Das Wichtigste aus 1960 – John F. Kennedy, Psycho und Lukas der Lokomotivführer – Elvis bis Hank Mobley und wer ist RVG?

In den USA gewinnt John F. Kennedy die Präsidentschaftswahlt – mit ihm beginnt eine etwas „demokratischere“ Phase in der Geschichte des Landes. So kommt es in diesem Jahr zum Beispiel zum ersten Protest – einem Sit-In – von schwarzen Amerikanern gegen Diskriminierung….

In den USA kommt die Anti-Baby Pille auf den Markt und ist direkt ein Renner – zum Entsetzen der konservativen Kräfte in den USA. In Afrika werden 18 (!) ehemalige Kolonien in die Unabhängigkeit entlassen. Die OPEC (Organisation Erdölproduzierender Länder) wird gegründet. Als erste Lebewesen werden die Hunde „Belka“ und „Strelka“ von den Sowjets in den Weltraum geschossen. Hitchcocks „Psycho“ kommt in die Kinos und Michael Ende’s Lukas der Lokomotivführer kommt in die Buchläden. Bei einem Erdbeben in Marokko kommen bis zu 15.000 Menschen ums Leben. 1960 ist das Geburtsjahr von Michael Stipe (R.E.M.) und Paul David Hewson – auch bekannt als Bono (U2). Bei einer Tour in England stirbt Eddie Cochran und Gene Vincent wird schwer verletzt. In St. Pauli tritt eine kleine Band namens The Beatles auf. Elvis Presley hat derweil seine Militärzeit beendet und kehrt in ein Amerika zurück, in dem Rock’n’Roll von „leichtgewichtigeren“ Musikern wie Bobby Darin und den Everly Brothers weich gespült wird. In England gibt es derweil mit Cliff Richard und Billy Fury ein paar recht selbstbewusste Kopisten. Die wirklich gute (= abenteuerliche) Musik ist zur Zeit der Blues und – wie schon länger – Jazz in diversen Spielarten. Hier geht’s immer mehr Richtung „Avantgarde“, während etliche der alten Bluemusiker nun im LP-Format reüssieren. 1960 ist auch ein recht gutes Jahr für Country, mit tollen Alben von Johnny Cash und George Jones. Und Ray Charles setzt seine Erfolge fort und James Brown erscheint auf der Szene. Alle in Allem ist zwar einiges Los, aber wie sehr sich die Musikwelt – gemeinsam mit der Gesellschaft – in den Sechzigern verändern wird, dass dieses Jahrzehnt letztlich DIE Dekade der Rockmusik werden wird,ist noch nicht absehbar. In den Charts des Jahres 1960 prominent, mir aber aus persönlichen Geschmacksgründen zu unwichtig erscheinen: Bobby Vee, Connie Francis, Paul Anka (immer noch) und vor Allem – Lolita mit ihrem dollen Hit „Seemann, deine Heimat ist das Meer“. Als hätte es dieser Information bedurft.

Elvis Presley
Elvis Is Back

(RCA, 1960)

