Das Wichtigste aus 2021 – Klimakatastrophe, Afghanistan und Merkel’s Abschied – Little Simz bis Low

Die Corona-Pandemie hat die Welt im Griff – und die Verteilung der im Rekord-Tempo entwickelten Impfstoffe erfolgt zunächst nach rein finanziellen Gesichtspunkten nur in der westlichen Welt.

Die hat auch noch mit den Auswirkungen der Klimakatastrophe zu kämpfen, und weil man die nicht mehr leugnen kann, erzählen die üblichen Verdächtigen nun gegen jede wissenschaftlich fundierte Faktenlage Irgendwas im Sinne von „…Das Hat Es Immer Schon Gegeben“… und die Vereinigten Dummköpfe wiederholen diese These gern, weil sie jede Verantwortung negiert. Derweil gibt es Brände und Hitzerekorde in Europa und den USA, eine massive Flutkatastrophe in Deutschland, Regen am Nordpol… aber das war ja schon immer so. Zumal die freie Marktwirtschaft das Klima schon in die gewünschte Richtung lenken wird. Die USA und ihre europäischen Verbündeten ziehen sich aus Afghanistan zurück und überlassen ihre zivilen Unterstützer ihrem Schicksal, in der Ukraine spitzt sich die Stellvertreter-Krise zwischen USA, NATO und Russland immer weiter zu während die neue US-Regierung innenpolitisch an der Zerrissenheit der US-Gesellschaft verzweifelt. In Deutschland beendet Angela Merkel ihre Kanzlerschaft und SPD, Grüne und die Lobby-Partei FDP übernehmen nach einer Wahl, die für die Klimapolitik wegweisend sein will, die Regierungsverantwortung. Leider werden sie gegen diverse Lobby-Gruppen, Klimawandel-Ignoranten, aufkommenden Kriege, geplanter Uneinigkeit und Wirtschaftskrisen nichts Vernünftiges hinbekommen. Musikalisch ist dieses Jahr bei allen Katastrophen reich, bunt… aber nicht revolutionär. Die schönsten Alben kommen von Frauen wie Little Simz, Billie Eilish, LINGUA IGNOTA oder Lana Del Rey, auf denen diese ihre Kunst ausformen und ihren Stil in allen Ecken ausleuchten. Es gibt schon länger die Post-Post-Punk Welle der sog. Windmill-Scene mit etlichen jungen Bands aus England: Ich sag nur Squid, Shame oder Black Country, New Road. Auch black midi’s Zweitling leuchtet aus dieser Ecke. Ansonsten – Wie Immer. Metal, HipHop, Jazz in seiner neuen, spirituell erleuchteten und freien Form, ein paar alte Helden wie etwa Nick Cave erfreuen die Ohren. Dass im Black Metal und HipHop die besten Alben maximal in Mini-Auflagen in physischer Form erscheinen, ist ein Jammer, den es zu beklagen gilt. US-Pop-Superstar Taylor Swift emanzipiert sich bemerkenswert von Business-Zwängen, indem sie ihren alten Erfolg Red als neue, eigene Version veröffentlicht. Wenn das Schule macht… so findet Pop Eingang in den Bereich der Geschmackvollen Musik – oder ist es umgekehrt? Dennoch gibt es auch 2021 Mist wie Måneskin oder Ed Sheeran, die Millionen Ohren vollkleckern, Das sei kurz erwähnt und im Weiteren wenn möglich ignoriert.

Little Simz
Sometimes I Might Be Introvert

(Age 101, 2021)

Schon das 2019er Übergangs-Album GREY Area war ein Beweis für die Klasse der UK-Rapperin Simbiatu Abisola Abiola Ajikawo aka Little Simz. Und konstant hohes Niveau sollte sich in den kommenden Jahren als eine ihrer bemerkenswerten Eigenschaften erweisen. Sometimes I Might Be Introvert schloss an den Vorgänger an und steigerte ihre Klasse noch einmal. Ajikawo erforschte auf ihre Weise weite Felder der Musik der Schwarzen im UK, nutzte ihre wachsende Reputation und machte eines der ganz großen, zeitlosen Alben der Beginnenden 20er. Großen Anteil an der Klasse dieses modern masterpiece hatte Produzent Diplo – Kopf des Soul-Kollektives Sault – siehe deren Alben im 2020er Hauptartikel, auf denen Little Simz gastierte. So gesehen mag man Sometimes… als Ergänzung zu United und Untitled von Sault sehen. Denn die Soul/ Gospel/ R&B/ Jazz-Einflüsse der letztjährigen Alben sind hier sehr präsent – nur, dass Little Simz mit ihrer immer leicht belegten Stimme, mit ihren eleganten Rhymes den auch bei Sault deutlichen HipHop-Faktor auf ihrem Solo-Album betont. Man hört freilich auch den Spaß, den Diplo und Little Simz am üppigen Orchster, am Gospel-Gesang, am smoothen Soul hatten. Und natürlich sind ihre wunderbaren Texte politisch wach und feministisch. Mit massig Stil, ohne Holzhammer, aber klar und deutlich. Da möge man „Woman“ – Track 2 der LP – zuhören und bitte die Lyrics beachten. Und davor „Introvert“, den Opener mit königlichen Fanfaren und der programmatischen Aussage „…I’m not into politics but I know it’s dark times/ Parts of the world still living in Apartheid…“ Damit ist die Idee hinter diesem Album geklärt. Und die musikalische Umsetzung ist dermaßen elegant, kämpferisch, voller Liebe… man kann nur zuhören und staunen über dieses Album, das weit über die Grenzen des HipHop hinausweist. Auch weil nicht Alles pure Soul-Elegance ist – Siehe das Trap-Track „Rollin Stone“. Jedenfalls vergehen die 65 Minuten im Flug. Weil es eine Botschaft gibt, weil es Können und Style gibt. Man mag Diplo’s Einfluss überwältigend finden – aber Sometimes I Might Be Introvert wäre ohne die Songs, Texte und Rhymes von Little Simz nicht möglich. So einfach ist das.

