1979 – Tubeway Army bis Steve Hillage – Synthesizer trifft Pop

Ab Ende der 70er wird erstmals „elektronische Musik“ – das meint hier – hauptsächlich mit Synthesizern erzeugte Musik zu Pop. Sie wird kommerziell erfolgreich, ihre Protagonisten werden zu einem neuen, distanzierter wirkenden Typus Popstar. Für diese Entwicklung gibt es mehrere Gründe:

Zum Einen waren Synthesizer bisher ganz einfach zu groß und unhandlich – und zu teuer. Der erste Mini-Moog z.B. wurde zwar schon Anfang der Siebziger eingesetzt, aber halbwegs bezahlbar – und technisch ausgereift – war er erst Ende der Siebziger. Hinzu kam, das „elektronische Musik“ in den frühen Siebzigern (und erst recht davor) oft zu experimentell für den Massengeschmack war. Benutzer von Synthesizern waren eher Techniker als Rockmusiker, man konnte mit Synthesizer weder über die Bühne rennen, noch konnte man das Publikum animieren. So waren deutsche Acts wie Cluster oder Tangerine Dream anspruchsvoll, aber sicher nicht Single-Charts-tauglich, und ihre Konzerte waren von langhaarigen End-Zwanzigern besuchte Messen mit langatmigen Tracks, die eher in Trance versetzten, als zum Tanzen zu animieren. Die ersten, die Pop und Elektronik zusammendachten, waren Kraftwerk – die mit kürzeren Tracks und einem auch optisch bewusst roboterhaft-kühlen Konzept auch bald viele jungen Bands der Post-Punk Generation beeinflussten – sowohl im Sound als auch im Auftreten. Nachdem 76-77 Punk explodiert war, nachdem sich die Vorherrschaft der instrumentalen Virtuosität zerschlagen hatte und Musik nun oft konzeptuell geplant wurde, war eine neue Art elektronischer Musik möglich. Diese Musik verhandelte die soziale Kälte und die aktuelle gesellschaftliche Atmosphäre von Angst und Hoffnungslosigkeit. Ich sage nur: Maggie Thatcher – ab ’79 britische Premierministerin, oder die in dieser Zeit akut werdende Angst vor einem Atomkrieg, die Verschärfung des Kalten Krieges (Einmarsch der Sowjets in Afghanistan, Atom-Aufrüstung in Westeuropa…). Ich denke, all das hatte sehr grossen Einfluss auf die neue Musik – egal ob Post-Punk oder Synthie Pop. Somit waren die gesellschaftlichen Gegebenheiten da, die dem Synthie Pop bzw. der neuen Form der elektronischen Musik ihren Charakter gaben. Einen Charakter, der sich bis weit in die Zukunft zu einem bestimmten Bild verfestigen würde. Dem Bild, in dem Synthie-Pop kalt, hektisch, roboterhaft, unemotional, dystopisch, hartkantig etc pp (man kombiniere, wie man will) dargestellt ist. Was wäre wohl, wenn die politischen und sozialen Gegebenheiten anders gewesen wären? Aber letztlich stellen die Stilmittel einer Musik nur die Verkleidung für mehr oder weniger gelungene Songs und Ideen dar. Und so gibt es schon ganz am Anfangspunkt der „populären elektronischen Musik“ ganz famose Alben mit großartigen Songs von tollen Musikern…

https://music.apple.com/de/playlist/der-gro%C3%9Fe-rockhaus-1979-synthie-pop/pl.u-WabZ6DRUdKkB04b

Tubeway Army
Replicas

(Beggars Banquet, 1979)