Um ein Review aus dem Rolling Stone zu zitieren: “…Elvis starb nicht erst jetzt, sondern schon als er zur Army ging”. So sprach John Lennon 1977. Ein flott formuliertes Verdikt, das politisch und moralisch Sinn machen mag, im Hinblick auf den musikalischen Output des King allerdings lachhaft ist…“ Es ist richtig, dass Elvis sich allzubald den Wünschen seines Managers fügte, und seine Karriere (immerhin mit glorreichen Ausnahmen) im Film- und Las Vegas Unterhaltungs-Business versanden ließ. Aber als er im März ’60 die Armee verlassen durfte, war er offensichtlich noch hungrig und kreativ genug, ein Album von höchster Qualität ‚rauszulassen. Die Erwartungen seiner Fans waren allerdings auch riesig. In den letzten zwei Jahren hatte sein Manager Col. Tom Parker schlau einige der als Reserve aufgenommenen Tracks als Singles veröffentlicht, um das Interesse wach zu halten. Compilations mit diesen Singles hatten den wachsenden LP-Markt bedient – zugleich aber schien Rock’n’Roll auf dem absteigenden Ast. Umso erstaunlicher daher, dass sich Elvis Is Back! tatsächlich zum Hit entwickelte. Bei den Sessions im legendären Sudio B in Nashville bewies der 25-jährige, dass er auf der Höhe seiner Kunst war. Die Gesangsleistungen sind himmlisch, er meistert einen Katalog aus unterschiedlichstem Material – ob Schnulzen wie „I Will Be Home Again“, flotten Rock’n’Roll wie „Dirty Dirty Feeling“ oder ein unheimliches Wasweissich wie „Fever“ – nur mit Bass und Fingeschnippen als Begleitung. Dass er nicht nur singen konnte, sondern auch als Arrangeur des klug gewählten Materials seine Meriten hatte, wird manchmal ausser acht gelassen. Natürlich hatte er wieder die besten Musiker um sich versammelt: Scotty Moore (g), Bobby Moore (b), Pianist Floyd Cramer – einer der Architekten des Nashville Sounds, die Jordanaires als Background Chor. Aber die hätten Nichts genutzt, wenn der King nicht geliefert hätte. Man kann beklagen, dass Elvis Is Back! Im Vergleich zu den ersten beiden Alben von ’56 zu glattgebügelt, zu wenig Rock’n’Roll ist – aber die Zeiten hatten sich geändert – und Elvis machte mit der eklektizistischen Songauswahl das Beste aus den aktuellen Trends. Und wenn er bei Tracks wie dem Album-Closer „Reconsider Baby“ – in einem Take aufgenommen – mal so richtig die Zügel schiessen ließ – dann war er wieder „der King“. Schön, dass dieses Album auch neben den bekannten Singles tolle Tracks wie „Such a Night“ bereit hält: Ein eigentlich leichtgewichtiger Drifters Hit, den Elvis sexuell auflädt, dass es nur so knistert. Es gibt Leute, die Elvis Is Back! als sein bestes Studio-Album bezeichnen. Solche Bewertungen machen IMO wenig Sinn, weil Elvis Presley und Elvis von ’56 als Reaktion auf eine bestimmte gesellschaftliche Situation entstand und Elvis Is Back! auf eine andere Situation reagierte. Dass in beiden Fällen die Reaktion zu tollen Ergebnissen führt, ist entscheidend.

Eddie Cochran
The Eddie Cochran Memorial Album

(Liberty, 1960)

Während Elvis‘ Auszeit bei der Army war der Rock’n’Roll in den USA also ins Hintertreffen geraten, einige andere Protagonisten waren entweder gestorben (Buddy Holly, Richie Valens), oder hatten ein neues, begeisterteres Publikum in Britannien gefunden. Aber auch dort sollte das Schiksal zuschlagen: Eddie Cochran war auf der gemeinsamen England-Tour mit Gene Vincent im Frühjahr dieses Jahres bei einem Autounfall umgekommen. Was für ein Verlust das für die Musik war, würde allerdings erst später bewußt wahrgenommen werden. Tatsache ist, dass die Wertschätzung für Cochran’s Musik bis heute immer noch weit hinter ihrer Bedeutung liegt. Zu Lebzeiten hatte er es nur auf ein paar – allerdings recht erfolgreiche – Singles gebracht. Songs, die später einen gewaltigen Bekanntheitsgrad erreichten, und die posthum auf diversen Compiltions immer wieder aufs Neue versammelt wurden. Songs wie „Summertime Blues“ oder „C’mon Everybody“, wurden später von The Who, Blue Cheer und Anderen immer wieder gecovert. Die wenige Monate nach seinem Tod zusammengestellte CompilationThe Eddie Cochran Memorial Album zeigt einen Musiker, der als Komponist seiner eigenen Songs glänzte – wie gesagt zu dieser Zeit eher unüblich – der ein hervorragender Gitarrist und Sänger war, der die damalige Studiotechnik kreativ nutzte. So arbeitete er hier schon mit Overdubs. Ein fantastischer Musiker, der mit gerade mal 21 Jahren viel zu früh gestorben war und dessen Alben/Songs bis heute durch ihre Reduziertheit erstaunlich zeitlos klingen. Dass auch hier die unbekannteren Tracks locker mit den bekannten Hits mithalten können, mag als weiterer Hinweis uf Cochran’s Klasse herhalten. Hör die nur „Cut Across Shorty“ oder „Tennage Heaven“ an.

