Das Wichtigste aus 1964 – Vietnam-Krieg, Bürgerrechte, Beatlemania und British Invasion – The Beatles bis Eric Dolphy

In den USA wird das das Bürgerrechtsgesetz zur Aufhebung der Rassentrennung durchgesetzt. John F. Kennedy hatte es initiiert und es dauerte Monate, bis der Senat es endlich ratifizierte, die Widerständler kamen natürlich aus den konservativ/religiösen Kreisen der Republikaner und in den Südstaaten bewirkte das Gesetzt eine Stärkung eben dieser Hardcore-Religiösen und des Ku Klux Clan.

In Vietnam greifen kommunistische Vietkong einen Stützpunkt der US Armee an, und es wird beschlossen, dass US-Streitkräfte in den Vietnam Krieg eintreten werden. In der UdSSR kommt es zum Machtwechsel: Nikita Chruschtschow wird aus seinen Ämtern entlassen. In Brasilien kommt es zum Putsch und eine 21-jährige Militärdiktatur beginnt. Und in Alaska kommt es zu einem der stärksten Erdbeben in der amerikanischen Geschichte. Mit dem Jazz-Saxophonisten/Flötisten – und vor Allem dem Genie Eric Dolphy und dem Soul Gesangs Genie Sam Cooke sterben gleich Zwei, deren Zukunft vermutlich golden gewesen wäre, die Beatles sind derweil mit fünf No.1-Hits in den Charts und lassen damit andere Bands weit hinter sich. Die Beatlemania und mit ihr die British Invasion in den USA beginnt und verbreitet sich rasend schnell über den Erdball. Nur die Rolling Stones mit ihrem ersten Album können die vier Liverpooler kurzzeitig von ihren Spitzenplätzen verdrängen. Aber wenn man die Charts außer acht läßt, wird auch deutlich, dass neben den Beatles einiges passiert. Bob Dylan etabliert seine Musik und mit ihm beginnt Folk bei der jungen Generation in den USA weite Kreise zu ziehen. Mit den Ronettes und den Shangri-Las hat der Girl-Group Sound seinen Höhepunkt, Die Beach Boys reiten weiterhin auf der Surf-Welle – und da ist anscheinend mehr Potential als man gedacht hätte. In Country, Blues, Soul und Rock’n’Roll erscheinen etliche beachtliche Platten, die die Initialzündung der Rockmusik der kommenden Jahren vorbereiten – oder besser – sind. Künstlerisch äußerst gewagte Alben sind in diesem Jahr wieder einmal im Jazz zu finden. Auf dem Blue Note Label erscheinen reihenweise Klassiker und Free Jazz ist das große inzwischen etablierte Ding – in den Kreisen die es interessiert und die ihn verstehen – übrigens: In dieser Zeit erscheinen von etlichen Künstlern ZWEI Alben pro Jahr. Wie haben die das bloß gemacht ??

The Beatles
A Hard Days Night

(Parlophone, 1964)

Cover Design: Photographer Robert Freeman

Die Beatles müssen eigentlich ziemlich unter Stress gestanden haben, als sie A Hard Days Night aufnahmen: Sie tourten pausenlos, die Beatlemania begann, und sie wurden von kreischenden Teenagern verfolgt, sie spielten pausenlos für das BBC, traten im Fernsehen auf und nahmen dazu noch diesen sinnfreien Film auf (in Deutschland hieß er allen Ernstes „Yeah, Yeah, Yeah!„), für den das Album als Soundtrack gedacht war. Umso bewundernswerter die Entscheidung alle Stücke hierfür selber zu komponieren – und ein Hinweis auf gewachsenes Selbstbewusstsein. Das Vorgängeralbum With the Beatles war schon ziemlich toll gewesen, aber nun schrieben Lennon/McCartney alle Songs selber und fanden endgültig als Kompositionsteam zueinander. Alles musste – wie damals üblich – schnell gehen und Lennon nannte die Arbeit an den 13 Songs später „Routine auf hohem Niveau“. Tatsache ist, dass selbst Songs, die nicht zu Hits wurden von hoher Qualität waren. Da sind etwa der Titelsong, oder „Can’t Buy Me Love“, oder das folkige „And I Love Her“, aber auch unbekanntere Preziosen wie „Any Time At All“ oder „Things We Said Today“. Songs auf denen andere Bands ganze Karrieren aufbauen würden, die trügerisch simpel klingen und dabei Pop in Perfektion bieten. A Hard Days Night ist vielleicht ihr ausgeglichenstes Album, spätere mögen bekannter sein, viel besser sind sie aber nicht.

