1975 – Fripp & Eno bis Pôle – Vom Autounfall, der Ambient verschuldete über Krautrock bis nach Frankreich

Nachdem Brian Eno im letzten Jahr Roxy Music verlassen hatte, war er mit zwei Solo-Alben irgendwo zwischen Art-Pop und Experiment recht erfolgreich gewesen. Aber 1974 wurde seine Arbeit dann durch einen Autounfall unterbrochen.

Aber 1974 wurde seine Arbeit dann durch einen Autounfall unterbrochen. Die von ihm kolportierte Geschichte lautet, dass er – ans Bett gefesselt – beim Anhören mittelalterlicher Harfenmusik nicht die Kraft fand, das Tape richtig zum Laufen zu bringen. Er stellte fest, dass die im Hintergrund nur fragmentarisch hörbare Musik seltsam beruhigend und zugleich interessant war. Er beschloss, Musik mit diesem Charakter selber zu kreieren, Melodiefragmente mit den Mitteln der Wiederholung und Verfremdung zu „akustischen Möbeln“ zu machen. Dass es vorher schon Musiker gab, die ähnliche Klangexperimente gemacht hatten, wird er gewusst haben: Schon Eric Satie hatte den Begriff „Furniture Music“ geprägt, Etliche Bands aus Deutschland – wie Cluster oder Tangerine Dream und deren Ex-Mitarbeiter Klaus Schulze – machten zu dieser Zeit mit anderer Intention ähnlich klingende experimentelle „elektronische“ Musik (wobei da mitunter nicht einmal Synthesizer verwendet werden – die sind ’75 noch teuer und unausgereift. Manuel Göttsching etwa loopt seine Gitarren…) und Eno würde ganz logisch bald mit den Cluster-Musikern zusammenarbeiten und seine Bewunderung für Bands wie Kraftwerk in den entsprechenden Kreisen verbreiten. Aber seine ureigene Version der ambienten Musik klang immer anders, hatte immer einen gewissen artifiziellen Pop-Ansatz, der vielleicht noch aus seiner Zeit mit Roxy Music herrührt. Damit sollte er bald auch etliche andere Musiker beeinflussen – einer der Ersten würde David Bowie in seinem selbstgewählten Exil in Berlin sein… Aber die Verbindung ist da – und wer Eno ’75 mag, dürfte auch an Klaus Schulze oder Harmonia gefallen finden. Und in diesem Zusammenhang muss man auch die französischen Electronique-Musique Pioniere von Pôle Records und die Musik von Heldon kennenlernen. Ob Eno sie kannte, weiss ich nicht – damals gab es keine Streaming Dienste und kein Internet. Aber deren Musik hätte ihn interessiert, sie liegt nah an Krautrock und an Ambient – eine vielleicht unbewusste Verbindung zwischen beidem.

https://music.apple.com/de/playlist/der-gro%C3%9Fe-rockhaus-1975-ambient-elektronik/pl.u-NpXm9xmtmdx2r8D

Bian Eno – Another Green World
(Virgin, 1975)

Brian Eno – Discreet Music
(Obscure, 1975)

Fripp & Eno
Evening Star

Im Hauptartikel über 1975 gewürdigt, wären diese beiden Alben eigentlich der richtige Aufmacher für diesen Artikel, der – ein bisschen random – den Bogen von Ambient über Kraut bis zur elektronischen Musik in Frankreich schlägt. Immerhin ist hier das dritte Eno-Album – die Kollaboration mit Robert Fripp – das erste beschrieben Album… in einer Reihe, die wieder dem Prinzip folgt: Wenn dir Album A gefällt, hör dir am besten auch Album B. C, D… an. Und lies bitte die Beschreibung dieser beiden Alben im Hauptartikel – sie gehören dazu….

