1969 – Porter Wagoner bis Merle Haggard – Country in Hippie-Zeiten

Ist ja ganz lustig zu sehen, wie sich „populäre Musik“ Ende der Sechziger entwickelt. Man vergleiche allein die LP-Cover der Alben, die aus dieser Zeit als Klassiker in Erinnerung geblieben sind, mit denen der Country-Alben aus Nashville.

Dass Captain Beefheart’s Fischkopf auf Trout Mask Replica im selben Jahr erscheint wie Dolly Parton’s In the Good Old Days (When Times Were Bad) ist schon erstaunlich. Dass sich das brave Frauenbild und das konservative Männerbild des Country und die dementen Chaoten von den Stooges oder die wilde Mähne von Janis Joplin auf ihrem Album I Got Dem Ol‘ Cozmic Blues Again gleichzeitig gegenüberstehen, zeigt, wie weit Nashville von New York und San Francisco entfernt war. Und auch musikalisch scheint der Abstand zwischen den Polen Country und Rock gewaltig. King Crimson, Velvet Underground und Led Zeppelin scheinen einen Kontinent entfernt von Wynette, Parton oder Wagoner. Auf die konservative Hörerschaft der Nashville-Koryphäen dürften die langhaarigen, ausserirdischen Drogensüchtigen von der Ost- und Westküste der USA – oder gar aus dem fernen London – wie Ausgeburten des Teufels gewirkt haben. Nur wenn man genauer hinschaut sieht man, dass es auch Annäherungen zwischen Country und Rock gibt: Johnny Cash ist Country – aber er hat mit Dylan gejammt und tritt vor Knastbrüdern auf und spricht damit durchaus auch weniger konservativere Kreise an. Und sein Schüler Merle Haggard mag sich erz-konservativ geben, aber von den braven Countrystars aus Nashville war er auch Meilen entfernt – die wiederum nahmen aber gerne seine Songs auf. Man sieht: Alles wurde durchlässiger. Dennoch – Ende der Sechziger gilt: Hippies hören keine Countrymusik und Country-Hörern kommt Dylan oder Grateful Dead nicht ins Haus. Aber die Fusion ist nicht mehr aufzuhalten, denn Bob Dylan macht eine Country-LP, The Band sehen auf ihrem zweiten Album aus wie die Pilgerväter – und ihre Musik schöpft tief aus Folk – und damit streng genommen auch aus Country-Quellen und Gram Parsons Flying Burrito Brothers tragen sogar die komischen Klamotten der Nashville-Riege. Hier unten versuche ich zunächst die gerade Linie von Dolly Parton zu Merle Haggard zu verfolgen. Im nächsten Kapitel geht es dann vom Country über Folk zum (psychedelischen) Rock.

Porter Wagoner
The Carrol County Accident

(RCA Victor, 1969)

Cover – Man beachte die Tränen des reuigen Sünders – oder ist es Schweiss?

Zuerst mal: Das Album MUSSTE ich hier schon alleine deshalb erwähnen, weil das Coverdesign dermaßen ikonisch, klischeehaft und unfassbar stylisch ist, dass es (fast) egal ist, was auf dem Vinyl zu finden ist. Aber – natürlich – Porter Wagoner, seines Zeichens Gastgeber einer immens erfolgreichen Nashville Fernseh-Show, häufiger Duett-Partner der jungen Dolly Parton, schwerer Trinker und stoischer Erhalter fragwürdigster Nashville-Traditionen, ist auch noch ein gewiefter Songwriter und Texter, und dieses – sein 16. Studio-Album, beinhaltet Alles, was Wagoner’s Klasse ausmacht. The Carrol County Accident ist natürlich klassischster Country, unbeleckt von modernistischen Eskapaden oder gar Hippie-Seligkeit (die dürfte der Mann verachtet haben) Dafür werden die Songs um teils recht finstere und wunderbar erzählte Stories.aufgebaut, die Steel schluchzt dazu, die Fiddle tanzt und die Studio-Cracks der Nashville-Kumpanei geben ihr Bestes. So will ich zunächst den Titeltrack erwähnen, einen von Wagoners baldigen Signature-Tunes. Der mag ja ein sehr konservatives Publikum gehabt haben, aber eine so ökonomisch erzählte Geschichte um einen Autounfall, Ehebruch, heimliche Vaterschaft und gesellschaftliche Heucheleien muss man sich in diesen Kreisen erst mal trauen. Und es gibt noch weitere Preziosen: Da ist der Opener „The World Needs Washin‘, gefolgt von „Banks of the Ohio“ – einer Mord-Ballade, die Nick Cave gefallen dürfte, wenn der hier für „Where the Wild Roses Grow“ nicht sogar 1:1 abgekupfert hat: Junge Frau am Flussufer erstechen und dann jammern? Auch „Mother’s Eyes“ ist eine wunderbare Klage über betrügerische Frauen, und mit „Sorrow Overtakes the Wine“ folgt schnell – wie es sich gehört – ein Trinker-Song. Das Verdikt lautet: Porter Wagoner war weit mehr als nur ein singender Country-Weihnachtsbaum.