Beatles
Beatles For Sale

(Parlophone, 1964)

Cover Design: Photographer Robert Freeman

Im direkten Vergleich ist dann Beatles for Sale am Ende des Jahres ein kleiner Schritt zurück. Womöglich war das Jahr zu anstrengend gewesen, offenbar gab es erste Zweifel an den positiven Seiten des Ruhms – aber das Album schoss natürlich trotzdem mit der Hitsingle „I Feel Fine“ – angeblich mit dem ersten Gitarrenfeedback der Popgeschichte – genauso an die Spitze der Charts wie die vorherigen Werke. Das Material auf dem Album konsolidierte allerdings eher das hohe Niveau,statt innovativ zu sein. Es waren wieder ein paar Rock’n’Roll Klassiker von Buddy Holly, Chuck Berry und Carl Perkins dabei, aber die Songs von Lennon McCartney waren natürlich der real deal. Und da gab es zum Einen das ansteckend fröhliche „Eight Days a Week“ und auf der anderen Seite das folkloristische „I’ll Follow the Sun“ als Highlights. Die Texte waren etwas düsterer als zuvor, („I Don’t Want to Spoil the Party“ und insbesondere „I’m a Loser“) und das ironische „Baby’s in Black“ spielten sie bis ans Ende ihrer Karriere gerne Live. Beatles for Sale kennzeichnet das Ende der ersten Phase der künstlerischen Entwicklung der Beatles. Denn dann kam Rubber Soul

The Rolling Stones
s/t

(Decca, 1964)

Foto – Nicholas Wright – hat mehrere Cover
dieser Art gemacht. Manfred Mann und
Animals z. B.

Ob das erste Album der Stones schon erahnen ließ, dass sie mal die größte Band der Welt werden würden ? Das vielleicht nicht, 1964 überstrahlten die Beatles noch Alles. Aber die Stones waren schon von ihren Anfängen an (Zwei Jahre zuvor) so etwas wie die gefährliche Variante der British Invasion. Die Haare länger, die Attitüde rebellischer, waren sie zu dieser Zeit der Albtraum der Eltern und die spannende Alternative zu den Fab Four. Ihr erstes komplettes Album nahmen sie mit ihrem ebenso jungen wie unerfahrenen Manager Andrew Loog-Oldham quasi Live im Studio auf. Noch spielten sie hauptsächlich Cover-Versionen von ehrwürdigen Originalen wie „Route 66“, „I Just Want to Make Love to You“ oder “I’m a King Bee“ – aber wie sie die spielten! Teils in einem Affenzahn, mit einer Wildheit und mit Mick Jaggers Gesang, der sich immer so cool, angewidert und angeberisch anhört, dass man ihm am liebsten die Ohren langziehen will. Es ist nicht etwa so, dass sie die Originale verachtet hätten – sie waren im Gegenteil große Verehrer der Vorbilder aus den USA – aber sie gaben dieser Musik eine neue, „weiße“ Identität – und waren damit eine Alternative zu den poppigen Beatles, die auch bald in den USA einschlagen sollte. Das Album kam sechs Wochen später mit leicht verändertem Tracklisting in den USA heraus, aber zunächst war England dran: Das Album Rolling Stones No1 kam in England 11 Wochen auf Platz 1 der Hitparade, womit die Beatles erstmals Konkurrenz bekamen. Die ebenso erfolgreiche Single „Not Fade Away“ war nur auf der US- Version des Albums enthalten.

The Rolling Stones
12 x 5

(Decca, 1964)

Ein halbes Jahr später schon wurde in den USA das zweite Album der Stones unter dem Titel 12 x 5 veröffentlicht. Es war als 5-Track EP Five by Five in England erschienen und hatte einfach noch sieben weiter Tracks draufgesetzt bekommen. (Diese seltsame Veröffentlichungspolitik ist immer noch darauf zurückzuführen, dass in England Singles und EP’s als Zugpferde galten). Das Rezept war bewährt: Es gab wieder ein paar beschleunigte Originale, hier mit einer deutlichen Hinwendung zum Soul, ein paar eigene Songs, teils noch verschämt unter dem Pseudonym Nanker/Phelge, teils schon als Jagger/Richards Kompositionen kenntlich gemacht. Insbesondere Chuk Berry’s „Around and Around“ ist äußerst gelungen, dass der Ihnen ein Vorbild war, wird überdeutlich. Die ersten Alben der Stones sind ein großer Spaß, die Band hatte sofort eine eigene Identität und die Musik auf diesen Alben mag gealtert sein – gefährlich klingt sie heute vielleicht nicht mehr – aber es ist kraftvoller Rhythm and Blues – aus dem – wie man weiss -noch weit mehr werden sollte. Unschuldige Anfänge, das…

The Yardbirds
Five Live Yardbirds

(Columbia, 1964)