Cliff Richard
Me and my Shadows

(Columbia, 1960)

Wie weiter oben gesagt: In England war mit einer gewissen Verspätung auch diese Seuche namens Rock’n’Roll ausgebrochen, und ein paar junge Musiker begannen auf mehr oder weniger authentische Weise, den Vorbildern aus den USA nachzueifern. Erster – und am erfolgreichsten damit – war damals (das mag heute unglaublich erscheinen…) ein gewisser Cliff Richard mit seiner Band, den Drifters. Ursprünglich ein juveniles Abziehbild des rock‘n‘rollenden Elvis bis hin zu Koteletten und frenetischem Hüftwackeln, pendelte der in den Jahren 1960 bis 1963 beständig zwischen seinem Teenie-Boy Credo der Fifties und jenem harmlosen Teen-Idol-Appeal, der sich später so mühelos in fades, fadenscheiniges Family-Entertainment verwandeln sollte. Zu Beginn des neuen Jahrzehnts ließ man ihn noch einmal ganz nach eigenem Gusto agieren, nur begleitet von seiner gerade in The Shadows umgetauften Backing Band (Die US-Drifters hatten sich beschwert), und frei von Norrie Paramors oft syrupartigen Streicher-Arrangements. Fünf Jahre später würde Richards beginnen zu frömmeln, acht Jahre später macht er sich beim Eurovision Song Contest zum Affen, 36 Jahre später wurde er von der Queen geadelt, aber 1960 hatte er die besten Songs und die beste Band diesseits des Atlantik und die perfekte Stimme für Popmusik, denn nichts anderes ist Me And My Shadows: furioser, knalliger, protobritischer Twang-Pop, der lediglich vom weiter unten reviewten Billy Fury noch getoppt werden sollte… ein Album mit einem überragenden Cliff Richard, der aber nach diesem Album wie gesagt keine Bedeutung mehr hatte.

Roy Orbison
Sings Lonely And Blue

(Monument , 1960)

Roy Orbison begann seine Karriere zusammen mit Elvis Presley, Johnny Cash, Jerry Lee Lewis und Carl Perkins bei Sun, hatte dort ein paar kleinere Hits und wechselte dann – ähnlich wie Elvis – zunächst zu RCA, wo er allerdings nur eine einzige Single veröffentlichte. Danach ging er zum Monument-Label, und betonierte dort seinen Stil, seine Frisur, sein Image – und damit seinen Erfolg. Er kam also auch aus der Country/Rockabilly Tradition, aber bei Monument drehte er seine Musik ganz den Zeichen der Zeit entsprechend Richtung Pop. Wobei es immer seine einzigartige Stimme bleiben würde, die ihn von den Zeitgenossen und von allen anderen Musikern unterscheiden sollte. Klar, kraftvoll, und mit einer überwältigenden Range, war sie für bombastischen Pop wie gemacht – hätte bei schnödem Rock’n’Roll vielleicht sogar fehl am Platz gewirkt und konnte Tragik und Tiefe so gut transportieren, dass es irgendwie immer logisch erschien, dass sein Leben voller Kalamitäten verlaufen sollte. 1960 freilich waren diese noch nicht abzusehen. Lonely and Blue war sein erstes komplettes Album, beinhaltet die übliche Zusammenstellung von Hits und Coverversionen der angesagten Songs der Saison – mal mehr, mal weniger gelungen. Orbison gilt als Singles-Künstler – nicht zu Unrecht – aber die LP’s aus dieser Zeit haben einen eigenen Charme – auch und gerade wegen der „schlechteren“ Songs. Auf Lonely and Blue sind eben auch Perlen wie sein erster großer Hit, „Only the Lonely“ zu finden, eine frühe, weniger erfolgreiche, aber nicht minder berührende Single titels „I’m Hurtin’“ und Songs wie „Blue Angel“, Blue Avenue“ und „Cry“…. da ist in den Titeln ja schon alles gesagt. Tragik, Dramatik, dazu Orbisons Outfit in schwarz, noch nicht (!) mit schwarzer Sonnenbrille aber mit schwarzem Haar – es gibt dezentere Images, aber es gibt auch schlechtere – und in den USA war Heino unbekannt. Lonely and Blue sowie die beiden nachfolgenden Alben – vor Allem das ’63er Album In Dreams – gehören in den Kanon der Popmusik, aber wer sich dafür nicht interessiert, kann sich ja an einer der unendlich vielen Singles-Compilations delektieren.