Dolly Parton
In the Good Old Days (When Times Were Bad)

(RCA Victor, 1969)

Countrymusiker/innen blicken gerne in die Ferne

Und dann muss ich passenderweise die zwei 69er Alben von Wagoner’s Duett-Partnerin Dolly Parton erwähnen. Die ließ sich nicht zwischen Wagoner und den Nashville Oligarchen zerreiben, sondern schuf sich ein eigenes Profil. Sie coverte Wagoner’s „Carol County Accident“ kongenial und landete ebenfalls einen Hit mit dem Song und nahm mit dem Titelsong ihres Albums einen weiteren eigenen Signature Tune auf. „In the Good Old Days (When Times Were Bad)“ wurde von Merle Haggard verfasst und beschreibt eindringlich die Armut der Landbevölkerung des Mittleren-Westens der USA – und ist damit Teil der eigenen Geschichte von Dolly Parton. Den Song nahm sie nicht umsonst 1973 noch einmal für ihr famoses My Tennesse Mountain Home Konzept-Album auf. In the Good Old Days (When Times Were Bad) hat noch andere gelungene Tracks dabei, es ist eines dieser Alben, die nicht nur aus ein bis zwei guten und vielen mittelmäßigen Songs besteht – wenn man sich für die konservative Variante der Countrymusik interessiert. Die Qualität von Parton’s Stimme steht sowieso außer Frage, das Backing ist für diese Zeit, in der die Songs gerne mit orchestralem Bombast überzuckert wurden – erfreulich traditionell. Dass sie Tammy Wynette’s „D-I-V-O-R-C-E“ covert, mag man als vorsichtig femistische Geste (miss)verstehen, aber immerhin… „Mine“ wiederum ist inhaltlich dermaßen unterwürfig, dass mir die Schönheit des Gesang’s und die schluchzende Steel fast nicht aufgefallen wären. Immerhin – wer den traditionellen Stoff mag, wird dieses als wunderbares Album wahrnehmen, das sich gut neben The Carol County Accident macht.

Dolly Parton
My Blue Ridge Mountain Boy

(RCA Victor, 1969)

Enorm billiges Schundroman Cover. Wunderbar

Und noch im selben Jahr veröffentlichte ihre Plattenfirma mit My Blue Ridge Mountain Boy ein zweites Album mit neuem Material. Das ist zwar unbekannter (…in Europa quasi ein weisser Fleck) aber wegen seiner klassischeren Instrumentierung IMO das bessere der beiden Alben. Und natürlich bietet es auch Country-Soap Opera. Es würde noch ein paar Jahre dauern, ehe Dolly sich eine folkige Erdung verpasst (und auch da bleibt immer ein Haufen Nashville-Glamour…) aber dennoch: Eigene Songs wie „Gypsy, Joe and Me“ – bei dem alle drei Protagonisten sterben – müssen sich nicht vor ihrer Interpretation von „In the Ghetto“ verstecken. Porter Wagoner’s Hit „Big Wind“ ist in ihren Händen delikater Country Gospel, „Daddy“ wiederum ist besagte Country-Soap-Opera. Dafür verbrennen bei „Evening Shade“ die armen Waisen das Waisenhaus mitsamt böser Hausherrin. Unnötig zu sagen, dass die Produktion von Bob Ferguson und die instrumentale Umsetzung der Nashville-Elite perfekt ist – und dass Dolly’s Stimme klingt wie ein klarer Gebirgsbach. Irgendwie ist das ja auch schön und genau so wurde Dolly Parton zur Ikone.

Tammy Wynette
Stand By Your Man

(Epic, 1969)

Dieser Blick – diese Frisur.