Dass das erste Album der Yardbirds ein Live-Album ist, liegt zum Einen vielleicht daran, dass Singles das bevorzugte Format waren – zum Anderen waren die Yardbirds aber auch insbesondere Live eine Macht. Sie hatten im Crawdaddy Club 1963 die Stones als Haus-Band abgelöst , hatten den amerikanischen Blues-Harp Meister Sonny Boy Williamson auf dessen Tour begleitet und sie hatten mit dem jungen Eric Clapton einen Gitarristen in der Band, der mit seinen Soli und seinem (damals) sehr harten – heute würde man sagen „punkigen“ – Spiel manche Songs durch instrumentale Kabinettstückchen auf ein höheres Niveau heben konnte. Es war als eine kluge Entscheidung, das LP Format für eine Live Platte zu nutzen. Das Album wurde im Marquee Club aufgenommen, und wer es heute auf CD erwirbt, bekommt meist noch etliche andere Tracks – auch aus dem Crawdaddy – dazu geliefert Natürlich sind hier die für britische Bands üblichen Blues- und Rock’n’Roll-Cover-Versionen versammelt: Zwei mal Bo Diddley („I’m A Man“ und „Here ‚tis“), Über fünf Minuten „Smokestack Lightning“ von Howlin‘ Wolf, mit „Good Morning Little School Girl“ und „Sweet Little Sixteen“ wird Chuck Berry gehuldigt – und das Alles auf hohem instrumentalem Niveau, aber man muss bei der LP auch bedenken: Es war ’64 – Der Klang ist roh und simpel, Soli sind noch eine uneitle und unschuldige Zurschaustellung des Könnens der Musiker und Keith Relf war nicht der beste Sänger seiner Zeit. Five Live Yardbirds ist wild und ungestüm, mit allen positiven und negativen Eigenschaften seiner Zeit. Wer Eric Clapton vor seinem Aufstieg zum „Gitarren-Gott“ hören will, sollte das Album anhören.

Shirley Collins & Davey Graham
Folk Routes, New Routes

(Decca, 1964)

Immer noch Europa – ein weiteres, immens einflussreiches Album, das sozusagen im Alleingang die Entwicklung – diesmal die des Folk-Rock britischer Prägung – vorwegnimmt bzw. beeinflusst hat. Davy Graham war als Folk-Gitarrist in England anerkannt – und seine Verquickung von virtuosem Folk-Picking mit indischer Raga-Musik und Jazz wurde von Puristen mit Argus-Augen beobachtet. Seine Fertigkeiten standen außer Frage, seine Abenteuerlust aber wurde heiß diskutiert – und nun machte er ein Album gemeinsam mit DER Stimme des britischen Folk, mit Shirley Collins. Die wird es sich genau überlegt haben, ihren bislang etwas traditionelleren Ansatz hinter sich zu lassen. Im Grunde war es ihr immer ein Anliegen gewesen, ihre geliebte Folkmusik in die heutige Zeit zu versetzen. Shirley Collins‘ Stimme wird als einer der Schätze Englands beschrieben – völlig zu Recht, ihr klarer, natürlicher und melancholischer Ton hat die komplette Riege der Folk-Rock Sängerinnen von Sandy Denny bis zu den Unthanks beeinflusst, ihre Art des Vortrags klingt im Zusammenhang mit diesen Songs bis heute aktuell – macht das Album alleine schon zeitlos – ganz wunderbar zu hören beim Solo-Gesangsstück „Lord Greggory“. Und das Gitarrenspiel Graham’s dürften sich die Begleiter der oben genannten Sängerinnen allesamt angehört haben – von Bert Jansch bis Jimmy Page. Wie gut Graham war, kann man auf diesem Album auf Solo-Gitarren Tracks wie „Rif Mountain“ oder „Grooveyard“ nachprüfen. Der wahre Schatz aber sind die Traditionals, die sie gemeinsam einspielten: Folk Routes, New Routes beginnt mit „Nottamun Town“ – mit Collins kompetentem Gesang und Grahams rhythmischem Spiel um ihre Stimme herum. Den Song hatte sie bei ihrem USA-Exkurs mit dem Folk-Forscher Allan Lomax in den Appallachen gelernt und seine hintergründige Dunkelheit passt hervorragend zu ihrer melancholischen Stimme. Das nachfolgende „Proud Maisrie“ lebt ebenso vom Kontrast zwischen Collins kontrollierter Stimme und Graham’s alle Regeln sprengendem Gitarrenspiel wie das traditionelle Liebeslied „Hare’s on the Mountain“. Dass dazwischen immer wieder „Solo-Tracks“ der beiden Meister ihres Faches eingestreut sind, könnte man als störend empfinden – wenn etwa nach Collins‘ Solo mit Banjo „The Cherry Tree Carol“ Graham Jazz und Folk bei „Blue Monk“ organisch und virtuos vermischt – aber die Sprünge geben dem Album Charakter und machen es für mich gerade so spannend zu hören. Folk Routes, New Routes startet die progressive Interpretation britischer Folkmusik mit einem mächtigen Knall.

und was ist mit den Vorbildern aus den USA ?