JPEGMAFIA
LP!

(EQT Rec., 2021)

Ach Ja – Die Facetten des HipHop… vor 32 Jahren – als Barrington Devaughn Hendricks aka JPEGAMFIA noch nicht mal geplant war – begann das „Golden Age of HipHop“. Aber wenn man die Alben jener Tage von (tollen) Acts wie Public Enemy, A Tribe Called Quest, Eric B & Rakim mit dem vergleicht, was in den 10er/20ern Musiker(innen) wie Kendrick Lamar, Tyler The Creator, Little Simz oder eben JPEGAMFIA (…nennt ihn Peggy…) in 2021 tun, dann findet man nun einst undenkbare Variationen. JPEGMAFIA war 2013 mit finsterem Art Pop aus dem Undergound gekommen. Danach kamen mit Veteran (2018) und All My Heroes Are Cornballs (2019) zwei der besten Experimental HipHop-Alben der Dekade… die ganz nebenbei – wie inzwischen im Non-Mainstream-HipHop üblich – kaum als physische Tonträger erhältlich waren. Dass Peggy ständig die Zutaten zu seiner Musik änderte, dass er ein enorm einfallsreicher Sampling-Nerd und Texter war, dass seine Alben immer an der Grenze zum Chaos, voller überbordender Schönheit und finsterem Witz waren, irgendwo zwischen Industrial, Cloud Rap, R’n’B, Glitch Hop und Psychedelic changierten – und wiedererkennbar und charakteristisch blieben, ist eines von mehreren Wundern. LP! war nun Peggy’s drittes großes Album, (nicht) das erste, auf dem er alle Möglichkeiten ausschöpft, dafür das erste, auf dem er – vermutlich bewusst – auch eine gewisse Zugänglichkeit zuließ. Und auch hier – das Kunststück war, dass er das mit Details schafft, die in sich hochgradig experimentell sind. Nicht jeder schafft es, Britney Spears‘ „Hit Me Baby One More Time“ oder einen Militär-Marsch in einen HipHop-Track einzubauen und die beklopptesten Sounds so zusammenzufügen, dass dennoch eine „mainstreamige“ Genießbarkeit bleibt. LP! IST hard-hitting und druggy, dabei aber nicht zu finster-hermetisch. Und dann.. Dieser Reichtum an Ideen – Hardcore HipHop bei „100“, bekiffte Rhymes unter betäubendem Sound bei „The Ghost of Ranking Dread!“, über und unter Allem seltsame Synthie-Sounds. Dass LP! Auch als „Online-Version“ veröffentlicht wurde, weil es irgendwelche Probleme mit Samples gab… als ob Peggy es nötig hätte, Sounds oder Ideen zu stehlen. Hits gibt es auf der LP! (auf Vinyl bitte) zuhauf. „What Kinda Rappin‘ Is This?“ – purer, toller minimalistischer Rap. Oder das erwähnte „Thots Prayer!“ mit dem Britney Spears-Zitat – incl. Autotune-Voice und R’n’B Melodik… oder „Rebound“ mit dem Freund und Kollegen DATPIFFMAFIA. LP! Ist eine kaum zu beschreibende Wundertüte. Ohne Konkurrenz, weil JPEGMAFIA, Kendrick oder Tyler unterschiedliche Arten des modernen HipHop repräsentieren.

Spellling
The Turning Wheel

(Sacred Bones, 2021)