Muddy Waters
Sings Big Bill Broonzy

(Chess, 1960)

Mit dem Aufkommen und der langsamen Durchsetzung des LP-Formates begann auch für die Garde der alten Bluesmusiker Ende der Fünfziger eine neue Zeit. Muddy Waters hatte in den End-Vierzigern und Fünfzigern mit seinem rohen, elektrifizierten Chicago Blues etliche Single-Hits gehabt, hatte 1957 mit seinem ersten Longplayer – einer Compilation dieser Hits (Später auch als Sail On veröffentlicht) – das LP-Format für sich entdeckt und dankte nun auf seinem ersten regulären Album seinem Mentor Big Bill Broonzy dafür, dass der ihn in die Blues-Szene Chicagos eingeführt hatte. Der 1958 verstorbene Broonzy war einer der Überlebenden der ersten Generation von Blues Musikern gewesen – er war, 1893 geboren – Zeitgenosse von Robert Johnson und Son House gewesen und seine Songs aus den End 20ern bis in die 30er Jahre waren tief im Country Blues verwurzelt – akustisch eingespielt und eher sanft klingend. Muddy Waters hat Broonzy gewiss respektiert, aber er drückte den Songs auf … Sings Big Bill Broonzy nichtsdestotrotz seinen stilistischen Stempel auf und machte sie sich damit zu eigen. Zwar spielt er hier und da akustische Gitarre, aber der Sound ist dennoch elektrisch, urban – eben Chicago Blues, Waters‘ Style. Etwas, das den meisten Stücken durchaus auch gut zu Gesicht steht. Zu der Schnelligkeit und dem urbanen Sound trägt neben Waters‘ virilem Gesang vor Allem die virtuose Harp von James Cotton bei. Man höre nur „Moppers Blues“ oder den eigentlich von Bill Monroe geschriebenen „Lonesome Road Blues“. Songs, denen das moderne Gewand hervorragend steht, die – eben weil sie gute Songs sind – zeitlos bleiben. Weitere Highlights solltest du selber herausfinden, ich empfehle etwa „Southbound Train“, „When I Get to Thinking“ und das flotte „Hey, Hey“. Und dann kam der Durchbruch…

Muddy Waters
Muddy Waters At Newport

(Chess, 1960)

… denn im selben Jahr noch wurde Waters zum Newport Jazz Festival eingeladen und nutzte mit der Aufnahme der Live-LP Muddy Waters at Newport die Gelegenheit, ein junges, weißes Publikum auf seine Musik aufmerksam zu machen. Der Blues galt Ende der Fünfziger in der schwarzen Community als altmodische Musik, was so manchen Veteranen in den letzten Jahren dazu gebracht hatte, im fernen Europa sein Glück zu suchen. Auch Muddy Waters hatte in Europa vor einem jungen Publikum gespielt – hier in Newport konnte er nun auch vor jungen weissen Amerikanern spielen – und er nutzte seine Chance. Am Vortag war es beim Auftritt Ray Charles‘ zu Tumulten gekommen, die Polizei hätte den Rest des Festivals beinahe abgebrochen, aber der Veranstalter berief sich auf die Absicht, der Welt den Blues zu präsentieren, und Waters ließ es zum Abschluss des Festivals noch mal so richtig Krachen. Die Band um Waters, mit seinem Halbbruder Otis Spann am Bar-Piano und mit einem hochmotivierten James Cotton an der Harmonika, spielt sich durchHits wie „I Got My Brand on You“, „I’ve Got My Mojo Workin“ oder „(I’m Your) Hoochie Cootchie Man“ und gerät vor Begeisterung fast außer sich. Waters spielt kaum Gitarre, ist dafür aber als Sänger immens präsent und machte mit …at Newport wohl eines der wichtigsten Alben, die den Blues ins neue Jahrzehnt überführten. Dass es sich tatsächlich gut verkaufte, war verdient, welchen Einfluss dieses Album aber auf einen Haufen Kinder hatte, die sich un 5-6 Jahren zu Bands zusammentun würden – das wird ein andermal erzählt

John Coltrane
Giant Steps

(Atlantic, Rec. 1959, Rel. 1960)