(Polydor, 1975)

Cover – Peter Schmidt. In Berlin geborener britischer Kunst-Theoretiker und Multimedia Pionier

…. und Eno kam mit seinem Konzept auch zu einem weiteren geschätzten Kollegen, Der King Crimson Kopf Robert Fripp hatte schon auf No Pussyfooting (1973) mit ihm zusammengearbeitet, Als Eno die Aufnahmen zu Discreet Music begann, hatte er zunächst Fripp’s Gitarren als improvisierte Begleitung zu seinen Loops und Tapes im Kopf gehabt. Ein Teil des dann mit Fripp zusammen aufgenommenen Albums Evening Star beruht tatsächlich auf diesen Loops, die er für Discreet Nusic aufnahm, „Wind on Wind“ sollte eigentlich zunächst auf Eno’s Album, aber Fripp’s Gitarrensounds scheinen so dominant gewesen zu sein, dass der Gedanke nahelag, ein eigenes Album mit Fripp als Hauptfigur aufzunehmen. So sind die Stücke auf der ersten Seite geloopte und verfremdete Gitarrenspuren von Fripp, und das ganze Album klingt wahlweise so, wie man sich Ambientmusik von dessen Band King Crimson vorstellt – oder eben wie King Crimson mit Brian Eno als Kopf. Und das über die komplette zweite Seite der LP gehende gigantische „An Index of Metal“ dröhnt dann finster über 28 Minuten dahin, ohne eine einzige Sekunde langweilig werden. Hier entsteht eine Art „Dark Ambient“, der Aufmerksamkeit nicht einfordert, sondern so fasziniert, dass nichts anderes übrig bleibt, als zu lauschen.

Gavin Bryars
The Sinking of the Titanic

(Obscure, 1975)

Cover-Design – John Bonis – Designer für Eno’s Obscure Label…

Bei der Erfindung von Ambient auf dem Album Discreet Music hatte Brain Eno mit dem der Komponisten und Musiker Gavin Bryars zusammengearbeitet – der wiederum dann auf Eno’s dafür eingerichtetem Obscure-Label sein schon 1969 verfasstes Werk The Sinking of the Titanic einspielen und veröffentlichen durfte. Bryars hatte zuerst Philosophie und dann Musik studiert, war also – passend zu Eno – ein Musiker mit intellektuellem Hintergrund, hatte mit Grenzgängern wie dem Free-Jazzer Derek Bailey und Tony Oxley gespielt und die freie Improvisation für sich entdeckt. Nach den Stationen John Cage und Morton Feldman hatte er dieses Stück Musik komponiert, bei dem die Beteiligten Klangquellen verwenden sollten, die sie „mit dem Untergang der Titanic verbinden“. Hört sich anstrengend an, ist aber tatsächlich wunderbar maritime, durchaus bedrohliche und vor Allem intensive Musik, die verstehen lässt, warum Eno sich so gut mit Bryars verstand – und warum er dieses Album dann auch produzierte. Das Ergebnis ist keine Hintergrund-Musik, sie beruht auf Wiederholungen, ist minimalistisch, und das Thema mag nicht besonders positiv sein, aber es ist beeindruckend. Der zweite Track – „Jesus Blood Never Failed Me Yet“ basiert auf dem Gesang eines New Yorker Obdachlosen, über dessen Worte improvisiert wird – man sieht es – schwerer Stoff, aber ist es nicht immer genau das, was sich lohnt anzuhören ?

Und nun nach Deutschland Anno ’75…

…Warum ? Hier findet Brian Eno – der titelgebende Protagonist dieses Kapitels – geistesverwandte Kollegen, die ihm bei der Erforschung der Musik, die man heute Ambient nennt, zur Seite stehen…

Harmonia
Deluxe

(Brain, 1975)