Auch diese Künstlerin ist ein Kind des neuen Milleniums. Die 1991 in LA geborene Chrystia Cabral hatte offenbar Einflüsse aus etlichen Ecken der Populärmusik aufgesogen (Sie nannte Iggy Pop, Minnie Riperton und Kraftwerk, aber Kate Bush und die Pet Shop Boys dürften auch Einfluss gehabt haben…). Sie hatte mit dem vorherigen Album Mazy Fly Kritiker und Fans begeistert. Mit Songs, die irgendwo zwischen Experiment, Gothic und Pop wanderten. Mit einer reichen, hohen Stimme und Songs, die eben genau das machen, was gute (Pop)musik ausmacht: Sie bleiben nach zwei-drei Hördurchgängen im Ohr. Für ihr drittes Album The Turning Wheel reduzierte sie die Gothic-Einflüsse des Vorgängers, ließ mehr Licht in ihre Songs und wagte den Balance-Akt zwischen Kunst und Pop, Experiment und Kommerzialität. An Stelle der Gotik traten ausgefeilte Orchester-Arrangements, eine Üppigkeit, die ihre Songs dennoch nicht zukleisterte. Dass Cabral ihre Stimme im genau richtigen Maß unter Kontrolle hatte, gab den Songs auf The Turning Wheel zusätzlich Halt. Man mag erkennen, dass sie erst seit wenigen Jahren Musikerin war. Ihre Stimme mag ungeschulter sein, als die einiger Kolleginnen, aber sie hatte Ausdruck und die eine oder andere Schwankung machte ihre Songs um so menschlicher. Was in Verbindung mit den organischen Arrangements und den labyrinthischen Kompositionen noch deutlicher wurde. Thema dieses Barock-Gartens waren Tarot-Karten und andere spirituelle Wegweiser – aber dabei kam sie ohne esoterisches Geschwurbel aus. Diese Frau war einfach neugierig, ihr Ansatz auf The Turning Wheel hatte die freundliche Unschuld der jungen Kate Bush. Na ja – und wenn sie dann mit Songs wie dem Opener „Little Deer“ in einen geheimnisvollen Wald voller wiegender Streicher, Synthesizer-Schwaden und einem Gesang zwischen Kate Bush und Neo-R’n’B Chanteuse lockt, dann kann man nur noch alle Sinne öffnen. Und so folgt man dem knapp ein-stündigen Album von Track zu Track. Man mag die barocke Ausstattung des Titeltracks im Vergleich zum Gothic-Spirit des Vorgängers etwa beklagen – aber wer will denn überhaupt vergleichen? The Turning Wheel ist hochmusikalisch und träumerisch, weniger düster, aber… wie gesagt… Muss man denn vergleichen? Und spätestens wenn der Traum und eine erstaunliche „Power“ beim zentralen „Boys at School“ zusammenfallen, sollte man gepackt sein. Und ich warne auch hier: Man sollte The Turning Wheel mindestens drei- viermal drehen. Es braucht etwas, um in den Flow dieser Musik zu einzutauchen.

Billie Eilish
Happier Than Ever

(Interscope, 2021)

…es war wie bei Lana Del Rey vor 10 Jahren. Der coole Musik-Nerd konnte nicht akzeptieren, dass der melancholisch-psychotisch verpeilte Elektro-Pop, den Billie Eilish und ihr Bruder Phineas mit dem Album When We All Fall Asleep… 2019 veröffentlicht hatten mehr war als ein Teenager-Hype. Schließlich liebte die große, dumme Masse das…! Aber bedenke: Das war vor 60 Jahren bei Elvis, den Beatles, den Stones etc. nicht anders. Das waren junge Musiker, die andere junge Leute ansprachen!! Die verkauften ihre Musik incl. Image, die mit guten Songs unterfüttert waren. Und Billie Eilish’s Happier Than Ever kann man mit oder ohne Bezug zur „Jugend“ ihrer Zeit zu den besten Alben des Jahres 2021 zählen. Weil: Die musikalische Umsetzung der Songs ist geschmackvoll bis zeitlos. Weil Phineas und Billie O’Connell es bei allen Experimenten weiterhin sparsam hielten. Weil Billie’s Stimme die Songs mit uneitler Melancholie trug. Mit einer Ruhe bis zur scheinbaren Gleichgültigkeit, die aber untergründig brodelte. Wodurch auch härteste Aussagen gesagt werden konnten. Sie musste mit ihrem plötzlichen Ruhm klarkommen, mit Stalking, mit der Frage, ob Zuneigung in ihrer Position noch echt sein konnte. Sie musste mit dem Älterwerden – in ihrer Situation – klarkommen. Man muss bedenken, sie wurde 2021 zwanzig Jaher alt. Und sie betrachtete das Erwachsenwerden in dieser Phase in Songs wie „My Future“, in dem sie sich alle Möglichkeiten offen halten wollte. Oder im housigen „Oxytocin“, in dem es um eine toxische Beziehung geht. Ihre Lyrics waren schon auf dem Debüt durchdacht gewesen, auf Happier Than Ever wurden sie noch besser. Sie sprach für ihre Generation. Man warf ihr eine gewisse Eindimensionalität im Ausdruck vor – ich denke, sie nutzte ihre Stimme eher wie ein Instrument – mit bestimmten Charakteristika – als eines von mehreren Stilmitteln. Man mag den zentralen Spoken Word-Track „Not My Responibility“ etwas zu larmoyant finden, aber die Beurteilung ihres Aussehens war gerade in dieser Zeit oft erschreckend verletzend. Und das war in ihrer Generation Angesichts der Diktatur von Social Media ein Thema, das viele betraf. Und da gab es den Titelsong, der es locker mit dem Besten von When We All Fall Asleep… aufehmen konnte. Happier Than Ever mag ein-zwei Tracks zu lang sein und es ist ein Album des Übergangs zur Abgeklärtheit. Es ist nicht so fokussiert oder innovativ wie der Vorgänger. Dass die O’Connell-Geschwister stilistisch einiges ausprobierten, KANN man falsch finden… oder als Qualität schätzen.


