Ohne die Posen des Pop… ohne die Verkopftheit der Klassik. Cluster ’71 war der Start in eine Richtung, die enorme Bedeutung erlangen würde – die in Zusammenarbeit mit Brian Eno bald Alben erschaffen würde, die bis weit ins kommende Jahrtausend wirken würden…
Ash Ra Tempel
s/t
(Ohr, 1971)
Und nun ein Album, das man etwas hilflos in den Berlin School-Ordner steckt, der im Krautrock-Schrank steht. Es schein mir einfacher, darauf hinzuweisen, dass auf Ash Ra Tempel’s gleichnamigem Debütalbum (aufgenommen in Hamburg von Conny Plank..!) drei Großmeister der deutschen Rockmusik der frühen 70er zusammenarbeiteten. Manuel Göttsching, sein Freund, der Bassist Hartmut Enke und der Ex-Tangerine Dream-Drummer Klaus Schulze hatten sich in Berlin herumgetrieben, mal hier, mal dort gemeinsam gejammt und machten mit diesem Debütalbum ein weiteres Refenerzwerk des… Tja – was denn nun?…. Das damals von Genre-Grenzen unbeeindruckte Publikum jedenfalls fand hier etwas, das man ’71 wollte: Zwei Tracks mit ausgedehnten, abgespaceten Sound-Explosionen. Für Berlin School Träume a la Tangerine Dream war ein Track wie „Amboss“ sicher zu konkret, zu heavy. Abgesehen davon, dass Manuel Göttsching, der Kopf der Band, die Gitarre als Hauptinstrument nutzte. Deren Sounds wurden manipuliert, durch die damals vorhandenen Manipulatoren gejagt und mitunter ziemich hendrix-haft in psychedelische Wolken gejagt. Das mag hier altbacken formuliert sein (soll es auch… wir haben 1971), aber Ash Ra Tempel ist bis heute in seiner Kombination von Drums, Gitarren, Bass und Elektronik erstaunlich zeitlos geblieben. Schulze’s Drums sind hypnotisch und tribalistisch, nach ein paar Minuten gleiten die drei Musiker in Free Jazz-Gefilde um dann wieder mit Göttsching’s feurigen Gitarrensalven Psychedelik zu feiern. Der zweite Track der LP – „Traummaschine“ – ist im Grunde ähnlich. Die Dynamik ist beeindruckend, die Art, in der Psychedelische Gitarren-Explosionen und ruhige Passagen, Handtrommeln, donnernde Drums und pulsierender Bass zusammenwirken sollte doch eigentlich über 25 Minuten beginnen zu langweilen. Es ist ein Zeichen für die Klasse der Musiker und die Kraft der Innovation, dass die Musik die ganze Zeit spannend und abwechslungsreich bleibt. Ash Ra Tempel ist KEIN Berlin School-Album und ich empfehle es sehr. Es ist auf eine Art typisch für den Rock aus Deutschland Anfang der 70er: Es fällt aus den damals bekannten Kategorien heraus.