Art Direction – Malti Kidia, Foto Geoff Howes

Hiermit geht die Karriere des Gary Anthony James Webb aka Gary Numan erst richtig ab. Der androgyne Künstler hatte schon einige Zeit mit dem Bassisten Paul Gardiner und dem Drummer Jess Lidyard punkigen New Wave gespielt. Aber er hatte von Anfang an eine Vorliebe für den Sound der Synthesizer und seine Vision von Musik war eindeutig an Vorbilder wie Kraftwerk und an die dystopischen Bücher Philip K. Dick’s angelehnt –. Mit Replicas setzte er dann (…nach einem guten, aber etwas konventionelleren ersten Album im Vorjahr…) diese Vorstellungen erstmals wirklich um. Wie das zu dieser Zeit normal, üblich und auch verständlich ist, spielen auch auf diesem Album Gitarre, Bass Drums eine zentrale Rolle – aber dennoch – der intensive Gebrauch von Synthie Sounds und Numan’s androgyne, bewusst kühle Stimme geben dem Album eine Atmosphäre, die an Cyberpunk-Bücher/Filme wie Neuromancer oder Blade Runner erinnern (sollen). Aus der zeitlichen Entfernung betrachtet sind auf Replicas Bowie, Wire, Eno und Kraftwerk zu gleichen Teilen präsent – überlagert von einer Zugänglichkeit, die keiner der vier genannten üblicherweise anzubieten gewagt hätte. Und wirklich – Replicas wurde im UK zum Millionenseller, kam sogar in den USA an und bescherte Numan zwei bis drei Jahre Ruhm – und mit „Are Friends Electric“ einen ganz großen Klassiker. Dazu kommen Songs wie „Down in the Park“ (später u.a. von Marilyn Manson gecovert – der sich Gary Numan genau angeschaut haben dürfte…) oder mit „When the Machines Rock“ und dem tollen „It Must Have Been Years“ die notwendigen Tracks um dem Album als Ganzes zu seiner Klasse zu verhelfen. Tatsächlich macht diese Dystopie um Maschinen, die den Menschen als notwendigerweise auszurottende Spezies ansahen, viel Spaß.

Gary Numan
The Pleasure Principle

(Beggars Banquet, 1979)

over – die selben Leute wie bei Replicas

Numan nutzte den Erfolg klug, um gerade mal sechs Monate später sein erstes Solo-Album hinterher zu schieben. Der Schritt war logisch – er ließ den Freund Paul Gardiner weiter den Bass bedienen, aber The Pleasure Principle ist „synthetischer“ als Replicas, Gitarren und Drums werden nun komplett durch synthetische Percussion, Mini- und Polymoog ersetzt – und es hat mit „Cars“ einen Hit, der auf beiden Seiten des Atlantik einschlug. Numan hatte seinen Sinn für Pop mit dem Tubeway Army-Album bewiesen und bestätigte diesen hier noch einmal. Man könnte es so ausdrücken: Hätte Brian Eno einen Vertrag mit dem Teufel abgeschlossen, bei dem er die Hälfte seiner Haare gegen die Hälfte seines Genius eingetauscht hätte, so wäre ER wohl Gary Numan. Pleasure Principle hat wieder einige sehr gelungene Tracks, funktioniert als komplettes Album. Es gibt kein Konzept wie bei Replicas, aber die Themen sind immer noch futuristisch/roboterhaft und hier mehr noch als auf Replicas herrscht eine Kühle, die im Kontrast zur Wärme der poppigen Melodien zu stehen scheint. Mit dem instrumentalen Opener „Airline“, mit „Metal“, das die Sehnsucht eines Androiden beschreibt, Mensch zu werden, und vor Allem mit dem wunderbar melodischen „M.E.“ war er am Puls der Zeit – wenn nicht sogar seiner Zeit voraus. Nicht verwunderlich, dass „Films“ bald von der HipHop-Szene genauso gerne gesampelt wurde wie Kraftwerk. Dieses Album mit seinen Ein-Wort-Titeln hatte mit Telekon zwar noch einen gelungenen Nachfolger – aber dann war erst einmal Schluss. Numan versank, als Synth-Pop erwachsen wurde, für lange Zeit in der Bedeutungslosigkeit.

Human League
Reproduction

(Virgin, 1979)