Mehr? Kein Problem: Da gibt es z.B. Tammy Wynette. Die war eine vergleichbar große Sängerin, die ’69 durch ihre Heirat mit Country-Superstar George Jones zusätzlich noch ein Sensations-Thema in den entsprechenden Medien bot. Ihre Beziehung wurde schnell zu einer Art Soap Opera. Streitereien in der Öffentlichkeit, Eifersucht, Drogen, Alkohol, Versöhnungen und Skandale… Das, was die Yellow Press liebt – geboten von zwei Superstars der populären Musik des Duchschnitts-Amerikaners. In Deutschland ist Tammy Wynette natürlich weit weniger bekannt – sowohl Ende der Sechziger, als auch später – aber ihr Hit „Stand By Your Man“ könnte dennoch auch hier erinnert werden. Eine mit leicht angerauhter Stimme gesungene Hymne an die doch ziemlich fragwürdig bedingungslose Treue zum Mann – egal was der angestellt hat („…after all, he’s just a man“), aber perfekt – weil sparsam genug – aufgenommen vom Studio-Boss Bill Sherrill – der hier noch nicht Alles mit Geigen überzuckert. Dazu ein „Restprogramm“, das eben NICHT abfällt. „It’s My Way“ hatte Wynette schonmal aufgenommen, hier wird der Song noch einmal vergoldet, Das Thema bedingungsloser Liebe zieht sich durch das komplette Album – was es in der Frauenbewegung der damaligen Zeit zu einem roten Tuch machte. Aber das galt für fast jedes klassischeCountry-Album dieser Tage – es sei denn die Künstlerin heisst Loretta Lynn… Und so kann ich dann nur darauf verweisen, dass mit „Forever Yours“ oder dem von ihr selber verfassten „I Stayed Long Enough“ Songs dabei sind, die locker mithalten können. Bei ihr gilt wie bei George Jones oder Dolly Parton: Die Stimme veredelt den größten Kitsch. Denn Kitsch -oder meinetwegen „Schlager“ – ist das hier schon irgendwie.

George Jones
I’ll Share My World With You

(Musicor, 1969)

Er teilt seine Welt mit Tammy Wynette – aber nur auf dem Cover.

Und wen wundert’s jetzt, dass ich Tammy Wynette’s Ehemann (zu dieser Zeit…) George Jones hier erwähnen will und muss? Der hat seit Karrierebeginn jedes Jahr so ca. 6-8 Alben veröffentlicht – den Markt, spätestens seit er ’65 zum Musicor Label seines Entdeckers Pappy Daily wechselte, mit Hits und angeschlossenen (meist sehr kurzen) Billig-Alben geflutet. Nicht unbedingt die beste Entscheidung. Aber lustigerweise entstand dabei dennoch ein ganzer Stapel hörenswerter Alben. Man sagt nicht umsonst, George Jones könnte das Telefonbuch singen – es wäre dennoch große Kunst. 1969 ist er frisch mit Tammy Wynette verheiratet, die Real Live Soap dieser Verbindung geht gerade erst los und er will eigentlich seinen Stil verändern, und wird ’71 zu Bill Sherrill, dem Produzenten seiner Frau und zu Epic wechseln. ’69 veröffentlicht er „nur“ zwei Alben (die jeweils unter einer halben Stunde Spielzeit haben) – von denen I’ll Share My World With You das etwas bessere ist. Auf dem Cover ist Jones mit Tammy abgebildet, aber sie singt nur hier und da Background-Vocals. Es GIBT ein flottes Duett – mit Brenda Carter („Milwaukee Here I Come“), aber mit „When The Grass Grows Over Me“ hört man eine dieser unfassbar toll eingesungenen morbiden Balladen. Thema: Man(n) kommt bis zu seinem Tod nicht über Frau hinweg – ein Topic, das er später mit dem Hit „He Stopped Loving Her Today“ wieder aufnehmen würde. Dann ist da der Titel-Track, der nur Platz 2 in den Country-Charts erreicht, letztlich aber einer seiner vielen Klassiker. Oder man delektiert sich am exzellenten Honky Tonk von „Heartaches and Hangovers“, oder an den ebenso großartig eingesungenen Bad-Ass Tracks „Do What You Think Is Best“ und „When the Wife Runs Off“… Da ist schon im Titel Alles gesagt. Country war zu dieser Zeit textlich oft äußerst fragwürdig, Emanzipation hatte hier kaum stattgefunden.

George Jones
Where Grass Won’t Grow

(Musicor, 1969)

Haare gut gelegt, schicker Anzug, dürre Landschaft. Da ist nirgendwo ein Hippie…

Das zweite Album ’69 war dann Where Grass Won’t Grow – wieder mit einem Titeltrack, den Jones mit unnachahmlicher Emphase singt. Dass die Vater-Tochter Ballade „She’s Mine“ enorm kitschig ‚rüberkommt – geschenkt. Besonders gelungen, weil fast kitsch-frei – die Ballade „Old Blue Tomorrow“ und mit „If Not For You“ immerhin ein kleinerer Hit auf einem Album, das zeigt, dass Jones hier schon in den Startblöcken zu seiner stilistischen Neuorientierung war. Und trotz einer gewissen Halbherzigkeit in der Ausführung kann ich weder I’ll Share My World With You noch Where Grass Won’t Grow schlecht machen. Zuviel Qualität, zuviel George Jones, der Welt zweit-bester Sänger (nach Sinatra…). Man sollte wissen, was zu erwarten ist – manches klingt wie Schlager auf amerikanisch – es IST US-Schlagermusik – aber dieser Stimme kann ich mich nicht entziehen.