Popol Vuh
In den Gärten des Pharaos
(Pilz, 1971)
Und auch hier: KEIN Krautrock. Zumindest kein Rock… Popol Vuh waren Florian Fricke – ein klassisch ausgebildeter Pianist, der einen der teuren Moog-Synthesizer gesaß, der aus dem klassischen Musikbetrieb ausgestiegen war, um sich selbst zu verwirklichen (…was 1968 nicht das gleiche war, wie ab den 90ern…), der experimentelle Musik mit besagtem Moog-Synth aus Neugier und Begeisterung für die Musik der WELT machte – und der seit 1970 einen A&R-Mann hinter sich hatte, der diese gewagten Experimente veröffentlichen ließ. Das Debüt Affenstunde vom Vorjahr war Pionierarbeit irgendwo zwischen Weltmusik und elektronischen Klängen, das zweite Album In den Gärten des Pharaohs war die noch beeindruckendere Fortsetzung. Durchaus zeittypische „Musik zum wegdriften“ mit ebenso zeittypischen Stilmitteln aus orientalischer und afrikanischer Musik. Das wurde schon durch das Bandmitglied Holger Trülzsch und dessen „türkische und afrikanische Percussion“ gewährleistet. Dazu ließ Popol Vuh-Kopf Fricke mit Sounds aus Moog, Orgel und Fender seltsame Landschaften entstehen. Das Album hatte seinerzeit zwei jeweils eine Seite lange Tracks, auf Seite 1 aquatische Tonfolgen, die von besagten Percussion an Land gespült wurden um sich dort ganz gemächlich zu Bergen aus Sound zu erheben. Es ist kein „Drone“, aber dieser Track ist nah dran. „Vuh“ auf der zweiten LP-Seite ist dann ein ritualistischer Brocken aus mittelalterlich dröhnender Orgel und einem 20-minütige Schlussakkord. DAS IST Drone, wenn man den Begriff nutzen mag. Es ist enorme Musik, und es ist sehr klug durchdachte Musik. Florian Fricke hatt seine Facette der elektronischen Musik damit offenbar zuende gedacht – er hatte auch für Tangerine Dream’s Zeit seine Fähigkeiten und seinen Moog-Synthesizer zur Verfügung gestellt und gab ihn nach In den Gärten…. seinem Freund und Kollegen Klaus Schulze. Das folgende – ebenfalls tolle Album Hosianna Mantra kam ohne Synth aus und ist keine Spur schwächer. Dass Fricke sich danach der Arbeit an Filmsoundtracks widmete ist sehr schlüssig. Man sollte ggf. die ReIssue-CD suchen, auf der zwei gleichwertige Bonus-Tracks sind…
A.R. & Machines
Die Grüne Reise
(Polydor, 1971)
A.R. & Machines war die Band um den Hamburger Beat-Veteranen Achim Reichel. Der hatte sich Anfang der 60er mit den Rattles als deutsche Version der Beatles versucht – war sogar mit den Liverpoodlians aufgetreten und hatte einen Hit im UK. ’66 verließ Reichel die Rattles (die inzwischen ganz passablen Hardrock spielten) und versuchte mit großem Durchhaltevermögen seine Karriere als Rockmusiker weiterzutreiben. Mit dem Projekt Wonderland gab es ein paar Singles und ’71 beschloss er es mal Solo zu versuchen und holte sich für sein Projekt A.R. & Machines nur ein paar Freunde dazu. Der Mann hatte die Zeichen der Zeit erkannt. Psychedelic Rock, Gitarren, extended Jams, ein Plattencover, das nach Psychedelia ausschaut… Aber Die Grüne Reise ist nicht wie die zuvor beschriebenen Alben. Reichel und seine Maschinen waren ganz offensichtlich auf’m Trip, aber es war neben all den surrealen Experimenten Blues im Topf. Auch wenn die Gitarren geloopt wurden, Stimmen und alle möglichen Geräusche untergemischt wurden – Die Grüne Reise wurzelt im Blues. So entstand tatsächlich ein ziemlich eigenständiger Sound. Trippy Jams, Blues-Rhythmen, dann wieder tribalistisches Getrommel. Reichel macht alberne Sachen mit seiner Stimme, und dann werden wieder gewagte Loops aus Keyboard- und Gitarren-Sounds gebaut. Dass diese Musik heutzutage naiv klingt, muss man verzeihen. Weil Reichel bei aller Spinnerei dennoch eine erstaunliche Pop-Sensibilität behielt. Und weil diese Musik eigenständig geblieben ist. Man KANN Die Grüne Reise ein bisschen mit Amon Düül II oder auch Tangerine Dream/Ash Ra Tempel vergleichen. Aber Erstere sind üppiger, Letztere viel ernster als A.R. Mit „Wahrheit Und Wahrscheinlichkeit (Truth And Probabilty)“ gibt es