Cover – Auxiliary Images

’79 haben wir’s nicht mehr lange bis zu Orwell’s 1984 – und Aldous Huxley’s Brave New World scheint auch nicht mehr weit weg. Da liegt ein Albumtitel (und ein LP-Cover) wie Reproduction genauso nahe, wie der Titel der des Tubeway Army Albums Replicas… Dazu die allgemeine gesellschaftliche Stimmung und der Trend zur Synthetisierung von Popmusik – Human League und ihr Konzept sind ein logisches Ergebnis all dieser Einflüsse. Die drei Musiker + Visual Artist waren ’77 zusammengekommen, hatten aber im Gegensatz zu Tubeway Army/Gary Numan von Beginn an mehr Interesse an Experimenten (…der Kraftwerk-Art…) als am Punk – allerdings wurden sie durchaus im Zusammenhang mit dem ’79 aktuellen Post-Punk wahrgenommen – Human League waren z.B. mit The Fall und Gang of Four auf Tour…. So wurde dann nach einem kleineren Hit („Being Boiled“ – erst auf späteren Re-issues enthalten) das Debüt Reproduction in drei Wochen mit Produzent Colin Thurston in der Industriestadt Sheffield aufgenommen. Dieser hatte die entsprechende Vita, hatte Bowie und Iggy Pop in Berlin mit-produziert und kam mit dem rein auf Synthie-Sounds und Rhythmen basierenden Sound von Human League gut zurecht. Human League sind etwas weniger „Pop“ als Numan, ihre Songs haben eine bewusst kalte, dystopische Atmosphäre, an den zwei Jahre später durchbrechenden kommerziellen Stärken wird noch gearbeitet – was man allerdings heute wohl nicht mehr so wahrnimmt – diese Musik mag ’79 fremd und neu geklungen haben, heute sind wir da weiter. Auch Human League bezogen sich (wie Numan) in ihren konzeptuellen Lyrics auf Sci-Fi Autoren wie Phillip K. Dick (Der Opener „Almost Medieval“ zitiert Dick’s Ubik) und bei „Blind Youth“ wird J.G. Ballard behandelt. Die Coverversion des 60er Phil-Spector-Schmachtfetzens „You’ve Lost That Loving Feelin’“ wird zur Cyberpunk-Tragödie, perfekt inszeniert für Phil Oakley’s theatralischen Gesang. „Circus of Death“ ist regelrecht erschreckend, „The Path of Least Resistance“ und das meditative „The Word Before Last“ zeigen aber auch, dass diese Band Pop konnte. Kein Jahr später kam mit Travelogue die Fortsetzung, aber dann verließen mit Martyn Ware und Craig Marsh 2/3 der kreativen Kräfte die Band um Heaven 17 zu formen und Human League morphten zu einer perfekten Synth-Pop Maschine mit einem ganz tollen und weit erfolgreicheren Album (Dare – siehe 1981…) Reproduction und in geringerem Maße Travelogue aber sind die innovativeren und interessanteren Alben.

The Sparks
No 1 in Heaven

(Virgin. 1979)

Coverdesign – Steven Bartel

...und schon verlasse ich die „reine Lehre“ des Synthie Pop – No 1 in Heaven ist schließlich schon das achte Album eines Duo’s, das zu Beginn der Siebziger in L.A. entstand – und das zwar für den Klang der Synthie’s wie geschaffen war, sich aber erst einmal dort hin entwickeln musste. Und mit ihrem ’79er Album sind die Sparks angekommen. No 1 In Heaven ist… Equally cheesy and sublime, much like the very concept of heaven itself. Produziert vom Disco-Papst (damals wie heute) Giorgio Moroder klingt die Musik auf No1 in Heaven heute fast unheimlich modern, insbesondere wenn man bedenkt, zu welcher Zeit sie aufgenommen wurde. Das hier ist Synthie-Disco aus einer Zeit, als es so etwas nicht gab! Chic und Sister Sledge – so toll sie waren – machten „analoge“ Disco-Musik mit den Mitteln des Funk und Soul, mit dem Instrumentarium der 60er, die Sparks und Giorgio Moroder bauten auf No 1 in Heaven fast komplett auf synthetische Sounds (bloß die Drums waren „menschlich“) und waren damit einem großen Teil ihres bisherigen Publikums weit voraus. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass die beiden Mael-Brüder schon als Halfnelson zwar exzentrischen, aber doch immerhin noch „analogen“ avantgardistischen Glam-Pop gespielt hatten – und dass mindestens die direkt folgenden sehr erfolgreichen drei Alben Kimono My House, Propaganda und Indiscreet auch ungewöhnlich, aber nicht ungewöhnlich instrumentiert waren. Mit Moroder und dem Umzug nach Europa wagten die Beiden den Schritt Richtung „elektronischer“ Popmusik. Und dieser Schritt wurde auch ganz bewusst gewagt, sie waren damit am Puls der Zeit und zugleich deutlich vor den meisten anderen Musikern ihrer Generation (Nur Bowie hatte wie erwähnt schon zwei Jahre zuvor elektronische Spielereien + Pop gewagt). So ist No 1 In Heaven der Beweis, dass die Sparks für Synthies geschaffen sind (oder umgekehrt), dass sie ihre unwiderstehlichen Songs und die brillianten, beissend ironischen Lyrics nicht verändern müssen, um sie in Moroder’s Produktion einzupassen. No 1… ist kein kühles, dystopisches Roboter-Album, sondern exzentrische, kluge Popmusik mit den Mitteln von Disco und Synth-Pop, und Songs wie „La Dolce Vita“ oder die Hit-Single „Beat the Clock“ balancieren geschickt auf dem Grat zwischen Hysterie und Coolness, Disco und kluger elektronischer Musik. Das Album ist nach ökonomischen 34 Minuten vorbei – mehr braucht es nicht.