Loretta Lynn
Your Squaw Is on the Warpath

(Decca, 1969)

Selbst der dümmste Cowboy sieht hier, dass die Squaw auf dem Kriegspfad ist.

Ich habe sie im Zusammenhang mit Tammy Wynette erwähnt: Loretta Lynn ist nicht nur Wynette’s persönliche Freundin, sie ist auch die (erfolgreiche) Country-Sängerin, die tatsächlich offen ein weibliches Selbstbewusstsein zur Schau stellt – und damit bei bibelfesten Cowboys durchkommt. Immerhin stand die „Coalminer’s Daughter“ von Beginn ihrer Karriere an auf eigenen Füßen und ließ sich in der Country-Macho-Welt nie über den Tisch ziehen. Das Thema „starke Frau“ wurde ganz logisch immer wieder in ihren Hits verhandelt und sie baute sich ein Image auf, das in diesen Kreisen ungewöhnlich war. Anzumerken wäre dabei, dass etliche ihrer Songs von Country-Radio Stationen nicht gespielt wurden… Einem Album den Titel Your Squaw Is on the Warpath zu geben ist da einerseits so plakativ, dass es an Persiflage grenzt, andererseits ist der Titel aber auch so eindeutig, wie für besagte Hörer-Kreise Ende der Sechziger nötig. Und da Loretty Lynn sowohl eine fähige Songwriterin (und Texterin) als auch eine formidable Sängerin mit toller, sehr intensiver Stimme war, war der Erfolg verdient. Es ist wie bei den vorherigen Alben auch – Es gibt den Hit, der alles überstrahlt, den Titeltrack, in dem die Frau ihrem ständig besoffenen Typen die Friedenspfeife verweigert. Lustiger Text, klare Aussage, mit voller Wucht gesungen. Ihre Version von Hank Williams‘ „Kaw-Liga“ ist sehr gelungen, passt sich ihrer Stimme wunderbar an, Tom T. Hall’s „Harper Valley PTA“ ist ein Storie-Song, der perfekt zu ihrem Image passt. Die wütende Mutter, die ihre studierende Tochter und deren lockere Erziehung gegen die Heuchelei ihrer Professoren verteidigt. Und der selbstverfasste Song „He’s Somewhere Between You and Me“ dreht sehr schön die übliche weibliche Opferrolle ins Gegenteil. Alles natürlich in schön kitschigem Country-Sound mit weinender Steel und den Jordanaires als Background-Chor. Dennoch: Noch im selben Jahr veröffentlicht Lynn das Album Woman of the World/To Take a Man – und covert Tammy Wynette’s „Stand By Your Man“. Soviel zum Thema Feminismus.

Charlie Rich
The Fabulous Charlie Rich

(CBS, 1969)

Cover Foto – Al Clayton, der auch Dylan’s Nashville Skyline fotografiert

Charlie Rich wiederum als Countrymusiker zu bezeichnen, greift viel zu kurz. Der Mann hatte schon alles mögliche ausprobiert: In den späten Fünfzigern Rock’n’Roll bei Sun Records, dann R&B, immer ein bisschen Jazz – und inzwischen war er beim Country angekommen. Rich hatte eben eine famose und auch sehr wandelbare Stimme. Man sollte sich seine erste Single – „Whirlwind“ von 1959 – anhören. Elvis hätte es nicht besser gekonnt. Inzwischen hatte Tammy Wynette-Produzent Bill Sherrill ihn zu Epic geholt und ihn überredet, es Leuten wie Jerry Lee Lewis gleichzutun und sich auf dem Country-Markt zu versuchen. Man muss sagen: Der Typ konnte schließlich Alles singen. The Fabulius Charlie Rich ist ein eklektizistisches Album. Produzent Sherrill lässt gerne seinen Countrypolitan-Glitzer über die Songs flittern – und dennoch schafft es Rich mit seiner Stimme alles Überflüssige wegzublasen. Ob beim R&B vom Opener „I Almost Lost My Mind“, ob beim von seiner Frau geschriebenen „Life’s Little Ups and Downs“ – einer Ballade, die Sinatra nicht besser hinbekommen würde, oder ob beim unter Hochspannung stehenden Blues „Bright Lights, Big City – Charlie Rich ist Allem gewachsen. Die Musik ist schlicht geschmackvoll – und wenn der Pomp weggenommen wird – wie bei „July 12, 1939“ – dann wird es richtig toll. Mit diesem Gewicht auf Country-Elemente – aber eben auch mit Jazz und R&B Einflüssen – war das dann wohl für die Country-Gemeinde zu schwierig, für rebellische Jugendliche viel zu altmodisch und für erwachende Outlaw-Country Rebellen viel zu nah an gepflegter Unterhaltung. Also ging das Album unter – was schade ist. Es ist gekonnt, klug gemacht und auf seine Art voller Leidenschaft. Immerhin hat Charlie Rich in ein paar Jahren mit „Behind Closed Doors“ und „The Most Beautiful Girl“ zwei Hits, die ihm einen bequemen Lebensabend finanzieren werden. The Fabulius Charlie Rich ist vielleicht kein purer Country, aber es ist ausserordentlich cool.