Coverfoto – Arno Hinz. Deutscher Künstler

Diverse Bands aus Deutschland wandelten wie gesagt auf einem ähnlichen Pfad wie Eno: Tangerine Dream mögen vordergründig näher an Eno’s Alben sein – über deren Alben werde ich hier auch noch sprechen – aber es war die Krautrock „Supergroup“ Harmonia – bestehend aus den beiden Cluster Musikern Moebius und Roedelius sowie dem Neu! Gitarristen Michael Rother, die sich sehr bald mit Eno vereinen würden – und ein Album machen würden, das dann leider erst Jahrzehnte später veröffentlicht wurde. Eno selber wurde vermutlich spätestens durch dieses zweite Album auf die Band aufmerksam. Deluxe vereint besser noch als das Debüt vom Vorjahr (Musik von Harmonia) die Musik der beiden Cluster-Musiker mit der von Neu!’s Gitarristen. Die Texturen von Roedelius und Moebius stehen hier ganz gleichberechtigt neben Rothers Gitarre – die wiederum ein bisschen an Robert Fripp’s Sounds erinnert. Der Rhythmus – teilweise vom Guru Guru Schlagzeuger Mani Neumeier geschaffen, hat die maschinenhafte Kraft, die die wichtigsten Krautrock-Alben so faszinierend macht. Deluxe ist für diese Art von Musik überraschend songorientiert – Rother wollte wohl den Aspekt, der ihm bei Neu ! ’75 (siehe unten) so gefallen hatte, vertiefen. So klingt „Monza“ tatsächlich wie ein gelungener Outtake der Sessions zu Neu ! ’75. Die Musiker ergänzten sogar hier und da Vocals, hatten mit „Walky Talky“ den notwendigen über 10-minütigen Jam dabei und man kann sich sehr gut vorstellen, wie fasziniert Eno von den pulsierenden elektronischen Rhythmen der beiden Cluster-Musiker und dem durchaus auch an Pop orientierten Ansatz der Musik auf Deluxe war. Eine Zusammenarbeit war logisch – und der Bezug zu den folgenden Alben ist zusammenfantasiert…

Neu !
Neu ! ’75

(Brain, 1975)

Das genial-einfache Cover – Neu! – also Klaus Dinger und Michael Rother…

Ein paar Monate vor den Aufnahmen zu Deluxe hatte Michael Rother sich noch einmal mit seinem Intimfeind Klaus Dinger unter dem etablierten Namen Neu! zusammengetan. Der Erfolg ihrer beider Ex-Band Kraftwerk veranlasste sie wohl, sich noch einmal versuchsweise zusammenzuraufen – wobei es beiden dann nur auf zwei der sechs Stücke gelang, wirklich gemeinsame Sache zu machen. Neu! ’75 ist in gewisser Weise ein Split-Album mit zwei Ambient Collagen Rother’s auf der ersten LP-Seite, zwei krachenden Proto-Punk Stücken von Dinger auf der zweiten Seite – Tracks mit den Titeln „Hero“ und „After Eight“, die einen kleinen Burschen namens John Lydon in London aufhorchen ließen (…man beachte den „Gesang“). Bei den Songs von Dinger ließ der sich von seinem Bruder Thomas und von Hans Lampe beim „infernalischen Lärm machen“ an den Drums begleiten. Und „Isi“ und „After Eight“ zeigen, was herauskommen kann, wenn sich die beiden Plus und Minus-Pole dann doch irgendwie vereinen. Auf Neu ’75 ließ Rother einfach manchmal seine Gitarren und Synthesizer von der Leine und Klaus Dinger unterstützte dessen romantische Klangspielereien mit seinem kraftvollen „Motorik“ Beat – in schöner Erinnerung an die beiden vorherigen glorreichen Neu! Alben. Dass beide Musiker nie mehr wirklich zusammenkommen sollten (Sie gingen 1986 noch einmal gemeinsam ins Studio, aber da gab es wohl nur Streit und ein paar Takes mit unvollendeten Stücken…), mag eingedenk ihrer Mentalität logisch sein, aber Schade ist es schon. Neu ! ’75 steht den beiden vorherigen Alben in Nichts nach…

Kraftwerk
Radio-Aktivität

(Kling Klang, 1975)