Ungepoppte Elektronik…

Das Feld „elektronische Musik“ ist Ende der Siebziger schon ein weit ausgedehntes. Da gab es zu Beginn der Siebziger neben den Elektro-Pop Pionieren Kraftwerk in Deutschland noch die „Berlin School“ mit Tangerine Dream und Klaus Schulze, da waren Bands wie Ashra und Cluster/ Harmonia, die wiederum mit Brian Eno herummachten – der wiederum vor kurzem Ambientmusik erfunden und ausdefiniert hatte und nebenbei David Bowie’s Musik mit elektronischen Sounds übergoss (Siehe Low und Heroes…). Es gab außerhalb Deutschlands frühe Elektronik-Rock-Acts wie wie White Noise oder die Silver Apples sowie diverse Industrial/ Minimal Synth Acts wie die verrückten Amerikaner The Residents und Suicide oder die weiter unten erwähnten Schotten Throbbing Gristle. Und die alle haben Wurzeln bei aus der modernen Klassik schöpfenden Musikern wie Karl-Heinz Stockhausen oder John Cage. Das Feld der Inspirationen ist weit, die Geschichte der mit elektronischen Mitteln manipulierten/gesampelten Musik ist auch Ende der Siebziger schon lang – und jetzt kommen die oben genannten jungen Synthie-Popper dazu, die mit neuen Mitteln erzeugte Musik populär machen. Es sind Musiker, die Avantgarde mit Elektronik und Punk bzw. Post-Punk und/oder Pop verbinden. Und es kommen aus genannten Gründen (Erschwinglichkeit des Synthesizers…) immer mehr Sound-Extremisten ans Tageslicht, die den Synthesizer für herrlich-schrecklichen Krach nutzen. Bands wie Cabaret Voltaire (die schon seit ’73 existieren, aber jetzt erst Alben veröffentlichen) oder zum Beispiel die US Amerikaner..

Chrome
Half Machine Lip Moves

(Siren, 1979)

Cover – Band-Kopf Damon Edge

Chrome aus San Francisco existieren auch schon seit ’76. Sie haben ’77 – mit konventionellen Mitteln (= Gitarre, Bass, Drums) im Bandformat mit Alien Soundtracks ein großartiges Noise/Punk-Album gemacht. Inzwischen bestehen sie im Grunde nur noch aus dem Gitarristen/ Bassisten Helios Creed und dem Synthesizer Spezialisten Damon Edge der auch das Drumming selber erledigt und dazu singt wie Iggy Pop. Dieser experimentelle „Punk“ ist stark von Creed’s Synthesizer-Noise geprägt – der schafft auf diesem Album eine dystopische Stimmung aus seltsamen Sounds, während Edge dunkel-psychedelische Gitarrensounds darüber legt. Heraus kommt Musik, die im Niemandsland zwischen Elektronik und Punk liegt, die unbequem ist und von Schlieren aus Maschinenöl und LSD durchzogen scheint. Half Machine Lip Moves beginnt mit dem fragmentarischen „TV as Eyes“, das sich im Verlauf in einen Drone verwandelt, der durch TV-Kommentare zerfetzt wird. Aber das Album hat durchaus auch „konventionelle“ Passagen – nicht nur weil Damon Edge Bass/Gitarre einsetzt, sondern auch, weil es Tracks gibt wie das Power-Pop-artige „March of the Chrome Police (A Cold Clamey Bombing)“, bei dem Edge mit hämischer Stimme über primitivem Maschinen-Beat einer normalen Songstruktur folgt. Aber überall dort, wo diese normalen Strukturen erscheinen, wird eine schmierige Schicht aus Noise, Gesprächsfetzen und der bis ins unkenntliche verzerrten Stimme ‚drübergegossen. Das Album entspricht dem Cover, es ist irgendetwas zwischen Noise, Punk und Industrial – und es ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die Genre-Ordnung, die ich so frech anwende, nie einer „reinen Lehre“ folgt.