Im Mai 1959 aufgenommen und erst im Januar ’60 der staunenden Musikwelt präsentiert, enthält Giant Steps einige der großartigsten Aufnahmen des genialen Saxophonisten, bevor der sich bald komplett den freien und spirituellen Seiten des Jazz zuwandte . An Tranes Seite sorgte Hard-Bop erprobtes Personal wie Bassist Paul Chambers und Schlagzeuger Jimmy Cobb mal für einen Blues-gefärbten Grundton, oder – je nach Temperament des erstmals exklusiv von Coltrane komponierten Materials – für sanften Swing, der lyrische Soli erlaubt. So auf dem bezaubernden „Naima“, der balladesken Ode an ‚Tranes Ehefrau, die nicht nur atmosphärisch mit „Freddie Freeloader“ verwandt zu sein scheint, den man von Miles Davis 59er Meisterwerk Kind Of Blue kennt. Kein Wunder, denn das Quartett, hier mit dem jungen Wynton Kelly am Klavier, spielte bei beiden Sessions. Ein geradezu beängstigendes Tempo legt hingegen der Titeltrack vor, während Trane improvisatorische Skalen erprobt, wild entschlossen wie selten. Hier ist eine der Wasserscheiden zwischen traditionellem Jazz, und dem Jazz, der im Free Jazz münden sollte. Coltrane machte mit Giant Steps das Solo zum zentralen Element seiner Musik und erschuf erstmals seine „Sheets of Sound“ (Klangfächen). Aber all die Theorien von Entwicklungen vom Be Bop über den Hard Bop zum Free Jazz und weiter sollten beim Hören solcher Stücke wie dem seiner Stieftochter gewidmeten „Syeeda’s Song Flute“ keine Rolle spielen. Die Qualität in Coltranes Musik liegt hier – wie so oft in den kommenden Jahren – in der offensichtlichen Inspiration, mit der er musizierte. Das hier mag Jazz sein, aber es ist vor Allem Musik, die voller Begeisterung versucht, Grenzen zu überschreiten. Das ist ihr Reiz.

Charlie Mingus
Blues & Roots

(Atlantic, Rel. 1960)

Wie Charlie Mingus es in den Liner Notes beschreibt: Atlantic Boss Ahmet Ertegun hatte ihm ein paar Jahre zuvor vorgeschlagen, mal ein ganzes Album mit Bluesmusik aufzunehmen. Und dann hatten ihm Kritiker auch noch vorgeworfen, sein Musik „swinge“ nicht, sei zu intellektuell. Dieses „ZU“ war natürlich Quatsch, seinerzeit waren Kritiker allerdings insbesondere im Jazz-Bereich äußerst konservativ und Mingus war nun mal das Gegenteil davon. Aber der Exzentriker war wohl milder Stimmung, und beschloss tatsächlich, die Wurzeln seiner Musik zu untersuchen. Er holte sich ein großes Ensemble zusammen, namhaften Leuten wie Jackie McLean und Brooker Ervin, mit vier Saxophonen, zwei Posaunen, Klavier, Bass und Schlagzeug um ein Album mit dem programmatischen Titel Blues & Roots aufzunehmen. Natürlich ist auch auf seinem „traditionellen“ Album seine moderne Auffassung von Jazz erkennbar: Die Musik ist komplex, die Unisono-Passagen kontrolliert, aber – das ist eben auch typisch für Mingus – jeder bekommt seinen Freiraum. Die Aufnahmesessions sollen Berichten zufolge chaotisch gewesen sein – was vermutlich sogar gewollt gewesen ist, sogar zum Programm gehört haben wird. Schon beim ersten Song, dem „Wednesday Night Prayer Meeting“ ließ er Gospel anklingen, wobei die Blasinstrumente die Gesangssoli übernahmen und die Musiker sich mit Zwischenrufen und Klatschen antreiben. Der „Cryin Blues“ klingt so wie er heißt, „Moanin’“ setzt ein klassisches Grundgerüst unter beseelte Soli, „My Jelly Roll Soul“ trägt einen der alten Jazzmusiker im Namen. Das Ganze wird mit erfreulichem Spaß und voller Inspiration gespielt. Der Titel Blues & Roots mag nach Althergebrachtem klingen, aber der Name Charlie Mingus steht nicht umsonst und somit auch hier für Spannung. Es ist Mingus‘ souligstes Album und ein wirklich gutes.