Taylor Swift
Red (Taylor’s Version)

(Republic, 2021)

…HIT me one more time… Ich bezweifele, dass der anspruchsvolle Musik-Diktator von allen Musikerinnen Taylor Swift als eine der wichtigsten Künstlerinnen des Jahres 2021 bezeichnen würde… auch noch mit einem Album voller recycleter Songs. ICH aber halte Red (Taylor’s Version) in etlichen Belangen für wichtig: Es ist ein Statement in Richtung Musikindustrie, das gehört und gesehen wurde – und es ist auch noch musikalisch ein sehr gelungenes Album. Der Hype, der in den 2020ern um das All American Girl Taylor Swift gemacht wurde – die Swiftmania – ist ein Hype, der die Songs auf ihrem nun nach ihren Vorstellungen neu-produzierten, zusammengestellten und veröffentlichten Werk nicht beschädigt hat. Und natürlich ist diese Musik „Pop“. Das würde niemand leugenen – auch Taylor Swift nicht. Aber Pop war inzwischen wieder wichtig, stand inzwischen wieder gleichberechtigt neben „ernsthafter“ Rockmusik. Und Swift hatte die Fähigkeit, Folk, ein bisschen Country und POP (groß-geschrieben) organisch mit ausgefeilten Songs zu verbinden. Dass Ryan Adams im Jahr 2015 Swift’s Album 1989 komplett gecovert hatte, dürfte als Indiz für Swift’s Sogwriting-Skillz reichen. Nun konnte man erkennen, dass das originale Red-Album 2012 als geplante Attacke auf den damaligen Pop-Markt konzipiert worden war. Und hier konnte hören, wer wollte, wie unzufrieden Taylor mit den damaligen Versionen war, die von einem ganzen Haufen von Produzenten aufgenommen worden waren. Taylor’s Neu-Aufnahme betonte die Country- und Folk-Seite ihrer Songs, mit Christopher Rowe war nur noch einer der 2012 beteiligten Produzenten dabei. Der hatte ihr beim 2020er Album Folklore geholfen, ehe Ex-The National Musiker Aaron Dessner mit ihr Ende desselben Jahres den überraschenden Nachfolger Evermore machte… und Dessner war auch bei Red (Taylor’s Version) dabei. Ihr Kampf um die Rechte ihrer Songs, ihre klare politische Haltung gegen Trump und die MAGA-Idiotie, ihr Selbstbewusstsein und nicht zuletzt der anhaltende Erfolg ihrer Musik zwischen Folk, Pop und Country, gepaart mit fast manischer Produktivität, die dennoch völlig mühelos schien – Swift war ein Phänomen, dessen Credibility man anzweifeln mochte. Aber nicht nur in den USA hatte sie mit der neuen Version ihrer Selbst großen Erfolg. Und in den neuen Versionen ihrer alten Alben konnte man sich vergewissern, dass Songs wie der Red-Opener „State of Grace“, „All’s Too Well“ oder „Begin Again“ zu Recht Banger in ihrem Repertoire waren… die nun auch noch an Kraft gewonnen hatten. Red (Taylor’s Version) war als 4-LP Album noch mit einigen Tracks „From the Vault“ aufgepimpt. Und „Forever Winter“ oder „Nothing New“ (mit Phoebe Bridgers!) bereiteten bei diesen eigentlich ZU vielen (30!) Tracks dennoch Vergnügen. Da verzieh man ihr sogar, dass sie noch einmal den nervigen Ed Sheeran als Gesangspartner dazu holte. So war (und ist…) Pop eben.

Japanese Breakfast
Jubilee

(Dead Oceans, 2021)

Es gibt viele, die Michelle Zauner’s vorherige Alben Psychopomp (2016) und Soft Sounds From Another Planet (2017) bevorzugen. Die Amerikanerin mit koreanischen Wurzeln, die seit acht Jahren unter dem Pseudonym Japanese Breakfast Musik machte, hatte ihren reflektiven Dream Pop in den vier Jahren Pause bis Jubilee weiterentwickelt und zuvor den Tod ihrer Mutter und die darauf folgenden Corona- Sinn- und Lebenskrisen verarbeitet. Und nun trafen Faktoren zusammen, die Jubilee zur gelungenen Neu-Orientierung werden ließen. Das Album beginnt mit Synth-Schwaden, die wie seidene Vorhänge schwingen, hinter denen eine Parade aus Trompeten losmarschiert. „Paprika“ feiert die Kreativität, feiert das Leben – mit all seinen Dramen. Sie hatte beschlossen, sich nicht mehr nur mit Verlust zu beschäftigen, so wie sie beschlossen hatte, mit der Veröffentlichung ihres Albums das Ende der Pandemie abzuwarten. Ein Album, das ihren Dream Pop nun mit mehr Electropop verband. Dass sie immer noch eine scharfe Beobachterin war, dass sie immer noch tolle Hooks und eine tolle Stimme hatte, wurde auf Jubilee fast etwas ZU deutlich. Aber Achtung! Michelle Zauner war sich immer noch aller Tragik und Unbilden bewusst, die positiven Momente und der goldene Schimmer in Songs wie „Slide Tackle“ ist melancholisch und auf der zweiten Seite der LP drehen sich die Lyrics in die Finsternis – was will man mehr? Ein „schönes“, Album mit einer Tiefe, die sich erst nach genauerem Zuhören ausloten lässt, ist selten. So mag Jubilee zunächst vorbeifließen… aber dann hat man nicht hingehört. Toll, wie sie beim treibenden „Savage Good Boy“ die Apokalypse ganz Elon Musk-artig kapitalistisch/männlich besiegt. Aber tiefer noch geht sie, wenn es ihre beim Closer „Posing for Cars“ gelingt, Glücklichsein und die vergebliche Suche nach Glück in einen Song zu fassen. Jubilee ist ein Pop-Album mit Tiefe und Stil von einer Frau, die der Generation angehört, die ganz selbstverständlich mit Indie und Pop und elektronischer Musik aufwuchs. Daraus und aus ihrem Leben hatte sie eigene Musik geformt.