Throbbing Gristle
20 Jazz Funk Greats

(Indstrial, 1979)

Fotograf – Clay Holden. Geschossen am
beliebten Selbstmörder-Hot Spot Beachy Head.

20 Jazz Funk Greats ist wahlweise die x-te Veröffentlichung, das dritte Album oder das erste „richtige“ Studioalbum der Industrial/Dark Ambient/Minimal Synth Pioniere aus Schottland. Throbbing Gristle haben seit Mitte der Siebziger extremen Noise-Terror mit Synthies und skandalösen Konzepten voller Nazi/Porno-Symbolik betrieben, sie sind bei Teilen der Musikpresse regelrecht verhasst, aber sie haben die Grenzen der Musik nach Punk in Richtungen vorangetrieben, in die ihnen jetzt weit weniger extreme und kommerziellere Acts folgen. Ich bin mir sicher – ohne Throbbing Gristle gäbe es Human League, Soft Cell oder Cabaret Voltaire nicht – auch wenn der NME ein paar Monate zuvor im Zusammenhang mit Throbbing Gristle den „death of music“ vorhergesagt hatte. Lustigerweise sind Titel und Cover von 20 Jazz Funk Greats der ironische Versuch, kommerziell zu erscheinen. Der cheesy Covershot wurde zwar an den Kreidefelsen von Beachy Head, einem DER Selbstmörder-Hotspots Englands hergestellt, aber Sleeve-Design und Albumtitel lassen auf den ersten Blick wohl kaum an avantgardistischen Industrial denken – was beabsichtigt war: Man wollte unschuldige Käufer mit dem Cover dazu verführen, Musik zu hören, die schockiert. Und dabei ist 20 Jazz Funk Greats nach TG-Maßstäben – fast konsumentenfreundlich. Die vier Musiker produzierten unter dem Pseudonym Sinclair/Brooks selber, arbeiteten quasi ausschließlich mit Synthie’s, und hatten ein paar Tracks dabei, die nahezu tanzbar waren. Und auch das gehörte zum Konzept – man machte ein paar touristische Ausflüge in die Bereiche Disco und Exotica um die Prinzipien des musikalischen Marketings ad absurdum zu führen. Schlau ausgedacht – und sehr schön, wenn es gelingt. Die LP beginnt mit zwei strengen, fast atonalen Soundcollagen – eine davon womöglich an besagtem Beachy Head aufgenommen – ehe Wortfetzen „Still Walking“ ans Songformat rücken. „Convincing People“ IST dann ein Song – mit verstörenden Lyrics, genau wie der „Hit“ des Albums, das an Disco angelehnte „Hot on the Heels of Love“, bei dem Cosey Fan Tutti wortlos ins Mikro stöhnt. Oder das perverse „Persuasion“, das mit Genesis P. Orridge’s monotonem Geschwätz perfekt das Image von TG vertont. 20 Jazz Funk Greats ist – auch wenn vergleichsweise „kommerziell“ – verstörend und unbequem und es gilt zu Recht als Vision für die kommende Dekade.

Cabaret Voltaire
Mix-Up

(Rough Trade, 1979)