Norro Wilson
Dedicated to: Only You

(Smash, 1969)

Wer ist die Frau vor Norro?

Bei meiner Beschreibung zu The Fabulous Charlie Rich stieß ich auf den Songwriter Norris Denton Wilson, aka Norro Wilson. Das von ihm geschriebene „July 12, 1939“ ist einer der schönsten Songs auf Rich’s Album – er selber wurde 1996 zum Mitglied der Nashville Songwriter Hall of Fame – weil er Hits für u.a. Jean Shepard, George Jones, Tammy Wynette oder auch Shania Twain geschrieben hatte. Von ihm selber gibt es tatsächlich nur dieses Eine – zugegebenermaßen ziemlich obskure – Album. Aber wofür mache ich das hier, wenn nicht für kleine Preziosen wie Dedicated to: Only You? Keine Ahnung, warum Wilson nicht mehr gemacht hat, er hatte wohl als Produzent und Songwriter genug zu tun und nicht den Ehrgeiz zu einer anstrengenden Musiker-Karriere. Seine Stimme ist nicht spektakulär, aber er kann mit klarer Stimme sehr gut singen. Und die gewählten Songs sind allererste Güte. „Mama McLuskey“ ist die Urform des Charlie Rich-Welthits „The Most Beautiful Girl“. Seine Version des Platters Klassikers „Only You (And You Alone)“ ist durchaus gekonnt eingesungen. Tatsächlich trägt das Orchester hier und da etwas dick auf – aber ein Song wie „The Great Pretender“ braucht bekanntermaßen Zuckerwatte. „Little Green Apples“ oder „You’re My World“ kennt man eher von anderen Musikern, dabei sind seine Versionen mit einem Touch Soul und einer gehörigen Prise Baroque Pop nicht schlechter. Ganz einfach: Nach Dedicated to: Only You verlegte Wilson sich auf’s schreiben und produzieren, spielte wohl nur noch hier und da mal ein Konzert. Sein „The Grand Tour“ für George Jones ist einer der ganz großen Country-Songs der Siebziger. Wilson’s einziges Album ist schön, man sollte mal danach suchen.

Tom T. Hall
Homecoming

(Mercury, 1969)

Der Staubsaugervertreter sieht weniger rebellisch aus, als er ist.

Der nächste Country-Songwriter. Aber diesmal einer, der ab ’69 auch als Interpret äußerst fleissig war – und etliche sehr gute Alben veröffentlichte, die mit dem einfachen Überbegriff Country nur unzureichend beschrieben sind. Natürlich war die Musik des über 30-jährigen Tom T. Hall auf seinem zweiten Album tief im klassischen Country-Sound verwurzelt – aber die Qualität seiner Lyrics lag weit oberhalb des üblichen Country-Schmalzes. Hall trug den Namen „The Storyteller“ nicht umsonst. Er hatte schon als Kind Kurzgeschichten geschrieben, ehe er Gitarre lernte, er war seit den Mitt-Sechzigern Hit-Lieferant für Dave Dudley und Johnnie Wright – und ’68 hatte er mit „Harper Valley P.T.A.“ einen Nummer 1 Hit für Jeannie C. Riley (der auch von Loretta Lynn gecovert wurde – siehe hier oben…) Hall war der Ansicht, dass es einen Markt für seine Geschichten geben könnte, hatte im Mai ’69 sein Debüt Ballad of Forty Dollars zusammengestellt (das neben ein paar sehr schönen Tracks zu viele Filler enthält) und brachte Ende ’69 schon sein zweites Album auf den Markt. Homecoming ist die bessere Wahl, es ist ein instrumentaler Spaß, weil Produzent Jerry Kennedy seine beträchtlichen Künste an der Dobro beisteuert, weil die Produktion zwar ihrer Zeit gemäß verhallt und mit Streichern versehen ist, das aber den Songs nicht schadet. Das autobiografische „Strawberry Farms“ etwa ist eine sonnendurchflutete Geschichte, „A Week in a County Jail“ ist ein toller Song – sowohl textlich als auch melodisch. „Shoeshine Man“ kommt mit rasanter Mundharmonika und Rock’n’Roll-Rhythmus daher und kann kaum Country genannt werden. „Kentucky in the Morning“ ist feiner Folk-Country mit flottem Fingerpicking. Jeder Song ist ein Hit, hat irgendeinen Twist, der ihn erinnerlich bleiben lässt und Hall erweist sich als zwar nicht virtuoser, dafür aber sehr sympathisch klingender Sänger. Homecoming ist der Auftakt zu einer sehr reichen und charakteristischen Diskorafie. Es lohnt sich, nach seinen Alben zu schauen.