LINGUA IGNOTA
Sinner get Ready

(Sargent House, 2021)

Die Künstlerin Kristin Hayter, die sich hinter dem Moniker LINGUA IGNOTA verbirgt, ist eine dieser seltenen Erscheinungen, die komplett autarke Musik nur aus sich selbst erschafft – und so klingt, wie niemand anders. Mag sein, dass es solche Künstler öfters gibt, aber es ist ein Zu- und Glücksfall, wenn das „Werk“ solcher Künstler ans Tageslicht tritt. Lies über den frühen Werdegang von LINGUA IGNOTA im Hauptartikel 2017, in dem ich All Bitches Must Die – ihr zweites Album (das erste, das wahrgenommen wurde) – beschrieben habe. Inzwischen hatte es mit Caligula 2019 einen großartigen, ausgefeilteren Nachfolger gegeben und nun kam mit dem beziehungsreich betitelten Sinner Get Ready sozusagen die Apotheose ihrer Hassliebe zum religiösen Wahn ihres Umfeldes, der Hayter seit ihrer Jugend angetrieben hatten. Das logische letzte Kapitel in dieser Trilogie – denn danach wandte Hayter sich unter eigenem Namen dem Gospel zu. In Sinner Get Ready ließ sie ein paar neue – besser – „andere“ Stilvarianten in ihren Kanon ein. Natürlich war da immer noch die dröhnende Kirchenorgel in Tracks wie „I Who Bend The Tall Grasses“. Da wird in einem Kirchenlied die brutale Forderung nach Rache hervorgebrüllt. Und wieder beeindruckt es, wie Hayter mit ihren Texten zu dieser Musik die Heuchelei der Religiösen (Rechten) in ihrem Heimatland ans Licht zerrt. Die Wut und Verzweiflung in Tracks wie „Many Hands“ muss man allerdings auch mit-fühlen/verstehen. Wenn man den Faden verliert, könnte die Dramatik nur noch wie eine Pose erscheinen, aber dann hat man LINGUA IGNOTA grundsätzlich nicht verstanden (…ist ja auch denkbar…). Und natürlich ist Sinner Get Ready nicht nur kritisch gegenüber Religion. Hayter sucht nach Erlösung, hofft auf Rat und Schutz, erkennt die Allmacht Gottes an… wenn auch voller Furcht und Wut. Diese Themen SIND natürlich unüblich in der Populärmusik, genauso wie die Musik dazu. Wie gesagt hatte Hayter ihrer Mischung aus Kirchenmusik, Gothic und Spuren von Drone und Metal nun noch Appalachian Folk beigemischt… was in diesem Zusammenhang ebenfalls gut passt. So kommt dann immer wieder auch mal ein Lichtstrahl in diese dunkle Welt, auch wenn beim „Pennsylvanian Furnace“ Einsamkeit und Tod das Thema sind. Aber die Melodie ist von schlichter Schönheit und Hayter’s Gesangsvortrag ist – über das ganze Album – buchstäblich „erschreckend“ schön und virtuos. Und wie klug ist es, dem Aufruf zur Sühne „Repent Now Confess Now“ eine Rede des in den USA berühmten Tele-Evangelisten Jimmy Swaggart folgen zu lassen..? um dann die Prostituierte, die er gekauft hatte, zu Wort kommen zu lassen. Also – Ein Album voller Sünde, Sühne Glaube, Wut und widerwilliger Ehrfurcht, das damit endet, dass man bei „The Solitary Brethren of Ephrata“ womöglich ins Paradies eingehen kann… wenn Gott es zulässt. Dieses Album ist in allen Teilen perfekt. Man muss nur mit der Ästhetik und der Thematik klar kommen.