einen der durchgeknalltesten Tracks dieser Tage (…und das will was heißen…), Reichel schreit und juchzt, was ihm in den Sinn kommt, redet in Stimmen und jagt seine Laute in Echokammern bis kurze Gitarrenbreaks den Noise unterbrechen. Offenbar war er auf einem surrealen, aber immerhin auf keinem schlechten Trip. Auf dem folgenden Album Echo gab es mehr Kontrolle, er arbeitete mit einer echten Band, aber A.R. & Machines blieben auch da eigenständig… was leider nicht den Erfolg hatte, den die Ideen verdient hätten. Die drei Alben der Band sind heute (2024) schwer zu finden, man kann sie nur streamen. Das Vinyl wird zu abenteuerlichen Preisen gehandelt. Eine schöne Vinyl-Reissue Reihe bitte…
Heavy Psychedelic Sauerkraut
Die 10 bis hier beschriebenen Alben kann man sicher unter dem Stilbegriff Krautrock laufen lassen (…auch wenn die Elektronik-Fraktion auch Kosmische Musik oder Berlin School genannt wird…). Aber die nun folgenden Bands und ihre Musik ist so stark vom zu dieser Zeit angesagten harten bluesigen psychedelischen Rock beeinflusst, dass jeder berufene Spinner sie in den Topf der Heavy Psych-Bands um Blue Cheer, Stray oder Mountain werfen will. Zu Recht – dort passen sie rein. Die Musiker von Hairy Chapter oder Frumpy waren nicht auf gewagte Experimente aus, sondern auf bluesige, progressive, psychedelische Improvisationen mit Gitarre, Saxophon, etc. Rockmusik in Deutschland war stark von anglo-amerikanischen Bands beeinflusst. Und selten wurde nach stilistischer Abgrenzung gefragt, es gab bei den meisten Bands dieser Tage wenige wirklich „typisch deutsche“ Stilmerkmale. Die Musiker hatten nur deutsche Namen. Aber Hairy Chapter, Frumpy und Nine Day’s Wonder hätten auch im UK oder den USA entstehen können. Insbesondere das Bacillus-Label hatte Bands im Programm, deren Alben so gesehen „international“ waren. Hier folgen fünf ’71er Alben, die man nicht unbedingt als „Krautrock“ bezeichnen kann. Die ich aber – hier – im zeitlichen Kontext diesem schwammigen Stilbegriff zuordne. Das soll danach nicht mehr vorkommen…
Frumpy
2
(Phillips, 1971)
…und um es mal beispielhaft zu belegen: Eines der ganz großen Heavy Psych Alben des Jahres ’71 ist das zweite Album der Hamburger Band Frumpy. Die waren aus der R&B Kombo City Preachers hervorgegagen, Vor Allem die Sängerin Inga Rumpf und der Keyboarder Jean-Jacques Kravetz hatten das erste Album All Will Be Changed geprägt. Der Erfolg war überraschend groß. Auf Tour mit Yes, ein in Deutschland wirklich erfolgreiches Album, Lob und Preis von der Presse… Man erwartete einiges vom Frumpy 2. Und die Band lieferte. Sie hatten sich mit Rainer Baumann einen fähigen Gitarristen an Bord geholt und nahmen Frumpy 2 quasi live auf (…was sie auch drauf hatten…). Vier lange Tracks, die tief im Blues und im Progressive Rock wurzeln. Eine dröhnende Hammond, die Jon Lord von Deep Purple nicht virtuoser und kraftvoller spielen könnt und eine STIMME!! Inga Rumpf klang nie so über-exaltiert wie Janis Joplin oder Maggie Bell. Ihre Stimme war erdiger, vielleicht ein bisschen näher am Jazz, aber mit enormem Gefühl. Keine Hochleistungs-Oktavenkletterin sondern eine kraftvolle Blues/Jazz-Sängerin. Und die Länge von Tracks wie „How the Gipsy Was Born“ war nicht störend, sie ist angebracht! Dieses Hammond-Solo, dieser rasanta Rhythmus… ich erwähne es mímmer gerne – Die Soli der Gitarristen und Keyboarder waren damals keine eitle Zurschaustellung der Virtuosität, da war „Begeisterung die Inspiration, die sich in diesem Fall auch auf die Hörer übertrug“. Dass dieser Wechsel aus Gesang, Gitarren und Hammond bei allen vier Tracks spannend bleibt, ist dem Können, dem Spaß und den wirklich guten Songvorlagen zu danken. Dass Drums und Bass die Songs trocken und hart wie bei einem Hardcore-Act der 90er voranjagen, ist das letzte I-Tüpfelchen. SO soll Heavy Psych sein. PS – der Name Frumpy bezieht sich natürlich auf den Namen der Sängerin. Einer der weltweit besten weiblichen Rock-Stimmen.