Cover – Emil Schult. Düsseldorfer Künstler und
Kraftwerk’s Haus-Designer

Radio-Aktivität gilt gemeinhin als das schwächste der fünf großen Alben der Düsseldorfer Musik-Institution Kraftwerk zwischen 74 und 81. Was sicher daran liegt, dass es auf diesem Album keine „Hit-Single“ gibt, dass es sperriger ist, als der wunderbar blauäugige Vorgänger Autobahn. Darauf hatten die Musiker noch voller Enthusiasmus die Freuden der Mobilität gefeiert, in die Sterne geguckt oder einen „Morgenspaziergang“ gemacht. Aber dann hatte sie der Schlagzeuger Wolfgang Flür verlassen und Karl Bartos war gekommen – die Band würde in der Konstellation Hütter/ Schneider/ Bartos/ Flür bis 1987 zusammenbleiben – und so legte Kraftwerk sich mit Radio-Aktivität endgültig auf ein rein elektronisches Konzept fest: Heisst – es wurden nur noch Synthesizer und entsprechende Rhythmuserzeuger benutzt. Das Album hat ein klares Konzept, dem sich die teilweise sehr kurzen Songs unterordnen müssen. Aufgeteilt in die Themen Radioaktivität und Radio (Tja…) erfinden Kraftwerk hier eine Art elektronische Kammermusik, nicht mehr so melodieverliebt und poppig wie zuvor und noch nicht so ausgefeilt und minimalistisch wie auf den drei nachfolgenden Alben, was das Album zu einem Übergangswerk macht und seine geringere Beliebtheit erklären mag. Songs wie das Titelstück, „Ätherwellen“ und Ohm Sweet Ohm“ allerdings sind schon auf dem Niveau des Nachfolgers Trans-Europa Express. Radio-Aktivität wurde als erstes Album auch mit englisch-sprachigem Titel und „Gesang“ veröffentlicht – ein Zugeständnis an den Markt in Großbritannien – was bei Kraftwerk zwar dann üblich wurde, mir aber nie sinnvoll erschien. Die deutsch-sprachige Version ist vorzuziehen.

Tangerine Dream
Rubycon

(Ariola, 1975)

Cover-Foto – Monique Froese, Ehegfrau des
Tangerine Dream Members Edgar Froese

Auf die Musik Tangerine Dreams habe ich hingewiesen… Brian Eno wird sie sicher gekannt haben, ihre Musik ist in meinen Augen „romantischer“, oder vielleicht eher mit einer Art Science Fiction Philosophie verbunden, die der funktionalen „Furniture Music“ Eno’s entgegensteht. Ihre beiden Alben von 1975 allerdings sind das perfekte Beispiel für 70er-Jahre Synthesizer Musik. Die Band – inzwischen bestehend aus Edgar Froese, Peter Baumann und Christopher Franke – hatte im Vorjahr mit Phaedra einen regelrechten Hit in England gelandet, ihre Sequenzer-basierten Klangflächen wurden fast nur noch mit Synthesizern erzeugt, höchstens ab und zu erklingt noch ein verfremdetes Piano, So gesehen ist Rubycon „nur“ eine Wiederholung des Konzeptes des erfolgreichen Vorgängers. Sie hatten definitiv ihren Sound gefunden. Beide Alben sind minimalistisch, sparsam und immens stimmungsvoll, Es werden Soundscapes geschaffen, die eine unterschwellige Spannung schaffen, Die Kunst ist, diese Spannung hochzuhalten, und zu dieser Zeit waren Tangerine Dream gerade darin sehr gut. Rubycon geht von Space Age Drones über das Brummen und Zischen elektronischer Maschinen in einer unbelebten Welt bis zu Sounds, die an singende Wale erinnern. Die beiden je eine Seite überspannenden Stücke regen die Phantasie an, das beste, was elektronische Musik dieser Art erreichen kann – und das funktioniert immer noch, obwohl es Musik aus einer Zeit ist, als Synthesizer noch analog waren, und die elektronische Musik noch in den Kinderschuhen steckte.