In den USA war Mitte der Sechziger der Stellenwert der Blues-Musiker, die von den Bands der British Invasion reihenweise gecovert wurden ungleich geringer. Bob Dylan wird Muddy Waters oder Chuck Berry gekannt haben, aber elektrischer Blues war dem jungen, weissen und studentischen Publikum vielleicht zu wenig progressiv – zumal es die Musik der Schwarzen war, und die Rassentrennung noch tief in den Köpfen auch der jungen Generation verwurzelt war. Muddy Waters etwa war auf Festivals gern‘ gesehen, aber Plattenverkäufe hatte er in den USA kaum. Und die Riege der Rock’n’Roller war – vereinfacht gesagt – entweder tot oder nicht mehr aktuell – was dazu gehführt hatte, dass Musiker wie Chuck Berry, Jerry Lee Lewis oder Gene Vincent sich nach Europa verdrückt hatten und dort zumindest als Live-Acts überlebten. Zunächst brachten die Beatles den Sound von Liverpool, den Merseybeat in die USA. Dass sie Chuck Berry und Jerry Lee Lewis coverten, aber auch Soul Musik von Leuten wie Sam Cooke spielten, war ihrem neuen Publikum in den USA kaum bewusst, und dass etliche der Songs, die die Stones spielten, tatsächlich von schwarzen amerikanischen Musikern geschrieben worden waren, lernte das junge Publikum erst über den Umweg England. Es mag ja sein, dass Cuck Berry oder Muddy Waters in den USA nicht gänzlich obskur waren – aber sie hatten ihre große Zeit nach Meinung vieler Amerikaner hinter sich. Dabei…. Siehe hier unten!!

Muddy Waters
Folk Singer

(Chess, 1964)

Folk Singer vom Chicago-Blues Veteran Muddy Waters‘ wurde eher „unfreiwilligen“ zu einem Klassiker des Blues. Ende ’63 wurden die Aufnahmen zu einem akustischen Blues-Album von Chess Records anberaumt, weil die am Folk-Boom partizipieren wollte. Währenddessen räumte Muddy Waters in den USA jedoch mit Atavismus und elektrischer Gitarre bei Festivalauftritten und in den Clubs Chicago’s ab, und auch das Publikum im United Kingdom kannte ihn eher mit der Telecaster. Dort hatten die Rolling Stones gerade sein „I Want to be Loved“beschleunigt und als Rückseite ihrer ersten Single ins öffentliche Bewusstsein gehoben. In dieser Situation spielte Waters Folk Singer gemeinsam mit Buddy Guy, Otis Spann, Willie Dixon und Drummer Clifton James fast komplett akustisch ein – wobei der Drummer aus Rücksicht auf den Schlagzeug-Skeptizismus der Folk-Puristen selten zum Einsatz kommt und auch Dixons Standbass untypisch zurückhaltend erklingt. Otis Spanns Piano bleibt sparsam, und nur Buddy Guy’s Gitarre werden hier und da Freiräume zugestanden. Und Muddy Waters klingt hier kaum noch wie auf den anderen Alben der Zeit nach ’60. Er croont, murmelt, hebt kaum die Stimme, sein Gitarrenspiel scheint fragmentarisch, aber gerade die Zurückhaltung gibt er LP eine Intimität, die man von ihm nicht kannte – was dazu führte, dass viele Kritiker und Hörer zunächst nichts mit dem Album anfangen konnten und es als „erzwungene“ Verbeugung vor der Folk-Gemeinde bezeichneten. Inzwischen kann man es natürlich als weitere Facette seiner Kunst erkennen, mit Songs wie „My Home is in the Delta“ zeigt Waters, dass er das, was John Lee Hooker in dieser Zeit so perfekt beherrscht auch konnte, dass er nicht nur die Kompetenz für akustischen Delta-Blues hatte, sondern da auch eine ganz eigene Stimme hätte – wenn er da weitergemacht hätte. So blieb Folk Singer eine Ausnahme

Chuck Berry
St. Louis To Liverpool

(Chess, 1964)