Silberbart
4 Times Sound Razing
(Philips, 1971)
Silberbart’s 4 Times Sound Razing wiederum mag man zwar nicht mit Can oder Popol Vuh vergleichen können, aber andererseits ist die verrückte Experimentierfreude der drei Musiker nah an Acts wie Faust, Can oder Amon Düül II. Zu Recht ist ihr Album Teil der Nurse With Wound-Liste obskurer avantgardistischer Alben mit Einfluss (…na ja… auf Nurse With Wound jedenfalls. Such‘ diese Liste im Internet…). Was hier geboten wurde, war weit von Pink Floyd oder Yes entfernt. Das klang eher nach Van Der Graaf oder King Crimson mit einer Dosis schrägem Humor. Der Opener „Chub Chub Cherry“ mochte noch relativ konventionell beginnen, wie eine Psycho-Version von Led Zeppelin, aber Joachim Tscherner’s Schreie waren schockierender als die von Robert Plant. Hier wurde nicht der Blues zelebriert, sondern der Wahnwitz. Das 16-minütige Monster „Brain Brain“ bot Noiserock wie es ihn bis dahin noch nicht gab, Gitarren-Rückkopplungen, primitive Stampf-Passagen neben komplexem Jazzrock, atonalen Experimenten und wildem Geschrei. Tscherner’s Gitarren-Feuerwerk, das kraftstrotzende Rhythmus-Fundament, das jede Verrücktheit mitmachte, dazu immer wieder Passagen, die einer „normalen“ Rockband Hits garantiert hätte, die aber schlicht in übertrieben lange Songs eingebettet waren… Man höre nur „God“ – andere Bands hätten daraus drei Songs gemacht. Silberbart waren angetreten, um die Grenzen der Rockmusik zu verschieben…. was leider nur in Nord-Deutschland bemerkt wurde. Wie sie dann bei „Head Tear of the Drunken Sun“ in Vanilla Fudge-artige Langsamkeit versanken, war beeindruckend. Oder besser – hätte Leute beeindruckt, die fünf Jahre weiter gewesen wären. Das Album dieser Band blieb obskur und ist die Entdeckung wert. Fun Fact am Rande: Gitarrist/Sänger Teschner hatte zuvor mit den Tonics Beat gespielt. Seine Kollegen wechselten zu James Last. Und zuletzt der Hinweis: der enorm virtuose Jazz-Drummer Peter Behrens wurde Anfang der 80er mit Trio an der Stehtrommel zum Star. Ja – mit dem Hit „Da Da Da“!
My Solid Ground
s/t
(Bacillus, 1971)
Na ja – Es war wie oben erwähnt das Label Bacillus Records, das seine Alben mit dem Begriff „Krautrock“ bewarb. Und die drei hier folgenden Alben gehörten zu den Beworbenen. Die Musiker waren aus Deutschland, aber – wie oben gesagt, der Heavy Psychedelic Rock – sowohl von My Solid Ground, als auch von Nine Day’s Wonder und Hairy Chapter – war gewiss nicht so experimentell, wie das, was Faust, Can oder Amon Düül II dieser Tage anboten. My Solid Ground ist wie (um mal von einer Band aus anderen Ecke der Welt zu sprechen) Satori von der japanischen Flower Travellin‘ Band (Dürfte vielen Kraut-Fans gefallen…) oder Suicide von den Briten Stray oder Nantucket Sleighride von der US-Band Mountain. Insbesondere Vinyl-Investoren können locker einen ganzen Schrank voller „Heavy Psychedelic Rock“ Alben aus der Zeit zwischen ’69 und ’73 nennen, die (vor Allem) extrem rar und teuer geworden sind, die deswegen in den Himmel gelobt werden, die sich aber auch sehr ähneln können und manchmal einfach dumpfe Rockmusik bieten. (Ganz nebenbei KENNE ich nur einen Bruchteil davon). Es gibt aber auch Perlen unter den Hunderten, die – bei aller stilistischer Uniformität – wirklich gelungen sind. My Solid Ground IST Heavy Psych, aber die Band um den Rüsselsheimer (...of all places...) Gitarristen und Sänger Bernhard Rendel machte mit ihrem einzigen Album alles richtig, was man als Heavy Psych-Band richtig machen konnte. Damit mögen sie Klischee’s erfüllt haben, aber das ist typisch beim Heavy Psych. Und auf Bacillus veröffentlichen zu können, war scheinbar von Vorteil. Das gerade gegründete Label schien im Gefolge des Hypes um deutsche Bands auf dem Sprung zum Erfolg. „Dirty Yellow Mist“, der Opener des Albums, mag simpel sein, aber er ist ein mystischer Trip, er dauert 13 kurzweilige Minuten, die Band ist tight und klingt wie Amon Düül meets Hawkwind.. Danach kommen ein paar Psych-Rocker, die die ’71 üblichen beliebten Gitarrensoli präsentieren. Rendel ist zwar kein großer Virtuose, aber er spielt sehr effektiv. „The Executioner“ hat wieder den besonderen Twist mit gemurmeltem Text in finsterer Anmutung und dräuender Orgel. Diese Band war gut wiederkennbar… wenn sie wollte. Ob sie „typisch Kraut“ war, mag man diskutieren. My Solid Ground ist ein sehr gutes ’71er Heavy Psych Album von einer deutschen Band. Nenn’s meinetwegen Krautrock.