Cover – unbekannt…

Cabaret Voltaire sind die nord-englischen Cousins von Throbbing Gristle (…und haben ihre ersten Tapes auf Throbbing Gristle’s Industrial Label veröffentlicht …). Sie existieren schon seit ’73 und sie haben – wie TG – bislang als Performance-Künstler mit Dada-Einflüssen und Tape-Manipulationen gearbeitet und sind u.a. zusammen mit Joy Division aufgetreten: Seit dem Ende der Siebziger nutzen sie die inzwischen erschwinglichen Synthesizer um ihre Art extremer, von elektronischen Sounds durchzogener Musik umzusetzen. Mix-Up ist nach einigen EP’s und Singles das erste komplette Album des Quartetts. Noch sind sie deutlich von Punk beeinflusst, machen ihren Lärm mit Synthies und Bass, Gitarre, Drums, aber die Einflüsse von Post-Punk und Avantgarde, die Vorbilder Suicide oder meinetwegen Kraftwerk auf einem schlechten Trip sind deutlich hörbar. Im Gegensatz zu TG lassen sie sich von Dub und Funk beeinflussen – und haben Krautrock mit seinen motorischen Beats gefressen. Dafür vermeiden sie die expliziten Provokationen ihrer Kollegen – und sind somit ein bisschen genießbarer. Mix-Up ist nicht ihr bestes Album (das wäre Red Mecca von ’81), aber mit dem durch Noise und verzerrte Vocals fast unkenntlich gemachten Cover des Seeds-Klassikers „No Escape“ – mit dem LSD-Trip „Heaven and Hell“ und mit dem paranoiden Roboter-Funk von „On Every Other Street“ – dem einzigen Song mit Live Drumming, sind genug Highlights auf diesem Debüt versammelt. Cabaret Voltaire waren eine Band, die insbesondere in den Jahren zwischen ’78 und ’82 exzellente Singles und EP’s machte. Die Compilation Living Legends (von 1990) ist die perfekte Ergänzung zu Red Mecca und zu diesem Album.

Pyrolator
Inland

(Ata Tak, 1979)

Cover – Art Attack aus Düsseldorf…

Deutschland hat – wie gesagt – eine lange Tradition in der „elektronischen Musik“, die sich nun zu Pop verwandelt – ich erwähne nur mal Namen wie Tangerine Dream, Cluster, Kraftwerk etc… Die Genannten haben eine Historie hinter sich, sind sozusagen geübt im Umgang mit Synthesizern und anderen elektronischen Klangerzeugern – und ihre Musik hat (…bis auf Kraftwerk natürlich – die aber ’79 kein neues Album veröffentlichen) eher ein „kosmisches“ oder – ich übersetze es mal hier hin – „natürlich“ anmutendes Flair. Die konzeptuelle Kühle fehlt ihnen. Aber bei dem in Wuppertal geborenen, in Düsseldorf aktiven Kurt Dahlke aka Pyrolator wird man in der Ecke der kühlen Elektronik fündig. Der Mann hat viel zu tun. Er hat das Label Ata Tak gegründet, war in diesem Jahr schon mit seinen Kollegen von der Deutsch Amerikanischen Freundschaft kreativ, als er deren erstes Album veröffentlichte (das aber nicht so gut ist, wie dieses erste Solo-Album). Er verlässt bald DAF und geht zu Der Plan und gestaltet deren Geri Reig mit, macht bei den Fehlfarben und ihrem Monarchie und Alltag mit… er macht so Einiges, was interessant ist und ist wichtiger Teil der Düseldorfer Kunst/Elektronik-Szene. Und Inland ist eine Art Leistungsschau für ihn. Geräusche und Radio-Schnipsel treffen auf weisses Rauschen, manchmal gibt es schon tanzbare Rhythmen, „Danger Cruising“ ist fast fröhlich, aber das Meiste auf diesem Album ist bedrohlicher Noise, der mich eher an die Musik von Cabaret Voltaire erinnert. Allerdings sind bei Pyrolator die Tonerzeuger ausschließlich Synthesizer in Kombination mit ein paar Tape-Loops. Inland wirkt in seiner ganzen Machart wie ein Testlabor: Tracks wie „Inland 1-4,“ „Minimal Tape“ oder „Struktur 01“ sagen ja auch genau das… Dahlke kann Pop, aber es wirkt auf mich, als WOLLE er hier den Synth-Pop dieser Tage aus der Spiel-Ecke herauszerren und ihm die bedrohliche Kühle des Ratinger Hof’s an einem Dienstag-Morgen, ca 5:00 Uhr geben. Er wird da bei den kommenden Alben weniger streng sein – das dritte Album Wunderland wird im Dschungel tanzen, aber Inland ist ein ernsthafter Brocken, den man nur als Industrial- Referenzwerk hinstellen kann. Ein anstrengendes Album, das eine bestimmte Stimmung vorausetzt. Um so faszinierender, wo Pyrolator hingehen wird.