The Windmill-Post-Brexit-Scene

hier folgen zwei ausgewählte Blicke in eine in dieser Zeit wichtige Szene: Die Band Squid gehört wie black midi – aber auch wie Black Country, New Road, Maruja, Shame oder Dry Cleaning – der „Windmill Scene“ an. Das sind Acts, die man – vielleicht – dem schwammigen Begriff „Post-Punk“ oder „Indie Rock“ in verschiedenen Facetten zuordnen mag. In einem eigenen Kapitel will ich auf weitere 2021er Alben von Acts eingehen, die zunächst einmal einfach im gleichnamigen Pub in Brixton auftraten, miteinander kollaborierten und vom Club-Eigner und Produzenten Dan Carey unterstützt und mit der Möglichkeit zu spontanen Produktionen versehen wurden. Man nennt diese Gruppe von Musikern auch Post-Brexit Bands… und damit ist tatsächlich die größte Gemeinsamkeit genannt, denn eine stilistische Einheit bildeten diese Band nicht. Die beiden folgenden Alben von zwei aus der holy trinity der Windmill Scene sind nur Spitzen eines Gebirges von sehr hörenswerten Alben Übrigens ist der dritte „Gipfel“ in diesem Gebirge das ebenso tolle For the First Time von Black Country, New Road, das hier mit demselben Recht beschrieben sein könnte, wie…

Squid
Bright Green Field

(Warp, 2021)

…weshalb ich empfehle, jenes Album einfach auch zu hören… um zu erkennen, dass Bright Green Field von den Brightonern Squid genau in der Schnittmenge zwischen Black Country, New Road und black midi liegen. Dabei aber einen wunderbar eigenen Charakter besitzen. Da ist das auffällige Sprechgeschrei von Drummer Ollie Judge, dessen virtuose Drums in Verbindung mit diesem „Gesang“ allein schon Bewunderung verdienen. Immerhin gab es die Band schon seit 2017, ihre auch von Dan Carey produzierte EP Town Centre (2019) hatte die Welt vorbereitet auf eine Art experimentellen Punk, auf tanzbare Rhythmen, lustvolle, mühelose Komplexität, tanzbare Rhythmen und seltsame Melodien, die auch mal in ungewohnte Atonalität abrutschen. Wie es sich gehört im Post Punk gibt es auf Bright Green Field keine virtuosen Einzelleistungen zu bestaunen – dazu sind die Musiker zu demokratisch. Dafür ist das Zusammenspiel bei einem Track wie „2010“ einfach meisterlich. Die haben sicher genausoviel geübt, wie black midi. Aber ihre Musik ist nicht ganz so proggy oder jazzy, dafür erinnern sie in Momenten an die Kraut-Experimente der einzigartigen Band The Fall… wobei deren Mark E. Smith sie wegen ihres Könnens als Angeber bezeichnet hätte (…der Sack). Aber kein Defätist verdirbt mir solche tollen Tracks wie „Peel St.“, bei denen Squid eine unheimliche Spannung aufbauen und mal nicht ganz so atonal sind. Oder „Narrator“ mit der Gast-Stimme der Experimental-Musikern Martha Skye Murphy. Ein weiterer Song, bei dem man zu einem instrumentalen und psychischen Höhepunkt geführt wird, der tatsächlich eine Erlösung bietet. Oder den standout –Track und Closer „Pamphlets“ mit 8+ Minuten Dauer – ein weiterer „Song des Jahres“ mit treibendem Rhythmus, mit steigender Spannung und verstörenden Breaks und Störgeräusch-Gitarren. Man mag Bright Green Field anstrengend finden, aber ein „weniger“ hiervon wäre enttäuschend. 2021 ist ein „Jahr des Post-Punk“ und dieses Album ist ein Höhepunkte dieser neuen Art von Post Punk, die die Einflüsse der letzten Dekaden aufgesogen hat. Gut so.

black midi
Cavalcade

(Warp, 2021)

black midi hatten 2019 mit ihrem Debütalbum Schlagenheim eines DER Alben des Jahres gemacht. So etwas gab es schon lange nicht mehr: An Jazz, Prog und Noise angelehnten Rock, eine moderne Version von King Crimson vielleicht, coole, junge Musiker, die mühelos alle technischen Herausforderungen zu meistern in der Lage waren. Schlagenheim hatten die Vier quasi im Studio improvisiert… weil das reine Nachspielen von eingeübten Songs sie langweilen würden! Nun wollten sie es – ebenfalls um Langeweile zu vermeiden – anders machen. Die Songs für Cavalcade wurden „konstruiert“, geprobt, und dann erst eingespielt. Den Opener „John L“ nahmen sie in London auf, den Rest des Albums in Dublin. Diesmal eben Songs, die nach dem Debüt auf Tour entstanden waren. Ihr Gitarrist Matt Kwasniewski-Kelvin verließ die Band kurz vor Aufnahmebeginn wegen psychischer Probleme (…die man sich komischerweise bei dieser Musik gut vorstellen kann…), hatte aber noch mit-komponiert. Dafür wurden für das Album der Tour-Saxophonist und -Keyboarder mitgenommen. Dass diese Musiker sprichwörtlich ALLES spielen konnten, wusste man schon. Hier waren Songs wie „Diamond Stuff“ nicht nur deutlich geplant, sie hatten jetzt auch die „Ruhe“ in ihrer eigentlich so nervösen Musik entdeckt. Eine Wohltat, wenn man die vertrackten, hyper-komplexen Breaks und Ausbrüche von Songs wie besagtem „John L“ hört. Dass der Song die „Single“ zum Album war, war mutig – da war wenig Angenehmes, dafür kontrollierter, ein bisschen monotoner Jazz-Skronk-Noise mit harscher Ästhetik. Das Album ist tatsächlich wie das Cover – chaotisch, aber vermutlich genial. Und wenn dann direkt nach „John L“ bei „Marlene Dietrich“ Ruhe und Schönheit einkehren, dann wird das Chaos um so genießbarer. Natürlich hatten black midi keine direkt nachvollziehbar strukturierten Songs. „Chondromalacia Patella“ besteht aus Teilen, die völlig fremdartig snd, teilweise herzerweichend schön, teilweise etwas, das Fusion-Jazzer der frühen 70er hätten machen können. Und das wird aneinander genäht… und passt. Schön und logisch, dass sie mit „Ascending Forth“ ein über 9-minütiges „Jazz-Prog-Werk“ ans Ende von Cavalcade setzten. Möglicherweise war das sogar altmodisch, aber das Schöne ist – man war sich sicher, dass diese Typen sich null um Mode scherten.