Nine Day’s Wonder
s/t
(Bacillus, 1971)
Auch dieses Album ist Teil der von der Band Nurse With Wound zusammengestellten Liste „avantgardistische Alben mit Einfluss“ …auf Nurse With Wound jedenfalls. Und wie zuvor gesagt – such‘ diese Liste im Internet und verstehe es als Hinweis darauf, dass hier wirklich hörenswerte Musik zu finden ist. Ganz nebenbei ist das Album Nine Days‘ Wonder in seiner originalen (und erfreulicherweise auch in seiner wiederveröffentlichten) Form ein ansehnliches Objekt: Das Cover ist aus kotze-grünem Schaumstoff. Hier hatten sich in Mannheim ein paar junge dufte Typen getroffen, in diversen Kombinationen gejammt und gekifft und mit dem ’71 gegründeten Bacillus-Label aus Frankfurt jemanden für die Veröffentlichung ihrer musikalischen Ideen gefunden. Dass die Band vom Drummer/Sänger Walter Seyffer schon ’66 gegründet wurde und inzwischen mit dem Iren John Earle einen sehr fähigen Saxophonisten und Flötisten sowie mit Rolf Henning einen der vielen feinen Gitarristen dieser Tage dabei hatte, macht die instrumentalen Breaks auf Nine Days‘ Wonder so staunenswert virtuos. Dazu waren mit dem Bassisten Karl Mutschlechner ein Österreicher und mit Drummer Martin Roscoe ein Engländer in dieser Band… die sich bewusst NICHT in der Spontaneitäts-Ästhetik ihrer deutschen Kraut-Kollegen verorteten. In dieser Inkarnation der Band wurde sehr kontrolliert zwischen Zappa-Irrsinn (Seyffer meinte dazu „Zappa ist der Papa…“), King Crimson-Komplexität und Soft Machine Jazz gewechselt. Das Album hat Vieles, was bei 4 Times Sound Razing erstaunt: Es wird in großer Schlüssigkeit innerhalb eines Songs zwischen Humor, tollem Song und Irrsinn gewechselt. Allerdings hatten Nine Days‘ Wonder nicht den Hang zum Atonalen, und waren somit etwas leichter verdaulich… sozusagen. Es sind auf dem Album formell nur vier Tracks: Zwei kurze Songs in den Mitte, zwei mehrteilige Suiten am Anfang und am Ende. Und in jeder Suite sind tolle Songs neben erstaunlichen Kabinettstückchen der Instrumentalisten zu hören. Nine Days‘ Wonder ist sehr abwechslungsreich… und es ist wirklich kein „Krautrock…“. Oder doch?