Nun – DER Titel ist ja dann Programm… Chuck Berry hatte für mehr als zwei Jahre – bis Oktober ’63 – in den USA im Gefängnis gesessen. Wegen angeblicher „Entführung“ einer Minderjährigen in einen anderen Bundesstaat. (Er widersprach dieser Anklage immer!). Als er danach wieder begann, Musik zu machen, war der Rock’n’Roll -Zug in den USA regelrecht entgleist und die meisten Mit-Konkurrenten aus den Fünfzigern hatten sich nach Europa verzogen. So ist es nicht verwunderlich, dass Berry ebenfalls zunächst in England seine größten Erfolge hatte und so ist der Titel St. Louis to Liverpool wohl bezeichnend. Allerdings ist diese LP schlagender Gegenbeweis zur These, dass Chuck Berry mit dem Aufstieg seiner Bewunderer – wie zum Beispiel den Beatles und den Stones – auf einem absteigenden Ast gewesen wäre. Ganz im Gegenteil, denn auf diesem Album ist das Songmaterial durchweg hervorragend und die LP gespickt mit Songs, die man irgendwann allgemein mit Chuck Berry verbinden wird. „Little Marie“ – ein Sequel zu „Memphis, Tennessee“ oder „No Particular Place To Go“ stehen den Hits aus den 50ern in nichts nach, auch die poppigere Seite von Chuck Berry ist mit guten Songs wie „You Two“ vertreten, und „Things I Used To Do“ hat wieder einen dieser unverwüstlichen Killer-Gitarren-Breaks. Es ist überdeutlich erkennbar, warum vor Allem Keith Richards von den Stones ihn verehrte. Dass Berry mit dieser Musik wieder nicht den ganz großen Erfolg einfahren konnte – den er verdient hätte – liegt nicht an mangelnder Qualität, es ist eher eine Mischung aus Ressentiments wegen seiner Hautfarbe und der Tatsache, dass er als „Begründer“ des Rock’n’Roll seltsamerweise als altmodischer angesehen wurde, als die jetzt in Europa „hippen“ alten Bluesmusiker. St. Louis to Liverpool kann sich mit den After School Sessions messen.

Jerry Lee Lewis
Live at The Star Club Hamburg

(Philips, 1964)

Nun also ein letztes Wort über die Rolle der Rock’n’Roller der ersten Stunde -und ich muss die Fakten auch für den wilden Mann des Rock’n’Roll wiederholen. Jerry Lee Lewis war 1964 in den USA – ähnlich wie Chuck Berry – Persona non grata. Weil er -schlimmer noch als Entführung einer Minderjährigen – als „Weisser“ seine minderjährige Cousine geheiratet hatte – weil er ein unbeherrschter Bürgerschreck war – und weil er auch anscheinend nicht bereit gewesen war, sich der „Befriedung“ des Rock’n’Roll in den USA anzupassen. Er hatte dementsprechend seit Jahren keine Hits mehr in den Staaten und die aktuellen Trends in den USA und der Beat aus Europa hatten seine Art Musik zu machen scheinbar überholt – auch wenn insbesondere Bands wie die Beatles durchaus seine Songs im Programm hatten. So trat ein anscheinend angeschlagener Lewis an einem denkwürdigen Abend im April ’64 im Star Club in Hamburg auf – an einem Ort, der zwar wenig glamourös war, an dem aber auch die Beatles schon gespielt hatten. Lewis kam in Begleitung der Nashville Teens und mit einem Programm aus den Hits der besten Jahre seiner Karriere. Er spielt „Great Balls of Fire“, „Long Tall Sally“, den „Mean Woman Blues“ und natürlich „Whole Lotta Shakin‘ Goin On“ – aber das er mit einem Furor, mit einer Kraft und Wut, die vielleicht wirklich dem Frust der vergangenen Jahre geschuldet wart. Dass er auch Hank Williams‘ „Your Cheatin‘ Heart“ coverte, weist schon auf die kommenden Jahre und die Karriere im Country-Fach hin. Aber hier haute er dermaßen in die Tasten – traktierte das arme Klavier buchstäblich mit Handkantenschlägen – dass einem das Instrument nur leid tun konnte. Das Ergebnis war Rock’n’Roll in seiner härtesten Form, so wie er immer klingen wollte, und schon aus diesem Grund klingt Live at The Star Club Hamburgnicht etwa aus der Zeit gefallen, sondern tatsächlich zeitlos.