Floating Points, Pharoah Sanders & the London Symphony Orchestra
Promises

(Luaka Bop, 2021)

Eine in dieser Zeit logische Paarung. Electronic Minimal Music, Jazz und das London Symphony Orchestra… Jazz hatte sich in den letzten Jahren verändert und tatsächlich wieder Bedeutung erlangt, weil seine Protagonisten sich darauf besonnen hatten, nicht nur Virtuosität zur Schau zu stellen, sondern „spirituell“ oder/und politisch zu werden. War ja auch notwendig in Zeiten von Fake News, erstarkendem Faschismus und Rassismus etc. Und dass der alte (81 Jahre!) ehemalige John Coltrane-Kollaborateur Pharoah Sanders bei dieser Wiederbelebung dabei war, war um so schöner. Denn der Saxophonist und Mit-Begründer des Spiritual Jazz (HÖRT!! sein Album Karma von 1969), war immer ein Garant für mehr als die bloße Zurschaustellung von Können. Aber Promise lebt nicht nur von den beflügelten Läufen Sanders‘, dieses Album wäre ohne die meisterliche Komposition, Produktion und die elektronischen Strukturen des Manucian Sam Shepherd aka Floating Points nicht das geworden, was es ist: Ein Genre-Sprenger. Eine Meditation, EINE Komposition in 9 „Movements“, die auf so vielen Ebenen funktioniert, dass Promises zu einem der wichtigsten Alben der Dekade zählt. Dabei ist es doch so simpel. Ein einziges kleines Motiv aus sechs aufsteigenden Tönen, über denen Sanders mal verträumt, mal ekstatisch improvisiert. Auch wenn er nie die Explosionen früherer Tage erzeugte – der Mann war 81 – aber genau das passt zum minimalistischen Konzept. Das London Symphony Orchestra unter der Leitung von Sally Herbert mochte erst im „6. Movement“ wirklich anschwellen. Aber diese Kraft! Wie wunderbar dieser Klangkörper sich über die schlichte Tonfolge erhebt. Natürlich kann man (mich) fragen, ob Promises irgendetwas mit „Rockmusik“ zu tun hat… aber dann hat der Leser nicht verstanden, um was es in diesem Buch geht. Promises ist Klassische Musik, Jazz, Ambient, Post-Minimalism und vor allem schön wie ein Frühingsmorgen bei offenem Fenster. Eine analytische Betrachtung ist kaum möglich, Man muss zuhören.

Ethereal Shrout
Trisagion

(Northern Silence, 2021)

Und hier die nächste Facette des Metal… des Black Metal,um genau zu sein. Die Art Metal, die in all ihrer scheinbaren Limitierung seit drei Dekaden die revolutionärsten Ergebnisse hervorgebracht hat. Hinter dem Namen Ethereal Shroud verbirgt sich ein gewisser Joseph Hawker aus Sheffield/UK. Einer, der seine eigenen kathartischen Erfahrungen in Musik gefasst hatte, die wenig mit dem zu tun hat, was wir tagtäglich hören. Ethereal Shroud macht nicht den höllischen, Menschen und Götter verachtenden rasenden BM von Burzum oder Dark Throne. Mit Trisagion, seinem zweiten Album nach einem nur ein bisschen schlichteren Album (They Became the Falling Ash, 2015) brachte er zum eigenen Erstaunen ein majestätisches Riff-Ungetüm zustande, das großen Zuspruch in Kenner-Kreisen erhielt. Black Metal ist in vielen Fällen Musik, die aus persönlichen Krisen und Finsternissen entsteht. Hawker hatte (wie wir alle) in den fünf Jahren seit dem ersten Album die Corona-Krise zu verarbeiten, hatte sich (…wie wir alle) mit der Zerstörung des Planeten via Klimakrise, (…wie wir alle) mit dem Aufstieg des Faschismus und mit privaten Krisen herumzuschlagen (…wie wir alle…). Und er hatte (…nicht wie wir alle…) zwei Jahre lang nicht einmal seine Gitarre anfassen können, hatte – zunächst nur im Kopf – drei Kompositionen geschaffen, die all das erneuern und unter anderen Aspekten versammeln, was Acts wie Wolves in the Throne Room gemacht hatten. Man nennt solchen Metal „atmospheric“. Der ist – meist – ideologisch eher anti-faschistisch, eher depressiv als aggressiv und bei Trisagion sehr bombastisch, sehr gut produziert und vor allem melodisch ausgesprochen reich. Natürlich sind Tracks wie der über 27-minütige Opener „Chasmal Fires“ echte Brocken. Da ist Wiederholung ein notwendiges Mittel, sie dient der Katharsis, das Geschrei von Hawker ist verzweifelt und wütend, die Gitarre rast, ist aber kein bloßes weisses Rauschen. Die Drums (vom Freund John Kerr eingetrommelt) donnern virtuos, hier gibt es nicht den bewusst primitiven Sound mancher fundamentalistischer BM-Kapelle. Und Wucht und Wut sind deshalb nicht weniger deutlich erkennbar! Hier und da eine sanftere Passage bringt sogar so etwas wie Abwechslung. Beeindruckend, dass auch das gelingt, ohne in hohles Pathos abzugleiten. Wieauchimmer er das gemacht hat – viele der Dynamik-Tricks hatte er offenbar bei zeitgemäßen Post Rock Acts wie Godspeed gelernt… und klug eingesetzt. Trisagion ist Black Post Metal in Vollendung. Trivia: Hawker erklärt auf der Bandcamp Site zum Titel:…Trisagion‘ is a term meaning ‚Thrice Holy‘ and used to denote an orthodox hymn in three parts“ …Na dann…