Tangerine Dream
Ricochet

(Virgin, 1975)

Cover – Monique Froese (siehe Rubycon)

Im selben Jahr noch nahmen die drei Musiker mit Ricochet ihr erstes Live-Album auf, das seltsamerweise in gewisser Weise ein Schritt zurück zu den Anfängen war. Die beiden Stücke – hier natürlich „Ricochet I“ und „…II“ genannt – sind weit dynamischer als die Musik auf Phaedra und Rubycon. Edgar Froese spielte Gitarre und Christopher Franke Drums, was die Kompositionen in Richtung elektronischer Rockmusik verschiebt. Dabei hatten sie das Rohmaterial zu Ricochet bei einem Konzert in England aufgenommen und dann im Studio noch überarbeitet. Die übereinander gelegten Rhythmen wurden dann im Studio hinzugefügt – und machen das Album zu einer Art Vorläufer von elektronischer Dance Music und Trance-Techno. Ricochet sollte eines der populärsten Alben der Band werden, obwohl es die Chart-Positionen der beiden Vorgänger nicht erreichte. Dass Tangerine Dream bald als Film Score Lieferanten reüssierten, mag ihrer Musik nicht gut getan haben – eigentlich versinken ihre Alben nach 1975 immer mehr in Belanglosigkeit – oder je nach Gusto in angenehme Meditations- und New Age Träumereien. Der Nachfolger Stratosfear jedenfalls verschob die Musik Richtung Melodieseligkeit… und damit für mich leider auch Banalität.

Klaus Schulze
Picture Music

(Brain, 1975)

Illustration – Jacques Wyrs. Sci-Fi Cover Künstler

… und Ersatz werde ich in den kommenden Jahren beim ehemaligen Tangerine Dream-Mitglied und Schlagzeuger Klaus Schulze finden. Dessen Discografie ist in den folgenden Jahren reich an äußerst spannender Musik – Avantgarde, elektronische Musik der „Berlin School“, Ambient – nenn‘ es wie du willst. Picture Music und Timewind sind sein viertes, respektive fünftes Solo-Werk seit 1972 – in dieser Zeit hat er auch noch mit Ash Ra Tempel oder (eher unfreiwillig…) den Cosmic Jokers Krautrock und elektronische Musik in Deutschland mindestens mit-definiert. Spätestens 1973 – mit Cyborg – hatte Schulze seine eigene musikalische Sprache definiert und damit erfreulich viel Erfolg gehabt. Picture Music war wohl zunächst als Nachfolger für Cyborg gedacht, wurde dann aber erst in diesem Jahr veröffentlicht. Vielleicht weil es „nur“ eine Art Selbst-Vergewisserung ist, keine wirkliche Weiterentwicklung wie das ’74er Album Blackdance. Was aber wiederum – vor Allem aus heutiger Sicht, wo diese Art von Musik sozusagen in kosmischem Nebel verschwimmt – kaum auffällt. Picture Music bietet zwei 20+-minütige Tracks, von denen „Mental Door“ mit „echten“ Drums und Percussion an alte Ash Ra Tempel Tage erinnert. Das ist dann sehr organische, aber durch grelle Sounds manchmal etwas anstrengende Musik. „Totem“ – auf der ersten LP-Seite – zeigt, wo der Weg hin gehen würde. Das ist die spacige Synthesizer-Musik, die bei Schulze so wunderbar natürlich klingt. Allein für diesen Track schon lohnt das Album.

Klaus Schulze
Timewind

(Brain, 1975)

Illustration – Urs Amann. Schweizer Surrealist, der auch vorher Cover für Schulze gemacht hatte