Jerry Lee Lewis
She Still Comes Around (To Love What’s Left Of Me)

(Smash Rec., 1969)

Dieses Cover möchte ich aufnehmen in die Liste mit den besten Story-Sleeves…

Ich bewege mich langsam immer weiter aus dem Sektor der traditionellen Countrymusik heraus in Richtung dessen, was in den Siebzigern als Outlaw Country bezeichnet werden wird. Ende der Sechziger hatte die Karriere der einstigen Rock’nRoll Skandalnudel Jerry Lee Lewis nach ihrem unrühmlich Bruch einen überraschenden Schub bekommen (…der einstige Bürgerschreck hatte damals wie schon oft erzählt seine minderjährige Cousine geheiratet). Mit dem puren Country-Album Another Place Another Time hatte er im Vorjahr den ersten Hit seit fünf Jahren gelandet. Logischerweise ging er nun auf diesem Weg weiter. She Still Comes Around (To Love What’s Left Of Me) ist tatsächlich Anothe Place.. Teil II, Lewis coverte erneut Merle Haggard („Today I Started Loving You Again“) und blieb dem Hardcore Country-Sound treu. Was nicht heißt, dass das Ergebnis schlechter wäre, als der wilde Rock’n’Roll von „Whole Lotta Shakin’“. Lewis hatte mit Country nur eine alte Liebe wieder aufgefrischt. Und mir scheint es, als würde er auf den Country-Alben den Blues des weißen Mannes sogar noch tiefer empfinden. Beim Titelsong klingt er, als würde seine Seele gemartert, „Listen, They’re Playing My Song“ ist voller Reue. Und er hatte auch die Eier, mit „Let’s Talk About Us“ einen Track aus alten Sun-Zeiten neu zu interpretieren und zu countryfizieren. Und wenn ich mir seinen Gesang beim schmalzigen Opener „To Make Love Sweeter For You“ anhöre, meine ich immer noch ein bisschen Wahnsinn zu erkennen. She Still Comes Around… zeigt, dass er – vielleicht sogar mehr noch als Elvis, weil unbeeinflusst von halbseidenen Managern – durchaus noch etwas zu sagen hatte. Den Furor seiner Anfangszeiten würde es zwar nie mehr geben, aber die nun folgende Karriere im Country-Umfeld ist – wenn man die europäische Brille abnimmt – um einiges fruchtbarer. In den folgenden Jahren kamen etliche große Alben zustande – dieses ist eines davon.

Johnny Cash
At San Quentin

(Columbia, 1969)

Cover Foto – Jim Marshall, der Ray Charles, John Coltrane, Judy Collins etc fotografiert hat