Low
HEY WHAT

(Sub Pop, 2021)

Low sind in diesen Jahres-Hauptkapiteln schon drei mal aufgetaucht – das letzte Mal im Hauptartikel 2018, mit dem HEY WHAT-Vorgänger Double Negative – und obwohl Low’s Musik scheinbar so einfach ist, hat diese Band seit 1994 eine so spannende Entwicklung gemacht, dass die vier von mir exponierten Alben eigentlich zu wenig sind, nicht abbilden können, was Mimi Parker und ihr Ehemann Alan Sparhawk + Bassist alles aus dem ehemals so genannten „SlowCore“ gemacht haben. HEY WHAT würde aufgrund des traurigen Umstandes, dass Mimi Parker im November 2022 an Krebs starb, das letzte Album von Low werden. Todesahnung waren allerdings kein Thema auf diesem Album. Stattdessen wurde auf die wunderbare Low-Art das Experiment weitergeführt: Wobei man beachten muss (und kann), dass Low in Zusammenarbeit mit dem Produzenten BJ Burton eigentlich immer „nur“ wunderschöne Songs in dieser oder jener Verkleidung präsentierten. So beruht meine Begeisterung für HEY WHAT zu einem großen Teil auf genau dieser Schönheit von Songs wie „White Horses“ oder „All Night“. Man muss diese herzergreifenden Harmony-Vocals von Mimi und Alan hören, die in dem hier sehr verfremdeten instrumentalen Umfeld um so schöner, um so „menschlicher“ klingen. Oft wirkt der Gesang der beiden fast choralhaft. Vielleicht kommt dieser Eindruck aus dem Wissen, dass Parker und Sparhawk bekennende Mormonen sind. Dass HEY WHAT nicht mehr als „SlowCore“ bezeichnet wird, liegt an der Produktion, die man eben gemeinhin nicht mit diesem Stil verbindet. Bunton und Low nahmen quasi jeden instrumentalen Klang, und jagten ihn durch Verzerrer, loopten, drehten die Gitarren und Bässe auf links, ließen die Gitarren rückwärts laufen… und hielten nur an der Ästhetik der Melodien fest. Und da hatten Sparhawk und Parker wirklich wieder in einen Topf aus Gold gegriffen. Der Gedanke mag aufkommen, dass ein Track wie „HEY“ ohne die Verfremdungen und Sound-Gimmicks kitschig wäre. Aber auch die natürliche Kargheit der Simme von Mimi Parker würde Kitsch verhindern. Wieder mal gab es ein im wahrsten Sinne des Wortes „schönes“ Album von Low. Um so trauriger, dass die Band 2022 bekannt gab, dass Mimi Parker an Krebs erkrankt sei, die geplanten Konzerte abgesagt werden mussten und der Kampf gegen den Krebs Ende 2022 verloren ging. Alan Sparhawk beendete die Band mit der Aussage, Mimi sie Low gewesen. Stimmt.


…Most Important Others

…selbstverständlich auch wieder: Mag sein, dass demnächst eher über den Death Metal von Ad Nauseam’s Imperative Imperceptible Impulse gesprochen wird, als über Ethereal Shroud. Oder dass Tyler, The Creator’s Call Me If You Get Lost oder Injury Reserve’s By the Time I Get to Phoenix wichtiger sein werden, als JPEGMAFIA (obwohl ICH das nicht glaube…). Und was ist mit Mercurial World von den Synthpop-Meistern Magdalena Bay? Na ja. Die werden 2024 ein NOCH besseres Album machen. Daher beschreibe ich sie hier nicht. Auch weggelassen habe ich den tollen IDM von Skee Mask auf dessen Pool und den Indie Pop von Lucy Dacus‘ Home Video oder Black Country, New Road’s Windmill Scene Debüt For the First Time, weil ich an deren Stelle Squid und black midi gestellt habe. Es ist so viel gute Musik zu finden, dass bei einer Auswahl von Alben von zwölf Künstlern zwingend dies und das fehlt. Dafür GIBT es diese/s Buch/Website, das/die ständig erweitert wird…