Bob Dylan
The Times They Are A-Changin‘

(Columbia, 1964)

Cover Shoot: Barry Feinstein –
der auch das Toiletten Cover von Beggars Banquet
von den Stones schießen wird…

Es mag ja eine der Platten sein, die neben ihren Nachfolgern verblasst, denn The Times They Are A-Changin‘ steht auf der einen Seite noch klar in der Tradition der Protestsongs von Dylans‘ Vorbildern. Aber er nahm auch hier wieder – im Gegensatz zu vielen Folkies aus der Szene in NY – mit großem lyrischem Geschick aktuelle Bezüge auf. Und es ist Dylans erste LP, auf der er alle Songs selber geschrieben hat, eine der Platten, bei der die Klassiker so großartig und bekannt sind, dass der Rest der Songs etwas verblasst. Da ist der sloganhafte Titelsong, da ist „With God on Our Side“ und „Only a Pawn in Their Game“ – erstaunlich unverschlüsselte Kommentare zur gesellschaftlichen Situation -, „Boots of Spanish Leather“ wurde zu einem von Dylans Trademark-Songs und „The Lonesome Death of Hattie Carroll“ kommentiert in der Tradition der „Topical Songs“ den Mord an einer schwarzen Bardame durch einen weißen Tabakfarmer in den Südstaaten im Jahr ’64. Bei Dylan bekommt der Mörder lebenslänglich; im wahren Leben erhielt er lediglich eine 6-monatige Gefängnisstrafe. Dylan etwickelte sich immer mehr zur moralischen Instanz. Nicht unbedingt gewollt übrigens…

Bob Dylan
Another Side of Bob Dylan

(Columbia, 1964)

Und mit Another Side of … aus dem selben Jahr ging Dylan dann noch einen Schritt weiter, und verschreckte damit erstmals wirklich die konservativere Folk-Gemeinde, die teilweise lieber sklavisch an den alten Vorbildern festhalten wollte. Zum einen waren da diese Texte: Sie behandelten auf diesem Album vermehrt die Liebe – oder wurden sogar surreal und absurd. Dazu kam eine immer größere Variationsbreite in der musikalischen Umsetzung. Noch war die Musik zwar nicht elektrifiziert, aber der tradierte Folksong wurde immer mehr gebogen und verfremdet. Und alle Kritik musste doch verstummen vor den wieder hervorragenden Songs, – auch auf Another Side… (meinem Lieblings-Album dieser Phase…) gibt es etliche Klassiker: Da sind zum Beispiel „It Ain’t Me“, „All I Really Want to Do“ oder „Chimes of Freedom“. Songs die nicht nur in ihrer Generation schnell zum Allgemeingut wurden. Was die LP von ihrem Vorgänger unterscheidet und sie zu einem meiner Favoriten macht, ist ihre stilistische Geschlossenheit. Das Qualitätsgefälle zwischen den einzelnen Songs ist gering, die LP klingt intim und unangestrengt. Das ist den Themen geschuldet, dokumentiert aber auch die rasante Entwicklung Dylans…. Eine Platte, die nur vor dem, was noch kommen würde, verblasst.

Woody Guthrie
Dust Bowl Ballads

(Smithsonian Folkways, 1964)

Warum eine Compilation mit Folk Songs aus den 30ern/40ern als wichtiges Album für 1964? Natürlich weil sein Schüler Bob Dylan sich auf ihn bezieht, wie auf keinen anderen… Woody Guthrie war in der Zeit, als die Dust Bowl Ballads erschienen, schon schwer an Chorea Huntington erkrankt. Tatsächlich besteht das Album aus Songs, die Guthrie in den 40ern aufgenommen hatte – aber genau das sind die Songs die Musiker wie Dylan – später aber auch Springsteen oder Joe Strummer von The Clash – beeinflusst haben und die all das haben, was die Folkszene der Bürgerrechtler der Coffee-House Szene 1964 hören wollte. Woody Guthrie war in dieser Zeit ein Vorbild für diese Musiker, Bob Dylan hatte ihn am Krankenbett besucht, seine Songs gehörten zum Repertoire vieler Folkies – „This Land Is Your Land“ galt in linken Kreisen der USA als einzig akzeptable Hymne auf die Heimat, Guthrie’s Slogan auf seiner Gitarre „This Machine Kills Fascists“ war legendär. Tatsache ist aber auch, dass sich die Songs in Wenig von dem unterscheiden, was Dylan oder Dave Van Ronk zu Beginn der Sechziger spielten. Flotte oder sanfte Akustik- Gitarrenbegleitung zu Songs, die irgendwo zwischen Folk und Blues ihre Wurzeln haben. Dazu die gewitzten, erzählerischen Texte Guthries. Klar drehen sich die Dust Bowl Ballads hauptsächlich um Geschehnisse und Menschen der tragischen Zeit in den 30ern, als schwere Staubstürme die Bauern in den großen Ebenen des Mittelwestens zur Landflucht und in existenzielle Not zwangen. Dabei konnte Guthrie zum Einen aus eigener Erfahrung erzählen, nach dem Motto: „All you can write is what you see…“, und er hatte zum Zweiten den Vorteil, ein wunderbar unsentimentaler und glaubwürdiger Erzähler mit einer gehörigen Prise Humor zu sein. Dies war das Vorbild für Dylan und Konsorten, und Songs wie „Tom Joad“, der „Dust Pneumonia Blues“ (sic) oder etwa „Vigilante Man“, das u.a. Johnny Cash bald covern würde, klingen in ihrer Einfachheit 1964 ausgesprochen aktuell. Songs in einem Sound, der tatsächlich zeitlos ist!