Und mit Timewind bekam man im gleichen Jahr eines der Kronjuwelen in Schulze’s Diskografie geliefert. Eigentlich sind die zehn (!) Klaus Schulze Alben zwische 1972 und 1978 allesamt zu empfehlen – eigentlich sind sie alle ähnlich, haben einen minimalistischen Ansatz und spiegeln Schulze’s Liebe zur klassischen Musik (insbesondere Wagner) wider. Mit Cyborg (’73), Mirage (’77), „X“ (’78)und mit Timewind gibt es vier echte Meilensteine „elektronischer“ Musik von ihm. Bei diesen vier Alben sind Komposition, Sounds, Stimmung – all das, was diese Art von Musik ausmacht – noch ein bisschen stimmiger, als sonst bei Schulze üblich. Die Liebe zu Wagner wird auf seinem zweiten ’75er Album allein schon durch die Songtitel deutlich: „Bayreuth Return“ und „Wahnfried 1883“ lassen keine Zweifel, wo sich Schulze für dieses Album die Inspiration geholt hat. „Bayreuth Return“ ist eine Studie in Tempowechseln und weichen klanglichen Übergängen, die ins meditative Nirvana führen, „Wahnfried 1883“ baut sich zu majestätischen Klanglandschaften auf – und diese Beschreibungen klingen alberner, als sie sein sollen. Erstaunlich ist wirklich, wie eigenständig dieses Album ist – zwar durchaus in den Siebzigern gefangen, aber höchstens von Bands wie The Orb etwa zwanzig Jahre später noch einmal mit anderen Mitteln erreicht. Für mich eines der schlausten und schönsten Synthesizer-Alben der Siebziger.

Manuel Göttsching
Inventions for Electric Guitar

(Kosmische Musik, 1975)

foto – George Bockemühl. Blödes Cover…

Man könnte Manuel Göttsching als „Kopf“ von Ash Ra Tempel bezeichnen und sein erstes Solo-Album hat in manchen Fällen auf dem Cover (wie hier oben zu sehen) sogar den Namen des Projektes als Überschrift, bei dem auch Klaus Schulze zeitweise Mitglied war. Aber Inventions for Electric Guitar ist de facto Göttsching’s erstes Solo-Album – von ihm alleine geschrieben, produziert und mit nur einer E-Gitarre eingespielt. Und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass dieses Album mit seinem minimalistischen Kompositions-Konzept, mit den gelayerten Gitarrenspuren, mit völlig verfremdeten Sounds von Brian Eno und seinem Kollegen Robert Fripp gehört wurde – dass es da vielleicht keine Kommunikation, aber zumindest gegenseitige Inspiration gegeben hat. Aber natürlich ist die Musik hier „trippiger“, weniger akademisch, sind hier Gitarren-Improvisationen zu hören, die weit psychedelischer sind, als Fripp’s Beiträge zu Evening Star (siehe oben). Die Rhythmik ist eindeutig Krautrock, wenn auch komplett ohne Percussion erzeugt. Da ist der Opener „Echo Waves“ bei dem Göttsching auf einem durchgehenden Ostinato wellenförmig improvisiert, Gitarren übereinander schichtet um dann wieder ruhiger zu werden. „Quasarsphere“ ist dann eine ruhige Improvisation als Zwischenspiel, bei der der Klang der Gitarre sich nicht mehr vom Synthesizer unterscheidet. Der letzte Track – „Ostinato“ – trägt das Programm dann im Titel: Ein Ostinato ist eine Melodie-Figur, die beständig wiederholt wird – und auf dieser Figur steigert Göttsching über zwanzig Minuten beständig die Intensität bis er kurz vor dem Ende eine kleine Unterbrechung einfügt, um dann wieder ein in allen Farben funkelndes Solo anzuschliessen. Ein Lehrstück in Sachen Dynamik, das vermutlich einige Post-Rock-Musiker Jahrzehnte später beeinflusst hat. Irgendwie tatsächlich zukunftsweisend..