Günter Schickert
Überfällig

(Sky, 1979)

Cover – muss ich noch Herausfinden

Und auch die Musikszene in der geteilten Stadt – die „School of Berlin“ – hat den Nutzen des Synthesizers schon früh erkannt, ihn in ihre Musik integriert und in Bands/Musikern wie Tangerine Dream und Klaus Schulze echte Piobniere auf den Weg gebracht. Einer aus dieser Berliner Szene ist Günter Schickert – Roadie von Schulze, mit dem Trio GAM und mit einem Soloalbum (Samtvogel, ’74) nicht kommerziell, aber künstlerisch erfolgreich. Mit Überfällig kommt ’79 sein zweites Solo-Album auf den Markt – ein bisschen zur Unzeit würde ich sagen, denn der sogenannte „Krautrock“ hat nach Punk einen etwas altertümlichen Geruch (zu Unrecht, wenn man es genau betrachtet) und Schickerts tolles Album hat wieder keinen durchschlagenden Erfolg. Aber es wird im Laufe der Jahre einen immer höheren Stellenwert bekommen – wie die Musik von Neu!, Can, Schulze, Harmonia etc pp… Die Vergleiche mit Neu! Und Harmonia sind mit Bedacht gewählt, Überfällig ist ein Cousin der besten Alben der beiden Acts – und das betrifft nicht nur den Sound, sondern auch die Klasse. Ob man das Synthie-Pop nennen soll…? Vielleicht ja auch nicht, denn die tragende Säule von Schickert’s Musik ist die Gitarre, aber er sampelt und loopt, er nutzt Synthesizer und Rhythmusmaschinen, er kreiert Musik, die so elektronisch wie analog ist. Der Viertelstündige Opening Track „Puls“ macht seinem Namen alle Ehre, das Intermezzo „In der Zeit“ klingt nach Folktronica, die es noch gar nicht geben darf, „Apricot Brandy“ lebt von Field Recordings am Meer und einem kosmischen Beat, dieses Album verweigert sich den Kategorien – und könnte natürlich auch außerhalb dieses Artikels in anderem Zusammenhang behandelt werden – aber ich fand es passend, es mit dem Beginn der elektronischen Popmusik zu präsentieren – weil es auch zu folgendem Album passt…

Steve Hillage
Rain Dome Musick

(Virgin, 1979)

Cover – Rupert Atwill

Das sechste Solo-Album vom ehemaligen Gong-Gitarristen Steve Hillage ist – wie Überfällig von Günther Schickert – das nächste Album, das man überall einordnen könnte, das etliche Grenzen überschreitet – und das aus dem simplen Grund hier landet, weil es mit dem massiven Einsatz der ’79 so angesagten Synthesizer entstanden ist. Dabei ist Hillage ein Gitarrist mit eindeutigem „Hippie“ Appeal – aber immerhin auch einer, der Punk sehr wahrscheinlich toll fand – der aber durch das inzwischen verselbstständigte Klischee des versponnenen Kiffers und langhaariger Freaks nicht so recht neben den androgynen Androiden Gary Numan passen will. Bei diesem Album aber sollten wir die Vorurteile beiseite schieben – und das Vorurteil, dass Ambient mit New Age-Anklängen banale Hintergrundmusik ist gleich in die selbe Tonne werfen. Denn so muss man Rain Dome Musick beschreiben, wenn man in den geläufigen Kategorien bleiben will. Aber mit dem Begriff „New Age“ oder meinetwegen „Chill-Out Ambient“ stellt man dieses Album in eine Reihe mit Sauna-Entspannungs-Musik – und täte ihm sehr unrecht. Rain Dome Musick ist die britische Antwort auf die besten Alben der inzwischen schwächelnden Tangerine Dream, es besteht aus zwei langen Tracks, die Hillage für das Mind, Body, Spirit-Festival ’79 in London gemacht hatte, und durch die exzessive Verwendung urtümlicher Synthesizer und das Fender Rhodes Piano bekommt die Musik in etwa den Charakter der elektronischen Tracks von Bowie’s Berlin-Trilogie. Hillage’s Gitarren-Glissandi überzuckern die Ambient-Tracks dann mit dem typischen Sound von Gong ca 1973 – was der Musik nicht schlecht steht. Da beginnt „Garden of Paradise“ mit dem Klang von fließendem Wasser und verträumtem Electric Piano, über das sich ein Synth-Muster legt, ein String Synthesizer erklingt im Hintergrund und dann setzt Hillage’s quecksilbriges Gitarrenspiel ein. Rain Dome Musick IST Chill-Out Ambient… von höchster Klasse. Und das ist nur der Beginn einer weiteren Variante dessen, was man so ungenau als „elektronische Musik“ bezeichnet.