Ornette Coleman
Change of the Century

(Atlantic, Rec. 1959, Rel. 1960)

Ornette Coleman hatte auf jeden Fall ein Händchen für selbstbewusste Albumtitel: The Shape of Jazz to Come, Something Else !!!, oder eben Change of the Century: Coleman wusste, dass das, was er hier machte wirklich neu war und den Jazz der kommenden Jahre (mit)formen würde. Leider würde er die Musik aus der Zeit zwischen 58 und 62 wohl nie übertreffen – auch wenn er später manchmal an sie heranreichte – der innovative Impetus bei seiner Erfindung des Free Jazz ist mitreißend, und die hier aufgenommene Session für Atlantic (…die übrigens schon im Vorjahr stattgefunden hatte) halten das sehr gut fest. Im Gegensatz zu den anderen Protagonisten des Jazz dieser Zeit bestand Coleman auch auf einen guten Song: So hat diese Album mit „Ramblin’“ und „Bird Food“ Tunes, die regelrecht Hitpotential haben. Er wechselt sich mit seinem vertrauten Kollegen, dem famosen Trompeter Don Cherry, bei den Soli ab, Charlie Haden und Billy Higgins wandern rhythmisch auf der vorgelegten Straße, während Saxophon und Pocket Trompete die Wege manchmal tatsächlich Richtung Free Jazz verlassen, und all dem ist eine überraschende, aber auch für Coleman typische Fröhlichkeit unterlegt. Coleman war eigentlich nie der Typ „ernsthafter, akademisch verknöcherter“ Künstler, er hatte und wollte Spaß beim Spielen vermittlen und hatte Spaß am Wagnis. Eine seiner Grundlagen für die Erfindung des Free Jazz und einer der Faktoren, die seinen Jazz (für mich) dennoch so genießbar bleiben lässt..

Miles Davis
Sketches Of Spain

(CBS, 1960)

Miles Davis hatte schon zweimal mit Arrangeur Gil Evans + Orchester zusammengearbeitet – erfolgreich, sowohl kommerziell als auch künstlerisch (Auf Miles Ahead und Porgy & Bess), nun nahm er sich mit Evans zusammen der spanischen Volksmusik an – er war wohl bei den Aufnahmen zum Stück „Flamenco Sketches“ von Kind of Blue auf den Geschmack gekommen. Dass Miles Davis ein Jahrhundertmusiker ist, dessen besonderer Ton auch hier durch Alles hindurch schimmert, darf nicht von der Leistung Gil Evans‘ ablenken. Sketches of Spain ist recht eigentlich ein Evans-Album mit besonderer Betonung auf das Spiel des Trompeters Davis‘. Da ist natürlich das über 16-minütige wunderschöne „Concierto de Aranjuez“ bei dem Orchester und die Begleitmusiker (u.a. Paul Chambers am Bass) Schicht für Schicht auf Joaquín Rodrigo’s Komposition mit diesen so typischen hispanischen Melodie-Motiven aufbauen und über dem Miles Davis Trompete zu schweben scheint. Er hält die Musik zusammen und gibt ihr seinen charakteristischen Ton. Improvisation ist hier allerdings nicht das Ziel. Das klassische Stück, das Davis zuvor bei einem Freund gehört hatte, wird nur sehr dezent in den Jazz überführt. Da sind drei Kompositionen von Gil Evans, das völlig spanische „The Pan Piper“ sowie das Song-Duo „Saeta“ mit einem ziemlich tollen Trompeten-Solo Davis‘ und „Solea“, gekonnte Fingerübungen in Stimmung und Arrangement und natürlich auch das Ballett-Stück „Will o‘ the Wisp“ von Manuel De Falla. Miles Davis war zu dieser Zeit einfach auf der Höhe seines Könnens, egal was er machte, es gelang ihm – und es fand auch sein Publikum – Sketches of Spain ist ein völlig anderes Album als das so erfolgreiche Kind of Blue – Und auf die Aussage etlicher abgehalfterter Jazz-Professoren, dass Sketches of Spain für sie doch gar kein Jazz ist, kann man trefflich mit Davis‘ eigenem Kommentar antworten: „Es ist Musik, und ich mag es…“

Hank Mobley
Soul Station

(Blue Note, 1960)