Jerry Lee Lewis‘ einstiger Sun- und Rockabilly-Kollege Johnny Cash wiederum spielte inzwischen längst in (s)einer eigenen Kategorie. Er war bekanntermaßen von Dämonen wie Alkohol und Drogen geplagt, hatte schon den Kontakt zur „Subkultur“ aufgenommen, als er Dylan als Gast in seiner Show gehabt und mit ihm auf dessen Country Pastiche Nashville Skyline den Song „Girl From the North Country“ eingesungen hatte. Bei seinem Konzert im San Quentin Gefängnis lobte er Dylan ausdrücklich als einen der größten Songwriter dieser Tage. An diesem 24. Februar ’69 war Cash offensichtlich erkältet, aber dennoch gut in Form. Die Nervosität des Live-Vorgängers At Folsom Prison war einem gewissen Selbstbewusstsein gewichen, die Atmosphäre der Songs heller, das Tempo schneller. Im Vorjahr hatte er seinen Gitarristen Luther Perkins verloren – aber der Ersatzmann Bob Wootten wurde zwar gefragt, ob er diesen oder jenen Song kannte, kam aber mühelos mit. Wobei: Songs wie „I Walk the Line“, „Darling Companion“ (mit Ehefrau June Carter Cash) sind zum Einen doch nicht so kompliziert, zum anderen da schon Kulturgut. Und das legendäre „A Boy Named Sue“ wurde als Single sogar zum Hit auch in den Popmusik-Charts. Cash war schon Ende der Sechziger eine Ikone, At San Quentin zeigt genau wie At Folsom Prison, dass Cash ein begnadeter Performer war, ein Geschichtenerzähler, der sein Publikum – auch wenn oder gerade weil es Knastbrüder sind – um den Finger wickeln konnte. Mir persönlich gefällt At Folsom Prison eine Spur besser, At San Quentin gibt es als CD mit dem kompletten Konzert – das mag die besserer Wahl sein – Cash war offenbar von den zahlreichen Kamere-Leuten genervt, die das Konzert für’s TV festhielten, und er hört sich wirklich arg verschnupft an. Aber dieses Album ist einer von etlichen Klassikern in seiner Diskografie. Mit Countrymusik, die auch Country-Verächter cool finden dürften. Es ist eben Johnny Cash, der „Man in Black“…

Merle Haggard and the Strangers
Pride in What I Am

(Capitol, Feb. 1969)

Finstere Gesellen, eben aus dem Zug ausgestiegen, machen jetzt Musik.

… der erwiesenermaßen auch Merle Haggard zum Musikmachen inspiriert hat. Haggard hatte selber in jungen Jahren in San Quentin eingesessen, war aber durch Musik auf einen (relativ) tugendhaften Pfad gelangt – und galt inzwischen als einer der profiliertesten Songwriter seiner Generation. Allerdings war er nicht in Nashville zuhause, sondern im kalifornischen Bakersfield. Der sog. „Bakersfield Sound“ ist elektrischer, näher am Rock’n’Roll und hat mit Buck Owens und Haggard regelmäßig zwei echte Stars in den Country Charts. Haggard insbesondere war ab Mitte der Sechziger bis weit in die Siebziger auf sehr hohem Niveau enorm produktiv. 1969 gab es ganze vier (!) Alben von ihm, die allesamt hörenswert sind. Im Januar schon hatte er mit seinen Strangers die Song-Kollektion Pride in What I Am veröffentlicht. Ein Album, das musikalisch eine Entdeckung wert ist. Die Strangers waren eine enorm eingespielte Band, Haggard hatte zu dieser Zeit noch eine wirklich gute, charakteristische Stimme, knödelte noch nicht so sehr, wie in den Siebzigern – und Songs hatte er genug zur Verfügung. Was ihn nicht daran hindert, „It Meant Goodbye To Me When You Said Hello To Him“ von seinem Mentor Lefty Frizzell zu covern (den Titel MUSSTE ich zitieren…). Auch der wundervolle „Californie Blues, Blue Yodel No. 4“ vom Country-Pionier Jimmie Rogers aus den Dreißiger Jahren wird gespielt. Den würdigt er noch in diesem Jahr mit einem kompletten Album (siehe unten). Und „The Day the Rains Came“ lässt mich eher an Baroque Pop als an Countrymusik denken. Das Album wirkt wie die Jam Session erfahrener Picker, klingt enorm locker und Hits schienen nicht geplant. Toll ist , was Saitenspezialist Norman Hamlet an Dobro, Steel und Banjo bietet. Das Jahr fing also gut an.

Merle Haggard
Same Train, a Different Time

(Capitol, Mai 1969)

Der Hut stimmt auch mit dem von Jimmie Rogers überein.