Und nun nach Frankreich Anno ’75…

Die Gleichzeitigkeit mancher musikalischer Entwicklungen ist immer wieder erstaunlich. Ob Free Jazz, Psychedelic Rock, Folkrock, Punk oder diverse Spielarten von Metal – man kann immer wieder beobachten, dass Musiker unterschiedlicher Herkunft (scheinbar) voneinander unbeeinflusst auf ähnliche Ideen kommen. Ich nehme an, dass Eno die Musik von Can, Tangerine Dream und Cluster kannte, als er seinen „Ambient“ erfand (siehe oben), aber ich weiss nicht, ob er und die französischen Künstler bei Pôle Records Kontakt hatten. Deren Musik wiederum, die in verschiedenen Kombinationen von diversen Projekten in kleinen Stückzahlen (auf ärgerlich schlecht gepressten LP’s) veröffentlicht wurde, ist der von deutschen Acts wie Ash Ra Tempel, Cluster oder Tangerine Dream nah – wenn auch nicht so ähnlich, dass man von Nachahmung sprechen müsste. Hör‘ sie bei YouTube…

Heldon
Allez Téia

(Disjuncta, 1975)

Cover – Gilles Caron.

Heldon ist Mitte der Siebziger die wichtigste französische Band im Bereich progressive Rock/elektronische Musik, die Beteiligten Musiker machen eine eigenständige, europäische Musik, die man sicher mit Krautrock vergleichen kann, die aber genauso von Musikern wie Robert Fripp und Brian Eno beeinflusst sein dürfte. Heldon sind die Kopfgeburt von Richard Pinhas, seines Zeichens Gitarrist, Keyboarder, Komponist und Produzent mit abgeschlossenem Philosophie-Studium. Genialer Musiker, der leider ausserhalb Frankreichs nicht die Aufmerksamkeit bekam, die er verdient hätte. Allez Téia ist das zweite Album seines Projektes Heldon, schon das letztjährige Debüt Electronique Guerilla trug das Programm im Titel, erinnert stark an die Eno/Fripp Kollaborationen, Allez Téia setzt das Ganze in noch verbesserter Form fort. Heldon macht aus seiner Bewunderung für den King Crimson Chef kein Geheimnis: der erste Track des Albums heisst „In the Wake of King Fripp“ – aber damit verbeugte er sich unnötig tief. Der Titel mag der Tatsache geschuldet sein, dass Fripp seinen Rückzug vom Musik-Business angekündigt hatte (… und bald wieder da sein würde). Es ist auf jeden Fall ein komplettes Album, auf dem Richard Pinhas und sein Kollege Georges Grunblatt gemeinsam mit zwei weiteren Gitarristen mit King Crimson-Sounds und Stilmitteln spielen und dabei Fripp’s Gitarrensounds (seine Frippertronics) verwenden – aber Tracks wie „Omar Diop Blondin“ klingen viel zu eigenständig, als dass man von Imitation sprechen könnte. Heldon untersuchen auf Allez Téia eine breite Palette von elektronischen Ambient-Sounds unter Zuhilfenahme aller möglicher verfremdeter Gitarren-Sounds. Eigentlich ist Allez Téia kein „Ambient“ Album – aber es passt meiner Meinung nach wunderbar in diese Aufzählung von experimentellen, „elektronischen“ Alben dieses Jahres. Heldon sind die französische Antwort auf Can, Neu!, Cluster und Eno.

Heldon
Third (It’s Always Rock and Roll)

(Disjuncta, 1975)

Cover – G. Muguet

Und noch näher an Eno gerät das im gleichen Jahr veröffentlichte Album Third (It’s Only Rock and Roll) – das seinen Titel aber so was von Lügen straft… „Mechamment Rock“ ist klar von King Crimson beeinflusst, klingt wie ein Track von Lark’s Tongue in Aspic, Aber mit „Aurore“ und „Doctor Bloodmoney“ stehen da zwei seitenlange Tracks auf der Doppel-LP zu Buche, die nun wirklich auch als Ambient durchgehen könnten. Aber auch hier liegt die Betonung auf den verfremdeten Gitarren-Sounds von Richard Pinhas und Georges Grunblatt. Und all das gelingt so gut, dass ich Third (It’s Only Rock and Roll) eine halbe Stufe über den Vorgänger stellen würe (wenn ich müsste). Beides sind hervorragende Alben… die ausserhalb Frankreichs sträflich unbekannt bleiben würden. Ich empfehle sie aber hier jedem, der sich nach spannender Musik sehnt. Auch die Alben Interface (’77) und Stand By (’79)