Hairy Chapter
Can’t Get Through
(Bacillus, 1971)
Und hier das letzte ’71er Beispiel für Heavy Psych Bands, die nur wegen ihrer Herkunft dem „Kraut“ zugeordnet wurden. Can’t Get Through von der Bonner Band Hairy Chapter ist wirklich toller, abwechslungsreicher harter Psychedelischer Rock, der mit den freigeistigen Experimenten von Bands wie Faust, Can oder Amon Düül II wenig gemeinsam hat. Aber – wie in der Einleitung erwähnt – das von dem Produzenten Peter Hauke ’71 gegründete Bacillus Label hatte mit dem Begriff „Krautrock“ Alben mit Rockmusik aus Deutschland beworben. Wenn Hairy Chapter Krautrock gespielt haben, dann ist die heutige Assoziation zu Kraut schlicht falsch. Hairy Chapter existierten unter verschiedenen Namen schon seit 1969. Als The Chaparall Electric Sound Inc. hatten sie ein schwächeres Album mit dem witzig-irreführenden Titel Electric Sound for Dancing gemacht. Dann kam das Hairy Chapter mit dem Album Eyes, das man jedem empfehlen kann, der dieses Album hier liebt – das aber IMO ein bisschen altbacken klingt. Nun – die Fünf hatten nun genug geübt und Can’t Get Through wurde der Höhepunkt des haarigen Kapitels. Natürlich sind die Gitarren und Riffs von Harry Titlbach und Harry Unte der „Bringer“. Soll heissen – die Beiden wussten, wie man einen Song mit Gitarren-Feuerwerk explodieren lassen konnte. Dazu hatte Harry Unte noch eine gute, wenn auch nicht bluesige Stimme… und sang fast akzentfrei, was bei Krautrock keine Selbstverständlichkeit ist. Kraftvolle Rhythmen, eine beeindruckende Härte, auch ein paar ruhigere Passagen, entsprechende Dynamik und die saubere Produktion von Dieter Dierks, der sich später mit den Scorpions international einen Namen machte… UND… sehr gute Songs (insbesondere nach Heavy-Psych-Masstäben) machten dieses Album im Laufe der Zeit zu einem gesuchten Klassiker. Man sollte sich die Twin-Gitarren und die Kraft eines Tracks wie „There’s a Kind Of Nothing“ anhören. Würde ich Bands und Genres benennen müssen, dann wären die fünf letzten Alben dieses Kapitels Heavy Psychedelic Kraut. Aber so sage ich ein weiteres Mal: Genre-Bezeichnungen sind nur schwache Krücken.
10 x bestes Kraut
Und wieder der Hinweis – es GIBT zuletzt doch keine definitiven 10 besten Alben dieses (oder irgendeines anderen) Stils. Zum Einen überschneidet die Musik „Krautrock“ sich mit Progressive, Psychedelic und Hard-Rock. Zum Anderen ändert sich die Sicht auf so manches Album und mit ihm die Rezeption mit dem gerade angesagten „Geschmack“. Mir fallen nach den 10 hier genannten schnell wieder einige andere Referenzen ein. Somit sage ich ausdrücklich Trotzdem:
Amon Düül II – Yeti (1970)
Faust – s/t (1971)
Can – Tago Mago (1971)
Can – Ege Bamyasi (1972)
Neu! – Neu! (1972)
Can – Future Days (1973)
Faust – Faust IV (1973)
Cluster – Zuckerzeit (1974)
Neu! – Neu! ’75
Harmonia – Deluxe (1975)
und weil es auch nach Kraut Kraut gibt will ich als Zugabe auf Stereolab – Mars Audiac Quintet (1994) hinweisen…. das gefällt dem Kraut. Und dann sind da natürlich all die Bands, die genauso toll waren: Embryo, A.R. & Machines, Cluster, Agitation Free… und die Elektronik Pioniere Tangerine Dream, Klaus Schulze, Conrad Schnitzler, die nicht „Krautrock“ sind, sondern eher „kosmische Musik“ – die aber von denselben Leuten gehört wurden und mit derselben Welle an den Strand des guten Geschmacks gespült wurden (siehe auch in diesem Kapitel…) Hört euch von denen in diesem Zusammenhang vielleicht einfach mal diese vier ausgewählten Elektronik-Alben aus der Zeit des Krautrock an…
Ash Ra Tempel – s/t (1971)
Tangerine Dream – Zeit (1972)
Klaus Schulze – Irrlicht (1972)
Popol Vuh – Hosianna Mantra (1972)