Merle Haggard war in dieser Zeit also einer der ganz großen Hit-Schreiber. Seine Alben mögen von Jones- oder Parton-Fans aus moralischen Gründen gemieden worden sein – aber seine Songs wurden von den etablierten Mächten Nashville’s herumgereicht und gecovert. Da schien es auf den ersten Blick eine mutige Entscheidung, ein Doppelalbum (!) mit Songs vom verehrten Vorbild Jimmie Rogers aufzunehmen. Andererseits: Haggard neigte nicht zur Anpassung. Er war – wie Johnny Cash – schon damals ein „Outlaw“. Zumal er mit No.1 Hits wie „I’m a Lonesome Fugitive“, „Branded Man“, „Mama Tried“ und „Sing Me Back Home“ auf einer sicheren Bank saß. Und sein Kumpel Johnny Cash hatte schließlich auch „Konzept“ Alben gemacht. Das wollte er auch – und es kam zu einem Werk, das eindeutig aus Leidenschaft entstand. Jimmie Rogers gilt gemeinsam mit der Carter Family als Begründer der Countrymusik. Er war Ende der Zwanziger bis zu seinem Tod an Tuberkulose 1933 ein echter Star gewesen, seine stilistisch revolutionären Songs und seine sehr persönlichen Texte nahmen Alles vorweg, was Countrymusik später ausmachen würde. Rogers hatte vor seiner Musik-Karriere als Bremser bei der US-Eisenbahn gearbeitet, war ein aus eigener Erfahrung schöpfender Geschichtenerzähler, der authentisch das Leben der Wanderarbeiter und Hobo’s beschreiben konnte. Und seine Einführung des „Yodel’s“ in die amerikanische Volks-Musik ist Stoff für Legenden. All diese Geschichten erzählt Haggard zwischen den Songs, dazu covert er 20 Songs – und keiner ist schwach. Seine eingespielte Band folgt ihm überall hin, das Ganze ist ein Doppel-Album, das in sich völlig stimmig ist. Weil er sich um einen einheitlichen Sound bemüht, gibt es am Ende ein paar Längen, aber mit der Rückbesinnung auf seine Helden führte er den kreativen Teil seiner eigenen Karriere fort – und beeinflusste sicher auch einen ganzen Haufen von ansonsten Countr-fernen US-Musikern. Das Album lohnt sich auch für Leute, die eher Dylan oder modernen Americana bevorzugen.

Merle Haggard
A Portrait of Merle Haggard

(Capitol, Sept. 1969)

Ein Porträt von Merle Haggard, fotografiert von Ken Veeder.

Als Nächstes kam im September ’69 das Portrait of Merle Haggard. Wieder mit zwei Hits – mit „Hungry Eyes“ eine hervorragend erzählte Story über die geliebte Mutter, die ihn ab seinem neunten Lebensjahr alleine aufgezogen hatte – und zugleich ein Song über die Zeit der großen Depression und die Not, die Massen von Menschen zur Abwanderung gezwungen hatte. Merle Haggard mag ’69 ein politisch konservativer Typ gewesen sein, der mit der Hippie Kultur nichts am Hut hatte – aber er formulierte klar seine Sympathien für die Armen, die Hobo’s und die Arbeiterklasse. So wurde dann auch sein „Workin‘ Man Blues“ zum No1 Hit in den Country-Charts. Nur ein absoluter Nerd dürfte all die Haggard-Alben kennen. Aber es ist schon erstaunlich, welche Menge an gelungenen Alben er zwischen seinem Debüt ’65 und ’74 rausgehauen hat. Ob man dieses Portrait… braucht? Ich persönlich bevorzuge Same Train, a Different Time und halte des Live Album Okie From Muskogee für die beste Wahl, wenn man (wie ich) keine Compilation will.

Merle Haggard
Okie From Muskogee

(Capitol, Dez. 1969)

Haggard bevorzugt blaue Hemden

Dieses Live Album kam dann nämlich noch im Dezember ’69 auf den Haufen. Dass die Strangers eine eingespielte Backing-Band waren, sollte klar sein. Das Publikum in Muskogee fraß Haggard aus der Hand – schon weil er ihre Stadt mit dem Single-Hit und Album-Titel berühmt machte. Und dann war der Song auch noch ein böser Kommentar GEGEN die Hippie’s, die gegen den Vietnam Krieg protestierten. Haggard vertrat die Meinung, dass man doch froh sein sollte, wenn junge Leute in Vietnam Freiheit und Demokratie verteidigen. Eine Haltung, die – wie man sich denken kann – in konservativen (Country)-Kreisen vorherrschte. Dass Haggard die unkritische Haltung gegen den Vietnam-Krieg bald ändern würde, soll gesagt werden. Und dass später Bands wie Grateful Dead, die Melvins oder die Flaming Lips diese Charakterstudie der Menschen des mittleren Westens vereinnahmten, will ich auch erwähnen. Ob der Song als Satire gedacht war, bezweifle ich, aber er wurde mit Haggards Zustimmung zu einer solchen. Na ja – und gegen Songs wie „Mama Tried“, „White Line Fever“ oder „Billy Overcame His Size“ ist nicht das Geringste zu sagen. Okie From Muskogee ist eine Charakterstudie, ein Abbild der Countrymusik, wie sie nur ein sturer Outlaw wie Merle Haggard zu machen in der Lage war. Ich hab’s am Anfang gesagt, ich sage es hier zum Schluss: Dies ist die konservative Seite der Countrymusik, die ganz langsam beginnt, auf die Gegenkultur zu reagieren – und die bald von dieser adaptiert wird, um eine Meta-Ebene zu bekommen. Aber es gibt auch damals schon etliche Alben, die man mit offenen Ohren hören sollte.

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