Besombes – Rizet
Pôle

(Pôle Rec., 1975)

Cover – Evelyne Henri

Der Produzent und Musiker Philippe Besombes hatte schon Anfang der Siebziger mit Jean-Michel Jarre gearbeitet, mit Leuten wie Stockhausen, Morricone oder Xenakis Festivals für elektronische Musik veranstaltet und durch den Zugang zu elektronischem Instrumentarium dann begonnen, selber Musik produzieren (Er hatte einen entsprechenden Händler kennengelernt…). Gemeinsam mit dem Gitarristen und Keyboarder Jean-Louis Rizet veröffentlichte er ’75 das Album Pôle – das also nach dem Label benannt ist, aber mit dem Projekt/der Band Pôle nur am Rande zu tun hat. Pôle ist schwer zu beschreiben, weil es ein Konglomerat verschiedener Arten elektronische Musik darstellt. Das Cover mit den beiden ziemlich klischeehaft gekleideten Gammlern zeigt vielleicht ein bisschen, wie elektronische Musik hier zu verstehen ist – französische Hippies machen elektronische Musik: Den Opener „Haute Pression“ und den über 17-minütige Closer „Synthi Soit-il“ kann man als „elektronischen Rock“ bezeichnen. Beide Tracks bekommen Tempo durch „echte“ Drums, beim letzten Track denke ich unweigerlich an Klaus Schulze. Der zweite Track auf dem Doppel-Album – „Evelyse“ – könnte mit seinen Flöten-Klängen peinlich klingen – tut das aber nicht. Auf Pôle fehlt vielleicht der durchgehende Faden – aber die Musik ist in all ihren Facetten innovativ und eigenständig und eine wunderbare Ergänzung zu der ihrer deutschen Zeitgenossen. Dass die Alben des Labels nur sehr schwer zu bekommen sind, ist traurig, sie hätten schon längst eine vernünftige Re-Issue-Behandlung verdient. Was natürlich auch für das folgende Album gilt…

Pôle
Inside the Dream

(Pôle Rec., 1975)

Cover – Evelyne Henri

Um zur Konfusion beizutragen – das Label Pôle Records wurde vom Produzenten und Musiker Paul Putti zusammen mit seiner Frau Evelyne Henri gegründet, um Künstlern aus dem Bereich progressiver/ elektronischer oder meinetwegen avantgardistischer Musik ein Heim zu bieten. Und die beiden benannten dann auch noch ihre „Band“ – besser ihr eigenes musikalisches Projekt – nach ihrem Label. Auf dem Album Inside the Dream spielt u.a. Jean-Louis Rizet mit, es gibt die erste LP-Seite mit einem 24-minütigen Track progressiver Folk, angereichert mit Synthesizer-Sounds und keine Minute zu lang – es gibt die zweite LP-Seite voller elektronischer Zauberei, ohne Anzeichen von „normaler“ Instrumentation. Insbesondere „Outside the Nightmare“ ist ein Berlin-School-auf-Acid-Trip… allein von Rizet eingespielt. Band-Begründer Putti sah dieses Album und seine „Band“ wohl eher als Sammelbecken für Ideen (genau wie Rizet und Besombes) – ein gewagtes Konzept zu dieser Zeit. Und das ging dann auch schnell schief, zwei Jahre später ging das Konstrukt den Weg alles Zeitlichens und alles wurde ans Tapioca Label verkauft, das dann auch schnell Pleite ging. Diese Alben auf Pôle Rec auf sind hörenswert, Pôle und Inside the Dream mögen als Appetizer für spannende elektronische Musik aus Frankreich stehen. Und dann: Auf der Cover-Rückseite steht „Ce disque est dédicacé à Heldon“ – womit wir wieder am Anfag unseres Exkurses nach Frankreich wären….