The Ronettes
Presenting the Fabulous Ronettes Featuring Veronica

(Philles, 1964)

„Veronica“ – aka Veronica Bennett – mag nicht unbedingt Phil Spectors beste Sängerin gewesen sein, aber mit der Geschwister/Gesangsgruppe Ronettes ist dieser geniale Produzent und gefährliche Psychopath seiner Vision des perfekten Pop-Songs wohl am nächsten gekommen. Lead-Sängerin Veronica Bennett, ihre ältere Schwester Estelle und Kusine Nedra Talley füllten wohl gerade durch einen gewissen Mangel an „souligen“ Emotionen im Gesang das gesamte Spektrum der Teenage-Angst von überglücklich bis zu hoffnungsloser Verzweiflung aus. Die „Uuuuuh’s“ und „Aaaaah’s“ der Schwestern im background klingen oft schlicht wie ein weiteres orchestrales Element. Und Veronica hört sich oft verzweifelt genug an – aber auch immer ein bisschen „bemüht“ – was sie wiederum überzeugend jung scheinen lässt. Nun – sie WAR jung. Gerade 21 jahre alt. ’64 war sie heimlich mit Keith Richards liiert – die Ronettes hatten die Stones in die Staaten eingeladen. Aber bald würde Veronica Bennett – dann Ronnie Spector – Phil Spector ehelichen, der sie jahrelang auf’s übelste misshandeln und ausnutzen würde… die Geschichte dahinter ist eine tragische. Tragischer noch, als die Musik auf diesem Album. Die wurde mit einem enormen und sicher auch genialen Sound versehen, bei dem Schichten über Schichten von Orchesterklängen und verhallten Drums übereinandergelegt wurden. Aber vor Allem sind auf Presenting The Fabulous Ronettes mit „Be My Baby“, „I Love You“, „(The Best Part of) Breakin‘ Up“ und „Walking in the Rain“ einige der größten Hits der 60er versammelt. Und das Album ist ein echtes Meisterwerk, weil auch die unbekannteren Songs perfekt erzähltes Brill-Building Songwriting sind. Traurig nur, dass dies das einzige richtige Album der Ronettes blieb. Hier hört UND sieht man, was etliche Girl-Groups und die große Amy Winehouse in kommenden Jahrzehnten beeinflusst hat….

Stan Getz & João Gilberto
Getz/Gilberto

(Verve, Rec. 1963, Rel. 1964)

Jazz… auf dem Back-Cover zum Mega-Erfolgsalbum Getz/Gilberto wird die Ziellosigkeit und Arroganz der Jazz-Szene beklagt… die „verzweifelte Suche nach Innovation“ ist seit ein paar Jahren tatsächlich ein Phänomen. Ob „Verzweiflung“ dabei der richtige Begriff ist, muss ich hinterfragen, wenn ich Alben wie das hiernach folgende Out to Lunch höre. Aber ja – Jazz wurde in dieser Zeit zu einem hermetischen Genre, dem ein „populäres“ Album wie Getz/Gilberto etwas sehr schönes entgegensetzte. Der „Stil“ dieses Albums hat sich als erstaunlich zeitlos erwiesen. Die Vermischung von brasilianischem Bossa Nova und smooth Jazz wie ihn Stan Getz mit seinem unnachahmlich coolen Saxophon herstellte, war extrem stilvoll, innovativ und vor Allem Balsam für alle Sinne…. gewiss auch für die gestressten Ohren mancher Free Jazz-Forscher. Stan Getz hatte sich mit dem brasilianischen Bossa Nova Komponisten und Gitarristen João Gilberto und dessen Kollegen, dem Pianisten Antonio Carlos Jobim zusammengetan und setzte deren sonnenduchflutete, mit Liebe aufgeladene Songs in ein Jazz-Setting. Man sieht bei Tracks wie „Desafinado“ regelrecht die Sonne am Strand in Rio untergehen. Man hört bei den beiden von João Gilberto’s Frau Astrud gesungenen Klassikern „Corcovado“ und vor Allem bei „The Girl from Ipanema“ das Meer rauschen, die Eiswürfel in den Drinks klickern und man sieht schöne Frauen und Männer zu den sanften Samba-Rhythmen tanzen. Das Saxophon von Getz ist bewundernswert in seiner Lässigkeit. Der Mann hatte einen Ton, der in dieser Zeit, in der man am Saxophon sonst üblicherweise ausrasten musste, aussergewöhnlich war. Und dass die beiden Bossa Nova-Genies Jobim und Gilberto solche Musik angesichts des damals herrschenden diktatorischen Regimes in Brasilien schaffen konnten, ist ebenso bewundernswert. Es gibt ihren Songs eine Meta-Ebene, die sie weit über die „Unterhaltungsmusik“ hebt, mit der man diesen Samba-Jazz oft verwechselt. Spätestens mit Getz/Gilberto gelangte brasilianische Musik auf die Karte der Populärmusik.