Hank Mobley ist einer der unbesungenen Helden des Bop, also des Stils, der zur Hoch- Zeit des Jazz (Ende der 50er Anfang der 60er) die Grundlage für die weiteren Entwicklungen – und etliche fantastische Platten – bildete. Ein Kritiker nannte ihn ganz treffend mal den „Middle-weight-Champion of the tenor saxophone“. Mobley klang nie so „lush“ wie etwa der ebenfalls technisch enorm versierte Stan Getz, war aber auch nicht so abenteuerlustig, klang nie so aggressiv und intensiv wie Coltrane oder gar Coleman. Aber er spielte in deren Klasse. So sind es die beiden 1960 aufgenommenen Alben Soul Station und das dann erst ’61 veröffentlichte Roll Call, die ihn auf seiner Höhe als Band-Leader zeigen. Er hatte mit seinem ehemaligen Messengers-Boss Art Blakey (dr) und seinen zukünftigen Kollegen bei Miles Davis – (Wynton Kelly (p) und Paul Chambers (b) kongeniales Personal bei den Sessions dabei, spielte auf Irving Berlin’s „Tomorrow“ noch etwas zurückhaltend und 50er-mäßig, aber bei den vier folgenden Eigen-Kompositionen von Mobley wird die Interaktion der Musiker immer besser. Soul Station ist sozusagen das Ideal-Album des Hard Bop, selten hört man ein so cool-elegantes und melodisch reiches Saxophon, selten kommunizieren die Begleitmusiker so mühelos miteinander. Als Sideman bei Miles Davis war er für die lyrischeren Töne zuständig, und das kann man verstehen, wenn man dieses Album hört. Das zweite Stück „This I Dig of You“ ist rasant und immens abwechslungsreich und „Split Feelin’s“ weist schon in Richtung Post Bop. Mobley mag wie gesagt kein Innovator sein – der Grund für seinen vergleichsweise geringen Bekanntheitsgrad – aber er war einer der besten Saxophonisten dieser Zeit, und Soul Station ist sein Meisterstück und eines der schönsten Alben auf dem Blue Note Label.

Who the fuck is RVG ?

Dieses Logo RVG steht auf etlichen Jazz-Alben der Fünfziger und Sechziger – insbesondere bei fast allen Alben von Blue Note und Impulse! Und es steht für den Produzenten/Recording Engineer Rudy Van Gelder. Der hatte sich schon zu Beginn der 50er – als gerade mal 25-jähriger – in seinem Elternhaus in Hackensack (NJ) ein kleines Aufnahmestudio aufgebaut und dort die ersten Aufnahmen mit Musikern seiner Lieblingsmusik – Jazz eben – gemacht. Dass der junge Mann Liebhaber war, war seinen Aufnahmen über all seine Jahre währende Tätigkeit definitiv anzuhören. Und er interessierte sich gerade wegen seiner Liebe zum Jazz nicht nur für Aufnahmetechnik, sondern auch und insbesondere für die Musik und die Musiker, die er aufnahm. 1959 jedenfalls hörte er endgültig auf, seinen Brot-Beruf als Augenoptiker auszuüben und wurde Hausproduzent beim Blue Note Label. Sein Perfektionismus und sein untrügliches Gespür dafür, wie man bei den Sessions die Mikrophone zu stellen hatte, wie man die Musik abmischt, und wie man ein gute Atmosphäre für diese Sessions schaffte, führten dazu, dass er auf einer unglaublichen Anzahl der wichtigen Jazz-Alben der Zeit zwischen 59 und 65 als Produzent oder zumindest „Engineer“geführt wird. Er arbeitet mit John Coltrane – auch auf dem epochalen A Love Supreme, mit Eric Dolphy (Out to Lunch) und mit Hancock, Davis, Coleman…. Es wäre einfacher, die zu nennen, die er nicht irgendwann mal produzierte. Dass er dabei seine Tricks gerne für sich behielt, mag einer gewissen Eitelkeit geschuldet sein, aber letztlich wurde er für seine Art zu produzieren von den Musikern geachtet. Zumal das Blue Note Label auf sein Betreiben eines der wenigen war, das den Musikern Zeit gab, ihre Sessions vorzubereiten – tatsächlich zu „arrangieren“ und zu proben!! Damals völlig unüblich. Später verlor sich seine Spur etwas – so wie Jazz etwas uninteressanter bzw. akademischer wurde – aber in den 90ern begann er – nun schon im hohem Alter von über 80 – seine Aufnahmen für das digitale Zeitalter zu remastern. Auf den entsprechenden CD’s ist das RVG Kürzel überall zu finden. Er war definitiv einer der wichtigsten – vielleicht sogar wirklich der beste Jazz-Produzent der ganz großen Zeit des Jazz.

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