Eric Dolphy
Out to Lunch

(Blue Note, 1964)

Cover: Reid Miles – beachte, dass es kein Abbild
des Künstlers gibt…

Out to Lunch, das letzte Studioalbum Dolphy’s vor seinem tragischen Tod an nicht erkannter Diabetes, ist ein Free-Jazz Abum, das so emotional, wild, dann wieder ruhig, spannend und inspiriert klingt, dass es alleine reichen sollte, dieser Musikform eine breitere Akzeptanz zu verschaffen – abgesehen davon, dass es Dolphy in eine Position setzt, die ihn direkt neben Musikern wie Coltrane, Coleman oder Hancock positioniert. Er hatte in den Jahren zuvor mit allen namhaften Jazzgrößen von Mingus bis Coltrane zusammengearbeitet, er hatte alle Ecken seiner Musik ausgetestet – soweit das seine „Arbeitgeber“ zuließen – und die ließen ihm oft eine Menge Freiraum, weil er so ein hervorragender Saxophonist/Klarinettist/Flötist war. Und er hatte beim Manifest zum Free Jazz – dem ebenso betitelten Album von Ornette Coleman, einem der beiden „Quartet’s“ vorgestanden. Aber seine Alben als Leader waren bisher noch tastende (allerdings enorm hörenswerte…) Versuche in free-jazziges Neuland gewesen. Auf Out to Lunch nun ließ er seine Version von „freiem“ Jazz wirklich frei fliegen. Die Rhythmen sind teilweise so vertrackt, als gäbe es keine Regeln, bei „Gazzelloni“ steuert er ein Flötensolo bei – im Jazz nicht unbedingt der Normalfall, „Something Sweet, Something Tender“ ist genau das… nur eben mit Verzicht auf die üblichen Regeln der Harmonie. Natürlich hatte er mit dem gerade 18-jährigen Drummer Tony Williams, dem Trompeter Freddie Hubbard und dem Bassisten Richard Davies kongeniale Mitstreiter an seiner Seite, die die Freiheit die er ihnen gab dankbar annahmen, aber entscheidend war bei Out to Lunch (heißt laut Wikipedia nicht nur ‚raus zum Mittagessen, sondern ist auch ein Slangausdruck für durchgeknallt) Dolphy’s Vision von Jazz.

Eric Dolphy
Last Date

(Fontana, 1964)

… die er dann 27 Tage vor seinem Ableben im niederländischen Hilversum bei einem Konzert präsentierte. Last Date ist nicht wirklich sein letztes „Date“, er spielte eine weiteres Konzert nur wenige Tage vor seinem Tod, aber das ist nur für Erbsenzähler von Belang. Dieses Live- Album beginnt mit seiner Version von Monk’s „Epistrophy“ auf der Bass-Klarinette, mit einem Riff, das als Hip-Hop-Sample prädestiniert wäre, was auch für den Standard „You Don’t Know What Love Is“ gilt. Hier spielt Doplhy Flöte, so wie es vor und nach Ihm keiner getan hat. Höhepunkt ist die Eigenkomposition „Miss Ann“ mit einer Passage, in der man Dolphy’s Stimme hört, ansonsten spielt er hier Alt-Saxophon und man erkennt, warum ihn John Coltrane nicht nur menschlich so hoch schätzte. Dass die Begleiter – Pianist Misha Mengelberg, Bassist Jacques Schols, und Drummer Han Bennink seinem Anspruch gewachsen sind, zeigt, dass auch in Europa eine fähige Generation von Jazzmusikern herangewachsen war. Wer einen Beweis braucht, dass Dolphy auf gleicher Höhe mit den ganz Großen agierte, muss nur diese beiden Alben hören. Sein Tod war eine Tragödie. Und wenn man jemanden zum ersten mal in die abenteuerlichen Gefilde des Free-Jazz weisen will, dann sind diese beiden Alben ein sehr guter Einstieg.

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